New York City, USA
Im Herbst war es wunderschön in New York.
Rostfarbenes Laub schmückte den Central Park. Das Chrysler Building funkelte wie ein Diamant. Die Brooklyn Bridge schwebte hoch über den neuen Hoverpfeilern. Und die Twin Pillars of Light - die beiden Lichtsäulen, die an der Stelle aufragten, wo einmal die Twin Towers gestanden hatten -reichten bis in den Himmel.
Mit dem Herbst kamen auch die Rennteams.
Denn im Herbst verwandelte sich die größte Stadt Amerikas für eine Woche zum Schauplatz einiger spektakulärer Straßenrennen.
Die Fifth Avenue war das Hauptquartier, die Start-Ziel-Linie lag unmittelbar vor dem Haupteingang des Empire State Building. Besonders steile Hovertribünen säumten den breiten Boulevard.
Die Boxengasse lag in der Sixth Avenue, parallel zur Fifth -die Fahrer erreichten sie über eine Abzweigung, die an der New York Public Library vorbei in südlicher Richtung hinter das Empire State Building führte.
Der Luftraum über den Avenues und Straßen von New York City war geprägt von einem Phänomen, das der Woche der Masters-Rennen vorbehalten war: dem Konfettischnee.
Er erfüllte die Betonschluchten der Stadt - ein wundervoller, langsam fallender Schnee aus weißem Papier. Zur Feier des Rennereignisses warfen die New Yorker kleine Papierfetzen aus den Fenstern, sodass ein unaufhörlicher weißer Konfettinebel auf die Straßen niederschwebte, was eine verblüffende Wirkung hatte. Die Straßen mussten allabendlich gereinigt werden, denn am Ende eines jeden Tages waren sie mit einer fünf Zentimeter dicken Papierschicht bedeckt. Heute war Montag - ein Tag, der der allgemeinen Vorbereitung diente.
Am Dienstag würde das Challenger Race stattfinden - das als Bühne der aufstrebenden Fahrer der ganzen Welt angesehen wurde.
Mittwoch war Paradetag - dann würden sich alle 16 Fahrer, die sich fürs Masters qualifiziert hatten, auf der Fifth Avenue den jubelnden Menschenmassen präsentieren. Am Donnerstag schließlich begann das eigentliche Masters, ein Rennen pro Tag, und das vier spannende Tage lang. Das Ganze war eine Art Drop-Off, jedoch über die ganze Rennserie hinweg: Nach jedem Rennen schieden die vier Letztplatzierten aus. Nur die vier bestplatzierten Fahrer nahmen am vierten und letzten Rennen teil.
Am Donnerstag, Rennen Nummer 1: der Liberty Supersprint - ein enges Rundenrennen durch die Straßen von New York, mit einem kurzen Abstecher rund um die Freiheitsstatue. Hier mussten die Fahrer die weltweit engste Kurve aller Rennstrecken bewältigen, eine 9-G-Haarnadelkurve, genannt Liberty's Elbow. Nicht selten schieden Fahrer an diesem berüchtigten »Ellbogen« aus.
Freitag, Rennen Nummer 2: das Torrennen von Manhattan - 250 Tore inmitten des Straßenlabyrinths von New York.
Samstag, Rennen Nummer 3: die Verfolgungsjagd - bei der die Fahrer um Manhattan Island herumfuhren. Hauptmerkmal: Ionenwasserfälle - prachtvoll anzusehende, aber verhängnisvolle Vorhänge aus ionisierten Partikeln, die sich von den zahlreichen Brücken Manhattans ergossen; jeder Hovercar, der hindurchfuhr, verlor seine gesamte Magnetenergie. Die letzte Kurve jeder Runde führte um Liberty's Elbow herum; die Zielgerade: die Brooklyn Bridge.
Und dann am Sonntag endlich das letzte Rennen der Serie, das Rennen Nummer 4: die Trophäenjagd. Das längste Rennen des Masters führte die Fahrer fort von Manhattan Island über die ländlichen Highways des Staates New York und durch riesige Wasserhöhlen zu den Niagarafällen an der kanadischen Grenze.
Dort musste jeder Fahrer seine »Trophäe« aufsammeln - einen Gegenstand, der am Morgen dorthin gebracht worden war - und ihn nach New York City zurückbringen. Der erste Fahrer, der die Ziellinie mit der Trophäe überquerte, hatte gewonnen.
Jason liebte dieses Rennen. Jedes Jahr zuvor hatte er zu Hause mit seinem Dad vor dem Fernseher gesessen und sich das einwöchige Masters von Anfang bis Ende angesehen.
Stets hatte er davon geträumt, nach New York zu fahren und als Zuschauer leibhaftig dabei zu sein, doch der Weg war weit und die Tickets so teuer, dass seine Familie sie sich nicht leisten konnte. Einmal freilich hatte er seine Cousins in New Jersey besucht und von weitem ein paar Wagen gesehen.
Jetzt aber war er hier in New York (wenngleich er auch diesmal wieder bei den besagten Cousins in New Jersey abgestiegen war) und fuhr selbst beim Challenger Race mit - mit der unwahrscheinlichen Chance zur Teilnahme am Masters.
Mann, dachte er, selbst wenn er beim Challenger durchfallen sollte, könnte er trotzdem noch hier bleiben und sich das Masters aus der Nähe ansehen.
Das war einfach fantastisch.
Für Jason wurde ein Traum wahr.
Das Challenger Race
(Dienstag) 15 Minuten bis zum Start
Die Starttore erstreckten sich quer über die Fifth Avenue. Wie bei den Schulrennen gab es auch beim Challenger Race kein Zeitfahren um die Poleposition. Alle hatten die gleichen Startchancen.
Die Fahrer fuhren von hinten in die Tore ein und bereiteten sich auf den Start vor. Jason musterte die anderen Fahrer - die Besten der jeweiligen Ligen, Regionen und Rennschulen.
Markos Christos aus Griechenland - sein Wagen Arion trug zu Ehren der zwölf Arbeiten des Herkules die Nummer 12. Christos war der erstplatzierte Fahrer der europäischen Satellitenliga, einer Unterabteilung des internationalen Profirennsports. Edwardo - von der für Mittel- und Südamerika zuständigen brasilianischen Rennschule. Wie Xavier hatte er die Schulmeisterschaft gewonnen und war anschließend beim weniger erfolgreichen Team Castoldi unter Vertrag gegangen. Da die brasilianische Rennschule weniger renommiert war als die Internationale Rennschule von Tasmanien, bekam sie nur zwei statt vier Einladungen für das Challenger Race.
Traveen Chandra von der ambitionierten indischen Rennschule.
Zhang Lao, der drittplatzierte Fahrer der russisch-chinesischen Liga - ein Kampfflieger der chinesischen Luftwaffe. Sein jetförmiger Wagen, der Chun-T'I, trug die Nummer 8, da die Chinesen die 8 als Glückszahl betrachteten.
Dann kamen die beiden topplatzierten und gefürchteten Fahrer der russisch-chinesischen Liga: die russischen Zwillinge Igor und Wladimir Krotsky. Mit ihren schlanken Mig-90, den Roten Teufeln I und II, hatten Igor und Wlad bei ihren Ligarennen nicht weniger als sechzehn Unfälle verursacht. Sie selbst waren unverletzt geblieben, doch einer der beteiligten Fahrer war zu Tode gekommen. Allerdings war die gesamte russischchinesische Liga berüchtigt für die dort praktizierte rücksichtslose Fahrweise.
Der meistgenannte Fahrer war Xavier Xonora.
Er war der heiße Favorit bei den Buchmachern - sein erstaunlicher vierter Platz beim Italienrennen hatte die Anhänger von Sportwetten aufmerken lassen. Außerdem hatte die Kunde von seinem mühelosen Sieg bei der Schulmeisterschaft die Runde gemacht. Insgesamt gingen beim Challenger Race 30 Piloten an den Start - begabte junge Fahrer aus aller Welt, von denen jeder Einzelne sich der Tatsache bewusst war, dass ein Sieg das eigene Leben verändern würde.
Jason machte gerade Anstalten, hinter den aufgereihten Starttoren in den Argonaut zu klettern, als sich ihm jemand näherte.
Xavier. Bekleidet mit einer schwarzen Rennmontur, den Helm in der Hand.
Bei ihm war - vermutlich um der psychologischen Wirkung willen - Dido.
»Dachte mir, ich schau mal kurz vorbei und informiere dich über einen interessanten statistischen Sachverhalt, der mir soeben klar geworden ist.«
»Und zwar?«
Xavier setzte ein gehässiges Grinsen auf. »Von allen Rennen, bei denen wir gegeneinander angetreten sind, hast du nur ein einziges gewonnen, das fünfundzwanzigste. Heute aber gibt es keinen Preis für den zweiten Platz. Nur der Sieger bekommt eine Sondereinladung zum Masters. Und die Statistik besagt, dass ich nicht häufig Zweiter werde.« Xavier wandte sich zum Gehen. »Ich fand, das solltest du wissen.« »Danke«, erwiderte Jason. »Ich werd dran denken.«
Um die Wahrheit zu sagen, hatte Jason sich schon eine Menge Gedanken über Xavier gemacht.
Ihre jeweilige Erfolgsbilanz hatte er bis ins Detail gespeichert: Mit Ausnahme des 25. und des 50. Rennens (sowie Xaviers schwacher Leistung im 49. Rennen, das nicht zählte), hatte der Prinz ihn jedes Mal geschlagen.
Jason schaffte es einfach nicht, Xavier zu überholen.
Im 50. Rennen war es ihm nur mit dem dreisten Schachzug, alle drei Kollidierenden Eisbergpaare hintereinander zu durchfahren, gelungen, an Xavier vorbeizukommen. Deshalb hatte Jason mit seinem Team in dieser Woche Strategien ausgetüftelt, wie dem Speed Razor beizukommen sein würde.
Sie hatten sich die Videoaufzeichnungen sämtlicher Rennen angesehen, an denen Xavier in und außerhalb der Rennschule teilgenommen hatte und die im Fernsehen übertragen worden waren. Sie hatten seine Boxenstopps und das Verhalten seiner Boxencrew zwischen den Rennen analysiert.
Ihre Schlussfolgerung: Xavier war der perfekte Rennfahrer. Seine Abwehrtechnik war unüberwindlich und seine Boxenarbeit nahezu makellos. Oliver Koch, sein Mechaniker, war so gut, dass er nicht nur blitzschnelle Stopps hinlegte, sondern Xavier - in jeder Runde - darüber informierte, wie weit er vor seinen Gegnern lag, ob er den Vorsprung ausbaute oder ob die Verfolger ihm näher kamen.
Xaviers Erfolg beruhte auf der Gesamtheit aller Faktoren.
»Er ist einfach zu gut«, hatte Sally gemeint, als sie am Vorabend vor dem Fernseher gesessen und sich Xaviers Finish beim Italienrennen angeschaut hatten: Der Speed
Razor schoss über die Ziellinie und Xavier reckte die Faust. »Ich kann keine einzige Schwachstelle in seiner Rüstung entdecken.«
Der Bug machte eine ähnliche Bemerkung.
»Niemand ist vollkommen, Bug«, sagte Jason, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet. »Hey, Sally. Wärst du so nett, mal die Videodisc vom Sponsorenturnier zu holen?«
Sally holte sie, und gemeinsam schauten sie sich die aufgezeichneten Rennen an. Beobachteten, wie Xavier vor seinen Gegnern über die Ziellinie raste und wie er zuvor triumphierend die Faust reckte.
Sally zuckte die Schultern. »Ich finde, das Muster ist ziemlich klar, Jason. Xavier fährt. Xavier siegt.«
»Ja, so ist es«, meinte Jason leise. Dann hellte sich sein Blick unvermittelt auf. »Sally. Das fünfundzwanzigste Rennen. Das Rennen, bei dem ich ihn geschlagen habe. Gibt es davon ein Video?«
»Nein«, sagte Sally. »Das wurde nicht aufgezeichnet.« »Aber es gab ein Zielfoto.
Haben wir davon irgendwo eine Kopie?«
Sally hob die Schultern. »Klar. Irgendwo muss sie sein.« Sie schlug den Rennordner auf, nahm ein Foto heraus und reichte es Jason.
Jason betrachtete das Foto aufmerksam. Dann lächelte er.
Sally und der Bug sahen, wie sich seine Mundwinkel hoben. »Was hast du entdeckt?«, wollte Sally wissen. Jason fixierte immer noch das Foto. »Xaviers Schwach-punkt.« »Und worin besteht der?«
Jason schaute hoch. »Xavier ist ganz und gar von sich überzeugt.«