Chooka's Charcoal Chicken Hobart, Tasmanien

 

Mit ausgelassenem Kreischen öffnete der Bug den Verschluss der gut geschüttelten Coke und schwenkte die schäumende Dose durch die Luft wie ein Profirennfahrer seine Champagnerflasche.

Neben ihm jubelten Jason und Henry Chaser und reckten triumphierend die Fäuste.

Es war Donnerstagabend, und die Familie Chaser feierte den Sieg des Argonaut im 25. Rennen und die damit einhergehende Qualifikation für das Sponsorenturnier am kommenden Samstag.

Gemäß der Familientradition hatte der Sieger »freie Wahl« -er durfte das Restaurant aussuchen. Der Bug hatte sich für sein Lieblingsrestaurant entschieden: die Chickenburger-Kette Chooka's Charcoal Chicken.

Und so saß nun die ganze Familie - einschließlich Sally McDuff, die als Ehrenmitglied in die Chaser-Familie aufgenommen worden war - an einem mit Chickenburgerverpackungen, Zwiebelringen, Fritten und leeren Cokedosen übersäten Tisch. Alle lachten und scherzten und schilderten immer wieder ihre Lieblingsmomente des nervenaufreibenden Rennens.

Alle bis auf eine.

Irgendwann fiel Jason auf, dass seine Mutter sich auffallend zurückhielt und gedankenverloren ins Leere starrte. »Alles in Ordnung, Mum?«, fragte er. Sie schreckte zusammen, als erwachte sie aus einem Traum, und setzte eilig ein Lächeln auf. »Sicher, mein Schatz. Ich freu mich für euch beide.« Seit seinem durch den Verzicht auf den letzten Boxenstopp errungenen haarscharfen Sieg über Prinz Xavier schwirrte Jason der Kopf. An den Nachmittag danach erinnerte er sich nur noch verschwommen:

Er erinnerte sich, nach dem Rennen in die Box gefahren zu sein, wo ihn die jubelnde Sally aus dem Argonaut zerrte. Dann hatte er sich mit dem Bug abgeklatscht und gleich darauf mit seinen alten Stiefeln und dem Baumwolloverall auf dem Podium gestanden und beobachtet, wie das Team Argonaut auf der großen Anzeigetafel wegen der 10 Siegpunkte in der Meisterschaftswertung auf Platz 12 vorrückte.

Außerdem erinnerte er sich noch, wie Scott Syracuse nach der Siegerehrung zu ihm gekommen war und ihn aufmerksam gemustert hatte.

»Sie haben schon wieder auf den letzten Boxenstopp verzichtet, Mr. Chaser.«

»Ja, Sir. Das stimmt.«

»Sie hatten keine Angst, denselben Fehler zweimal zu machen?«

»Nein, Sir. Ich wusste, diesmal konnte ich es schaffen.« »Und da haben Sie sich entschieden, gegen meinen Rat zu handeln?«

»Nein, Sir. Ich habe mich entschieden, einen anderen Rat zu befolgen, den Sie mir vor einiger Zeit gegeben haben. Als wir dabei waren, die Boxenpraxis zu üben und ich die Markierung überfuhr.«

Syracuse runzelte die Stirn. »Was habe ich Ihnen da geraten?«

»Sie sagten, ich soll meine Fehler nicht rechtfertigen, sondern daraus lernen. Deshalb beschloss ich, aus meinem jüngsten Fehler zu lernen: Als ich beim letzten Mal den Boxenstopp ausgelassen hab, hätte ich's besser nicht getan. Diesmal aber war's okay.«

»Mit exakt vier Komma zwei Zentimetern Vorsprung«, meinte Syracuse.

Jason lächelte. »Mein Dad hat mal gesagt, man kann mit einem Zentimeter oder einer Meile Vorsprung gewinnen, Sir. Aber Sieg bleibt Sieg.«

Damit brachte Jason Scott Syracuse zum ersten Mal zum Lächeln.

Er nickte huldvoll. »Gut gemacht, Mr. Chaser. Ich kann es gar nicht erwarten, dass Sie am Samstag beim Turnier antreten.«

Er wandte sich zum Gehen.

»Mr. Syracuse!«, rief Jason ihm nach. »Meine Familie ist in der Stadt, und wir wollen heute Abend feiern.« Er stockte. »Haben Sie Lust mitzukommen?«

Syracuse zögerte kurz, als habe ihn die Frage völlig unvorbereitet getroffen.

»Klar«, meinte er schließlich. »Das wäre ... sehr nett. Um welche Zeit?«

Jason nannte sie ihm.

Syracuse sagte: »Also, ich habe noch zu tun, muss ein paar Unterrichtsstunden vorbereiten, deshalb werde ich wohl etwas später kommen. Aber ich komme bestimmt.«

Und tatsächlich, mit 45 Minuten Verspätung erschien Syracuse im Schnellrestaurant, und zwar genau in dem Moment, als eine klassische Chooka-Eistorte serviert wurde, die mit einer 55, der Startnummer des Argonaut, verziert war.

Jason fragte sich, ob Syracuse wohl schon häufiger Chickenburger gegessen hatte. Wie sich herausstellte, kam Syracuse mit seinem fettigen Burger jedoch problemlos zurecht. Alle vier Sekunden stellte Henry Chaser, der offizielle Lehnstuhl-Rennexperte, Syracuse eine Frage zu dessen Profilaufbahn.

»Wissen Sie«, sagte Henry, »wir haben uns gerade darüber unterhalten, wie Sie versucht haben, bei dem Italienrennen den Absatz abzukürzen. Als Sie darin gefangen waren - waren es nicht vier Stunden?«

»Viereinhalb«, verbesserte ihn Syracuse. »Was ist da passiert?«

Auch Jason wartete gespannt auf die Antwort.

Syracuse wählte seine Worte mit Bedacht: »Sagen wir mal so, ich habe nicht damit gerechnet, dass meine Karriere ein Jahr später in New York enden würde.«

Er sah Jason an, als erwartete er von ihm, dass er die rätselhafte Antwort entschlüsseln werde.

Jason überlegte angestrengt.

»Sie haben nicht damit gerechnet, dass Sie ein Jahr später in New York einen Unfall haben würden«, fasste er zusammen. »Das heißt, Sie wollten irgendwann in der Zukunft erneut in Italien antreten.«

»Richtig.«

Auf einmal machte es bei Jason klick.

»Das glaub ich einfach nicht!«

Syracuse nickte langsam. »Sie haben's begriffen.«

»Sie wollten sich schlau machen«, sagte Jason. »Sie haben die Abkürzung fürs nächste Rennen erkundet.«

Syracuse nickte beeindruckt. »Eine reife Leistung, Mr. Chaser. Bis heute sind Sie der Einzige, der darauf gekommen ist.«

Jason konnte es einfach nicht fassen. Das war ganz schön raffiniert. »Alle dachten, das wäre der verzweifelte Versuch gewesen, zur Führungsgruppe aufzuschließen, aber da haben sie sich geirrt. Sie hatten gar nicht die Absicht, die Führungswagen einzuholen beziehungsweise das Rennen zu gewinnen. Sie haben vier Stunden lang das Labyrinth erkundet, weil Sie im nächsten Jahr von Ihrem Wissen profitieren wollten.«

»Viereinhalb Stunden lang, wenn ich bitten darf«, betonte Syracuse. »Und dann hat Alessandro Romba mir im weiteren Verlauf der Rennsaison in New York einen Strich durch die Rechnung gemacht und ich konnte das Wissen nicht mehr nutzen. Ein schwerer Schlag. Aber ich glaube, wie Sie heute die Abkürzung genutzt haben - nämlich indem Sie Xavier einfach gefolgt sind -, das war ebenso clever. Denn jetzt wissen Sie für alle Zukunft Bescheid - zumindest so lange, bis die Schule das Labyrinth umbaut.«

Jason strahlte über Syracuses Lob. Er sah seinen Vater an und dachte an eine Bemerkung, die er vor zwei Tagen gemacht hatte: »Wenn du dich beim Lernen nach Kräften bemühst, garantiere ich dir, dass sich sein Verhalten ändern wird.«

Henry Chaser, der wusste, wie viel Jason das Lob bedeutete, lächelte still in sich hinein.

Martha Chaser, die neben Henry saß, schaute schon wieder geistesabwesend drein. Schließlich erhob sich Scott Syracuse. »Ich danke Ihnen allen für das nette Essen, aber leider muss ich jetzt gehen.«

»Hey, danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Jason.

»Bleiben Sie nicht zu lange auf, Mr. Chaser. Nur weil Sie sich für das große Turnier am Samstag qualifiziert haben, heißt das noch lange nicht, dass Sie morgen unterrichtsfrei haben. Der Unterricht findet zur gewohnten Zeit statt.«

»O je! Machen Sie denn niemals Pause?«, fragte Jason.

»Bis morgen dann, Mr. Chaser. Guten Abend allerseits.«

 

 

 

Internationale Rennschule Hobart, Tasmanien 

Freitag, 31. Mai

  

Der nächste Tag glich einer Folge von Reich und berühmt, dieser alten Fernsehserie - allerdings einer Folge, die Jason nur bruchstückhaft mitbekam und zwar durchs Fenster eines Unterrichtsraums mit Ausblick auf den Derwent River.

Er wusste, dass das alljährliche Sponsorenrennen der Schule für seine Volksfestatmosphäre bekannt war, doch er hatte nicht geahnt, wie glanzvoll die Atmosphäre sein würde.

Der ganze Fluss war mit Fahnen und Bannern geschmückt. Hoverboote ließen fröhlich die Signalhörner erschallen und hießen die Flotte der Yachten und Hoverschiffe willkommen, die in Hobart einfielen.

Zur Mittagszeit trafen im Royal Hobart Yachtclub riesige Hoveryachten ein. An Bord waren berühmte Filmstars, Politiker, die Repräsentanten der großen Hovercarhersteller und Rennteams. Ein gecharteter Hoverliner legte am Hauptkai an. Bald darauf strömte ein Schwärm glamourös gekleideter Frauen und eleganter Herren an Land, Vertreter der europäischen und ostamerikanischen Elite.

Zuletzt trafen die bejubelten Profirennfahrer ein, die früher einmal die Rennschule besucht hatten.

Roma la Bomba aus Italien.

Fabian aus Frankreich.

Und Angus Carver, Kampfjetpilot und Mitglied des Elite-Rennteams der US Air Force.

Es war ein Jahrmarkt der Prominenz. Die Medienleute kriegten sich gar nicht wieder ein.

Jason allerdings bekam nicht viel davon mit.

Soweit es ihn betraf, ging es bei der Sponsorenveranstaltung nur darum, das K.-o.- Turnier zu gewinnen. Diese Leute hatten jedoch anscheinend mehr Interesse am Galaball in Smoking und Abendkleid, an Siegesdinner am Samstagabend, an ihren Geschäften und dem Sehen-und-gesehen-Werden zwischendurch. Das Sponsorenrennen war eines der großen gesellschaftlichen Ereignisse im globalen Veranstaltungskalender der High Society.

Damit hatte Jason nichts am Hut.

Und dann traf am späten Nachmittag zum Entzücken der Medienvertreter die größte aller Privatyachten mit den königlichen Insignien am Bug ein.

Mit dem Wappen der Königsfamilie von Monesi.

Prinz Xaviers Vater, König Francis von Monesi, war erschienen, um dem Rennen seines ältesten Sohnes beizuwohnen.

Währenddessen nahmen Jason, der Bug und Sally am Unterricht teil und übten unter der Aufsicht von Scott Syracuse im Fahrsimulator auf virtuellen Rennstrecken mit Rippeistreifen.

Zur gleichen Zeit war Sally in der Box damit beschäftigt, zwei Überwachungskameras zu installieren - als Nächstes stand Boxenpraxis auf dem Lehrplan, und da ihre Leistung nach Syracuses Einschätzung im Verlauf der Saison geschwankt hatte, wollte er, dass Sally genau dokumentierte, was sie während und nach einem jeden Boxenstopp tat.

Mysteriöserweise ging es Horatio Wong und Isaiah Washington auch diesmal nicht gut, weshalb sie erneut nicht am Unterricht teilnahmen.

Jason vermutete, dass sie simulierten, um vor dem großen Tag noch ein wenig auszuspannen. Wong und Washington hatten sich beide fürs Turnier qualifiziert, und immer wenn sie in der Vergangenheit krank gewesen waren, hatten sie am nächsten Tag ein tadelloses Rennen hingelegt. Syracuse zeigte kaum eine Reaktion, als die Schulkrankenschwester ihm mitteilte, sie seien krank. Er fuhr einfach mit dem Unterricht fort.

Jason hatte den Eindruck, dass Syracuse dem Team Argonaut deshalb auf seine spezielle Art mehr Respekt entgegenbrachte als den anderen, weil sie selbst dann zum Unterricht erschienen, wenn sie müde waren. Indem sie den strengen Zeitplan ihres Mentors einhielten, stiegen sie offenbar in seiner Achtung.

Jason und der Bug wollten sich zur Mittagszeit mit ihren Eltern treffen, doch als sie zu dem Flusspark gelangten, den sie als Treffpunkt vereinbart hatten, war nur Henry Chaser erschienen.

»Wo ist Mum?«, fragte Jason.

»Sie meinte, sie müsste was nähen oder so«, antwortete Henry. »Keine Ahnung, was sie sich da in den Kopf gesetzt hat, aber als wir gestern Abend heimkamen, hat sie den Nähkorb hervorgeholt und war bis spät in die Nacht beschäftigt.«

»Ist schon okay ...«

Während der restlichen Mittagspause mampften Jason, der Bug und Henry Sandwiches und schauten zu, wie sich die Ho-verschiffe auf dem Fluss sammelten. Dann mussten sie zurück zur Schule, denn auf dem Stundenplan stand Boxenpraxis. Wahrscheinlich war dies die bislang anstrengendste Übung, denn Syracuse nahm sie hart ran - und den beiden Überwachungskameras entging nicht der kleinste Fehler. Syracuse ließ sie sogar die archaischste Form des Boxenstopps üben: den manuellen Stopp, bei dem die elektrische Stromversorgung unterbrochen war, sodass Sally alle sechs Magnetodrives des Argonaut von Hand wechseln musste.

Der Bug fand heraus, wie sich der manuelle Stopp beschleunigen ließ: Als er sah, wie Sally sich abmühte, sprang er aus dem Cockpit und ging ihr zur Hand.

Scott Syracuse applaudierte beeindruckt. »Navigator! Ausgezeichnete Idee! Manuelle Boxenstopps sind heutzutage selten geworden, aber bisweilen treten sie halt doch auf. Wenn der Strom ausfällt, heißt das nicht, dass das Rennen abgebrochen wird. Und so kommt man damit klar: Man springt einfach aus dem Wagen und hilft der Mechanikerin. Gut gemacht, Mr. Bug.«

Der Bug strahlte vor Stolz.

Alle paar Stopps versammelten sie sich vor den Monitoren und schauten sich an, was die Kameras aufgenommen hatten. Sally sah sich stirnrunzelnd bei der Arbeit zu.

»Seht mal, ich hab wirklich alle Hände voll zu tun. Verbrauchte Mags hier, frisches Kühlmittel da, überall Druckluftflaschen. Mein Gott, ich hatte ja gar keine Vorstellung ... «

Syracuse nickte. »Egal wie viel ich Ihnen erkläre, manchmal ist es besser, Sie machen sich selbst ein Bild.«

Um genau vier Uhr nachmittags - zwei Stunden früher als gewöhnlich - erklärte Syracuse die Übung für beendet. »Ihr habt heute wirklich gute Arbeit geleistet, Leute. Holen Sie sich was zu trinken und setzen Sie sich.«

Sie gehorchten und ließen sich erschöpft auf die Stühle fallen.

Syracuse aber war noch immer nicht fertig.

Er öffnete auf einem der Monitore eine Tabelle. »Das kam gerade herein: der morgige Startplan. Vierzehn Wagen gehen an den Start, das Ranking entspricht der gegenwärtigen Position in der Meisterschaftsrangliste.«

Jason besah sich die Paarungen. Das Ganze hatte Ähnlichkeit mit der Auslosung zu einem Tennisturnier:

Jasons Name war in der unteren Hälfte der Liste aufgeführt. Sein Gegner im ersten Rennen war ... Oje.

Ariel Piper.

Er würde das Eröffnungsrennen gegen die einzige Person bestreiten müssen, mit der er hier Freundschaft geschlossen hatte. Aber wie das alte Sprichwort lautete: Auf der Piste hört die Freundschaft auf.

Da Ariel, Barnaby Becker und Isaiah Washington alle in seiner Hälfte der Liste standen, hatte er wohl das härtere Los gezogen.

Mit Bestürzung nahm er zur Kenntnis, dass Prinz Xavier und Barnaby Becker beide für die erste Runde Freilose hatten. Da insgesamt nur vierzehn Fahrer antraten, waren die beiden bestplatzierten Fahrer in der ersten Runde in den Genuss von Freilosen gekommen.

 

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Der morgige Rennmodus wurde als Kurzstrecken-Zweierrennen bezeichnet: Jeweils zwei Wagen traten auf einem Kurs gegeneinander an, der die Form einer engen Acht hatte und von einer Mauer umschlossen wurde. Ein Zweierrennen konnte man auf zweierlei Arten gewinnen: Indem man den Gegner überrundete oder indem man nach 100 Runden als Erster die Ziellinie überfuhr. Da es sich um ein Kurzstreckenrennen handelte - für eine Runde wurden nur etwa 30 Sekunden benötigt -, würden 100 Runden etwa 50 Minuten dauern.

»So«, sagte Syracuse. »Noch irgendwelche Fragen?«

Damit überraschte er Jason.

Es war das erste Mal, dass Syracuse sich bereiterklärte, ihnen spezielle Ratschläge zum bevorstehenden Rennen zu geben.

»Klar. Was ist das Geheimnis eines Kurzstrecken-Zweierrennens?«

»Sie kommen immer gleich zur Sache, nicht wahr, Mr. Chaser?«, meinte Syracuse. »Was also ist das Geheimnis des Zweierrennens? Wir wär's damit: Geben Sie niemals auf. Lassen Sie sich nicht unterkriegen. Ganz gleich, wie hoffnungslos es auch aussehen mag, werfen Sie niemals das Handtuch. Manche Fahrer machen schlapp, sobald-etwas schiefgeht und der Gegner an der Heckflosse klebt. Sie fügen sich in ihr Schicksal, lassen den anderen passieren und verlieren das Rennen. Tun Sie das niemals. Denn Sie wissen nicht, welche Probleme sich unter der Motorhaube Ihres Gegners verbergen. Sonst könnte es nämlich passieren, dass Sie das Rennen zwei Sekunden vor dem Boxenstopp Ihres Konkurrenten aufgeben.«

»Wie sieht's mit den Boxenstopps aus?«, fragte Sally.

»Bei einem Zweierrennen muss alles besonders schnell gehen«, antwortete Syracuse. »Da jede Runde nur dreißig Sekunden dauert, haben Sie bei jedem Stopp maximal fünfzehn Sekunden, andernfalls hat der Gegner Sie fast schon überrundet, wenn Sie wieder rauskommen. Dann hat der kleinste Fehler die Niederlage zur Folge.«

Der Bug flüsterte Jason etwas zu.

Jason sagte: »Der Bug möchte wissen, wann wir in die Box fahren sollen. Frühzeitig? Oder besser spät? Als Erster oder als Zweiter, wie es in den Lehrbüchern vorgeschlagen wird?«

»Die Boxenstopps sind beim Zweierrennen von ausschlaggebender Bedeutung«, erklärte Syracuse, »denn jedes Mal, wenn man anhält, besteht das Risiko, dass der Wagen nicht wieder anspringt. Es sind schon viele Fahrer bei einem Zweierrennen in die Box gefahren und nicht wieder rausgekommen, stattdessen mussten sie hilflos mit ansehen, wie ihr Gegner einen mühelosen Sieg einfuhr. Das ist der Grund, warum allgemein empfohlen wird, als Zweiter in die Box zu fahren. Auch ich bin dieser Absicht. Deshalb habe ich Sie heute ja auch Boxenpraxis üben lassen.«

Er sah Sally an. »Je länger das Rennen dauert, desto wichtiger wird die Boxenarbeit - Sie könnten vor der Entscheidung stehen, ob Sie einen Full-Service-Stopp einlegen oder nur die Mags austauschen wollen. Entscheidend ist, rechzeitig wieder auf die Piste zu kommen. Solange Sie draußen sind, können Sie selbst dann noch gewinnen, wenn Sie auf nur einem Mag fahren. Geben Sie niemals auf. Lassen Sie sich niemals unterkriegen. Aber nach allem, was ich bislang gesehen habe«, er wandte sich Jason zu, »ist das für Sie ohnehin keine Option.«

 

 

 

Der Große Ballsaal 

Waldorf Hotel, Hobart

  

 

Der Anblick hatte etwas Märchenhaftes.

Entsprechend dem Motto des Abends »In den Wolken« war der ganze Große Ballsaal des Waldorf mit fünfundzwanzig Meter hohen blauen Segeln geschmückt und voller Schwaden von Kunstnebel. Die Wirkung war verblüffend: Man hatte den Eindruck, im Himmel zu speisen, buchstäblich in den Wolken.

Jason Chaser trug einen Smoking von der Stange. Der Bug und Henry Chaser trugen gewöhnliche Anzüge mit Krawatte - sie besaßen keine Smokings und trugen deshalb die besten Anzüge, die sie hatten. Sally McDuff trug ein glänzendes himmelblaues Kleid, das ihre üppige Büste perfekt zur Geltung brachte. Martha Chaser blieb ihrer Linie treu und entschuldigte sich damit, dass sie im Wohnwagen »zu tun« habe.

Im Ballsaal drängten sich lauter reiche und berühmte Menschen in den besten Kleidern, die es für Geld zu kaufen gab. Männer in Designeranzügen, Frauen in maßgeschneiderten Abendroben, behängt mit Juwelen.

Im ganzen Raum waren berühmte Rennfahrer verteilt: Drüben in der Ecke saß der derzeitige Weltmeister, Alessandro Romba, an der Bar der amerikanische Kampf] etpilot Carver. Und an einem Tisch nahe der Bühne, in eine Unterhaltung mit König Francis und Xavier Xonora vertieft, saß der viel geschmähte französische Rennfahrer Fabian - der Schurke des Profirennbetriebs: schlau, brillant, skrupellos und ungeachtet des Umstands, dass er von jedem nicht französischen Rennfan gehasst wurde, vollkommen mit sich im Reinen. »Hey, Jason!«

Jason drehte sich um und erblickte Ariel Piper - in dem silberfarbenen, eng anliegenden Kleid sah sie absolut umwerfend aus.

»Mann, du hast dich ja richtig in Schale geworfen«, staunte Ariel mit Blick auf Jasons Outfit. »Den Vogel schießt allerdings unser fescher kleiner Navigator ab.« Sie zwinkerte dem Bug sexy zu, worauf dieser tatsächlich rot wurde.

»Ich finde, du bist gestern ein Riesenrennen gefahren, Jason«, sagte sie. »War ganz schön dreist, auf den letzten Boxenstopp zu verzichten.«

»Ich musste gewinnen«, erklärte Jason schlicht.

»Und genau das muss ich morgen auch, Kumpel«, erwiderte Ariel. »Wie sagt man doch so schön: Auf der Piste hört die Freundschaft auf. Ich hab nicht vor, dir gegenüber besondere Rücksicht zu üben, Jason. Das wollte ich dir nur mitteilen.«

Jason nickte. »Keine Sorge, auch ich hab vor, mein Bestes zu geben.«

»Dann bleiben wir auf jeden Fall Freunde?«, fragte Ariel mit aufrichtiger Besorgnis. Offenbar hatte Ariel Piper in der Vergangenheit Freunde verloren, nachdem sie sie beim Hovercarrennen besiegt hatte.

Jason lächelte sie an. »Ganz sicher.« Dann setzte er schalkhaft hinzu: »Das heißt natürlich, nur falls du nicht am Boden zerstört bist, wenn ich dich schlage.«

Ariel setzte ein breites Grinsen auf. »Du bist mir ja einer! Also, wir sehen uns beim Rennen wieder!«

Dann schwebte sie zu ihrem Tisch.

Jason und seine Begleiter gingen zu dem ihren.

Scott Syracuse hatte schon Platz genommen, als sie den Tisch erreichten.

»Hallo, Jason, Henry, Bug«, sagte er und erhob sich. »Das ist mal was anderes als unser Essen neulich, nicht wahr?«

»Kann man schon sagen«, meinte Henry Chaser. Er war ein einfacher, schwer arbeitender Mann und ein wenig eingeschüchtert von dem Reichtum und der Macht, die heute hier zur Schau gestellt wurden. Er fühlte sich gehemmt und wusste nicht, wie er sich in dieser Gesellschaft verhalten sollte. »Allerdings glaube ich nicht, dass es hier Chickenburger gibt.«

»Wenn Sie welche wollen, sollen Sie sie auch kriegen!«, dröhnte hinter ihm eine Stimme mit italienischem Akzent.

Henry, Jason und der Bug fuhren herum.

Hinter ihnen stand ein Bär von einem Mann, bekleidet mit einem teuren Abendanzug, der sich um einen gewaltigen Bauch spannte. Die Hängebacken bedeckte ein schwarzer, sorgfältig gestutzter Bart.

Als Jason den Mann erkannte, fiel ihm die Kinnlade herab.

»Umberto Lombardi«, sagte Syracuse, »erlauben Sie mir, Ihnen Jason Chaser vorzustellen. Das ist Henry, sein Vater, und das sein Bruder und Navigator, der Bug.« Syracuse wandte sich an Jason. »Umberto ist ein alter Freund von mir, und als wir uns hier begegnet sind, habe ich ihn gebeten, im Laufe des Abends mal bei uns vorbeizuschauen. Er aber hat darauf bestanden, mit uns zusammen zu speisen.«

Jason war sprachlos.

Umberto Lombardi war der milliardenschwere Eigner des Lombardi-Rennteams, eines der wenigen Profirennteams in Privatbesitz.

Gleichzeitig war er ein italienischer Baulöwe und hatte mit dem äußerst erfolgreichen Projekt »Venedig II« ein Vermögen verdient. Als er vorgeschlagen hatte, Venedig fünfzig Meilen weiter östlich als exaktes Replikat einschließlich der Kanäle mit kristallklar gechlortem Wasser neu aufzubauen und mit ultramodernen Apartments auszustatten, hatte man ihn ausgelacht.

Doch kaum nahm Lombardis Vision Gestalt an, wurden die Wohnungen im Handumdrehen verkauft - hauptsächlich an Rennfahrer-Playboys und die oberen Zehntausend Europas.

Venedig II wurde die heißeste Adresse der ganzen Welt.

Bald darauf folgte Venedig III - wo sonst als am Venice Beach in Kalifornien -, und dann kamen Venedig IV, V und VI hinzu.

Lombardis Leidenschaft aber waren die Hovercarrennen. Im Laufe der Zeit war dieser überlebensgroße Bursche zu einer schillernden Figur des Rennbetriebs geworden. Selbst wenn sein Team bei der Weltmeisterschaft den letzten Platz belegte, warf er immer noch freudig Geld hinterher. Er stand im Ruf, eine Nase für neue Talente zu haben - begabte Fahrer wurden meist von den Werkteams weggekauft.

»Wissen Sie«, dröhnte Lombardi, während er zwischen Jason und Henry Chaser Platz nahm, »diese Galadiners sind bisweilen so entsetzlich fad. Kaviar, Trüffel, Gänseleberpastete. Bah! Offen gesagt ist mir ein herzhafter Cheeseburger manchmal lieber!« Er stupste Jason mit dem Ellbogen an. »Keine Bange, mein junger Freund. Wenn uns das Essen nicht schmeckt, lassen wir uns eine Pizza kommen. Dann haben diese Gesellschaftsparasiten bei der nächsten Dinnerparty etwas, worüber sie sich das Maul zerreißen können.«

Jason lächelte. Er mochte Umberto Lombardi.

Auf einmal bemerkte Lombardi - der überschwängliche Lombardi - den Bug, der sich mit angstvoll geweiteten Augen halb hinter seinem Bruder versteckte.

»Wen haben wir denn da!«, dröhnte Lombardi erfreut. »Du bist also der kleine Bursche, der in dieser fliegenden Kanonenkugel durch die Gegend schwirrt.«

Von da an verlief das Galadiner wie geschmiert.

Der Abend verstrich wie im Flug.

Umberto Lombardi war der angenehmste Tischgenosse, den man sich denken konnte. Er redete über Hovercarrennen, Bauprojekte, Begegnungen mit Filmstars und erzählte sogar, wie er Scott Syracuse in den Profirennbetrieb eingeführt hatte.

Vor allem aber lernte Jason an diesem Abend, dass der Rennbetrieb sich nicht allein auf die Piste beschränkte. Das Geschäftliche wurde bei Gelegenheiten wie dieser erledigt.

Eingerahmt von den mit den Logos der Schulsponsoren übersäten Fahnen, hielt Jean-Pierre LeClerq eine Ansprache. Jason begriff, worum es beim Sponsoring vor allem ging -nämlich ums Wahrgenommen werden. Man erwähnte immer die Sponsoren, so wie LeClerq es in diesem Moment vor den weltweit einflussreichsten Leuten tat.

Im Anschluss an die Ansprachen wurden die Speisen aufgetragen.

Als Jason irgendwann auf die Toilette ging, bemerkte er an der Bar Ariel Piper. In ihrem eng anliegenden silberfarbenen Kleid sah sie wunderschön aus - allerdings wirkte sie auch ein wenig verlegen neben dem hoch gewachsenen Burschen in den Zwanzigern mit den glatt zurückgekämmten Haaren und der spitzen Hakennase. Er hatte die Fliege seines teuren Smokings gelockert und streichelte Ariels Kinn mit dem Zeigefinger.

»Hey, Ariel«, sprach Jason sie an. »Wie läuft's? Hi«, sagte er zu dem Mann im Smoking. Jetzt erst wurde ihm klar, wen er da vor sich hatte - Fabian, den berüchtigten französischen Hovercarrennfahrer.

»Jason, bitte -«, sagte Ariel.

»Zieh Leine, Bürschchen«, knurrte Fabian. »Siehst du nicht, dass wir beschäftigt sind?« Er hatte einen ausgeprägten Akzent und eine schwere Zunge.

Fabian wandte sich wieder Ariel zu. »Wie ich gerade sagte, einer Frau mit Ihrer ... äh, Begabung stehen in der Welt der Hovercarrennen alle Türen offen. Das heißt, natürlich nur dann, wenn Sie Ihre Trümpfe richtig ausspielen. Überlegen Sie sich mein Angebot, vielleicht sehen wir uns später noch.«

Er drückte Ariel etwas in die Hand und entfernte sich.

Jason konnte nicht erkennen, was es war, doch es sah aus wie die Codecarte eines Hotelzimmers.

Dann musterte er Ariel: Sie schloss die Faust um die Karte und sah Fabian hinterher, als stünde sie vor einer schweren Entscheidung. Widerstreitende Gefühle konnte man von ihrem Gesicht ablesen - Berechnung, Abscheu und Ehrgeiz.

»Ariel. Alles okay?«, fragte er besorgt.

Ariel blickte immer noch Fabian hinterher, der gerade den Speisesaal verließ und sich zu den Aufzügen wandte.

»Jason«, sagte sie mit abgewandtem Blick. »Du bist ein netter Bursche und hast ein gutes Herz. Aber es gibt Dinge, die du noch nicht begreifst.«

Die Faust um die Karte geschlossen, folgte sie Fabian.

Jason sah ihr hilflos nach.

»Ich begreife mehr, als du glaubst«, murmelte er vor sich hin.

Um halb elf verabschiedeten sich Jason und der Bug von Umberto Lombardi und Scott Syracuse.

Es war Schlafenszeit.

Morgen stand ein Rennen an.

 

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Es lag Spannung in der Luft, als in Hobart der Morgen anbrach - und damit der Tag des Sponsorenrennens.

Die aufgehende Sonne spiegelte sich auf einer gigantischen, speziell für das Rennen errichteten Konstruktion.

Sie hatte die Form einer riesigen 8, mit einer eingefassten Fahrspur, die gerade breit genug für zwei Hovercars war. Die »Renngasse« hatte Wände aus durchsichtigem verstärktem Plexiglas und war wie ein Rattenlabyrinth nach oben hin offen.

Ein Teil der 8 führte durch die Schluchten der Wolkenkratzer von Hobart, der Hauptteil der Piste aber ging auf die Storm Bay hinaus, wo sie von riesigen Tribünen und Flutlichtmasten gesäumt war und am Himmel der Übertragungszeppelin eines Sportsenders schwebte. Überall waren Fernsehkameras aufgebaut, denn das Turnier wurde weltweit übertragen.

Die Zuschauer waren in Scharen herbeigeströmt: 250 000 Menschen hatten sich allein auf den Tribünen versammelt, während erfahrene Einheimische das Rennen von Dächern und Bürofenstern aus verfolgen würden.

Jason, der Bug und Sally trafen um 7.30 Uhr in der Boxengasse ein, in der bereits hektische Betriebsamkeit herrschte. Jason fiel auf, dass zahlreiche andere Teams mit nagelneuen Teamuniformen ausgestattet waren und sie nicht nur die Wagen, sondern angesichts der anwesenden internationalen Sponsoren auch die Rennstiefel gewienert hatten.

Auf einmal schämte er sich seiner Rennkleidung: alter Overall, Arbeitsstiefel und ein ramponierter Motorradhelm.

Sein Vater hatte sich ihnen eigentlich anschließen wollen -er hätte die Spannung in der Boxengasse gern hautnah erlebt -, doch Martha hatte ihn im letzten Moment davon ab gebracht und gemeint, er müsse ihr bei dem geheimnisvollen Projekt helfen, das sie schon die vergangenen anderthalb Tage über im Wohnwagen gefesselt hatte. Die Anspannung war fast greifbar.

Das war kein gewöhnlicher Renntag. Hier ging es um mehr als nur um Schulmeisterschaftspunkte. Heute wurden Weichen für die Zukunft gestellt.

Als Jason Ariel in ihrer Box erblickte, winkte er ihr zu. Sie bemerkte ihn zwar, reagierte aber nicht und sah ihm auch nicht in die Augen.

Um Viertel vor neun fand in der Boxengasse die Auslosung der Startreihenfolge statt, die ebenfalls im Fernsehen übertragen wurde. Jedes Erstrundenrennen bekam eine Nummer, und Jean-Pierre LeClerq zog die Zahlen aus einem Hut.

Die erste Rennpaarung des Tages lautete ...

Chaser, Jason gegen Piper, Ariel.

Das Rennen war für 9.30 Uhr angesetzt, doch zuvor, um 9 Uhr, sollte vor der VIP- Haupttribüne unmittelbar an der Start-Ziel-Linie die »Parade der Rennfahrer« stattfinden. Während er so die schick gekleideten Rennteams betrachtete, kam sich Jason in seinem alten Baumwolloverall ziemlich fehl am Platze vor.

Doch er hatte keine andere Wahl.

Und so begann die Parade der Rennfahrer, und er präsentierte sich in seinem schmuddeligen Overall, flankiert von Fahnen und Bannern, den Kameras, während am Himmel der Übertragungszeppelin schwebte. Noch nie im Leben war er so verlegen gewesen, und von der ersten Minute an sehnte er das Ende der Zeremonie herbei.

Dann war endlich Schluss, die Zuschauer applaudierten, und die Piste wurde fürs erste Rennen des Tages geräumt.

Sally bereitete den Argonaut und Tarantula vor.

Der Bug feilte noch an der Boxenstrategie - während er immer wieder ängstlich zu den voll besetzten Tribünen hinüberspähte.

Die Digitalanzeige sprang auf 9 : 20, und aus einem Lautsprecher dröhnte die Stimme des Rennleiters: »Die Fahrer Chaser und Piper werden gebeten, ihre Plätze auf der Piste einzunehmen! Noch fünf Minuten bis zum Start...« Jason sprang auf -

- als plötzlich seine Eltern in die Box gelaufen kamen. Seine Mutter rief: »Jason! Doodlebug! Wartet!«

In den Händen hielt sie ein großes Wäschepaket.

»Mum!«, sagte Jason. »Was ist denn los?«

»Tut mir leid, dass ich nicht eher fertig geworden bin«, sagte Martha Chaser noch ganz außer Atem und öffnete das Paket. Zum Vorschein kam ein Satz prächtiger Rennfahrermonturen aus echtem Leder.

Blau.

Silbern.

Und weiß.

Die Farben des Argonaut.

Es waren Ganzkörpermonturen mit eingearbeiteten Handschuhen und Rennstiefeln. Das Design war einfach cool. Da das Weiß dominierte, sah es so aus, als hätten die Träger der Montur Arme und Beine in blaue Farbe getaucht - die blauen Bereiche waren zusätzlich mit glänzendem Silber abgesetzt. An der linken Schulter prangte jeweils die Nummer 55.

Eine Montur war für Jason.

Eine kleinere für den Bug.

Und eine dritte ... für Sally McDuff.

Martha reichte sie ihr: »Ich hab im Brustteil ein bisschen Verstärkung eingearbeitet, meine Liebe.«

Und dann holte Henry Chaser seine Überraschung hervor: Zwei Kartons mit dem Aufdruck »SHOEI«.

»Das ist jetzt nicht wahr, oder?«, stammelte Jason.

Er öffnete seinen Karton und zog einen nagelneuen marineblauen Shoei-Rennhelm hervor.

Bugs Helm war weiß. Und da Sally keinen Helm brauchte, bekam sie eine blaue Baseballkappe mit der aufgestickten Aufschrift »Argonaut SS« geschenkt.

Martha sagte: »Als ich gesehen habe, wie ihr am Donnerstag gewonnen habt, dachte ich nur: Was für ein großartiges Team! Und weil ein großartiges Team auch großartig aussehen muss, habe ich mir Material besorgt, mich in den Rennzeitschriften über die aktuelle Mode kundig gemacht und mich die letzten anderthalb Tage eurem Teamauftritt gewidmet.«

Jason umarmte sie begeistert, sein kleiner Bruder tat es ihm gleich. »Danke, Mum!« »Jetzt aber mal zügig, Jungs«, sagte Henry Chaser. »Zeit, in die Anzüge zu steigen! Schließlich habt ihr ein Rennen zu gewinnen.«

Ein paar Minuten später schritt das Team Argonaut in seinen brandneuen Rennanzügen und den Shoei-Helmen in der Hand mit Pokerface und entschlossenem Blick unter dem Applaus der Zuschauer hinaus auf die Piste und hinein in den Sonnenschein.

Ariel Pipers Team war bereits auf dem Startfeld und wartete neben dem Pied Piper.

»Aus welchem Film seid ihr denn? Der Stoff aus dem die Helden sind? Oder Armageddon}«, bemerkte Ariels Navigatorin trocken.

Jason nickte Ariel zu, dann kletterte er ins Cockpit des Argonaut.

»Auf der Piste hört die Freundschaft auf, Jason«, meinte Ariel.

»Du sagst es, Ariel.«

 

 

 

1. Rennen Chaser gegen Piper

  

Die beiden Hovercars standen Seite an Seite auf dem Startfeld, der Argonaut links, der Pied Piper rechts.

Vom Cockpit aus sah Jason nicht mehr als den breiten, durchsichtigen Plexiglaskorridor, der in der Ferne nach links in den Wald der Wolkenkratzer abschwenkte.

Und dann - tock, tock, ping - sprangen die Startlichter auf grün, die beiden Wagen schössen über die Startlinie, und die Zuschauer auf den Tribünen brachen in lauten Jubel aus.

Zwei Wagen.

Ein in sich geschlossener Kurs.

Hyperschnelles Tempo.

Blendender Sonnenschein.

Nur schemenhaft erkennbare Wände.

Der Argonaut und der Pied Piper legten sich blitzschnell in die Kurven und schössen dahin wie zwei Gewehrkugeln, tauchten ab, schössen hoch und verfehlten einander beim Kampf um die bessere Position nur um Zentimeter.

Aus den Augenwinkeln sah Jason zur Rechten die rot-weiß lackierte Nase des Piep Piper.

Nach fünf schnellen Runden hatte das noch nicht viel zu besagen.

Nach zehn Runden lagen sie immer noch gleichauf. Die Nerven zum Zerreißen gespannt, musterte Jason unverwandt die schemenhaft vorbeizischende Piste.

Runde um Runde fuhren sie, schwirrten mal höher, mal tiefer durch die Acht, bisweilen Seite an Seite, dann wieder dem Gegner dicht auf den Fersen, und wechselten sich alle paar Wagenlängen in der Führung ab. Das Publikum schaute gebannt zu.

Und dann auf einmal verlor Jason so plötzlich, wie ein Pferd ein Hufeisen verliert, einen Magnetodrive und fuhr notgedrungen als Erster in die Box, obwohl er das unter allen Umständen hatte vermeiden wollen.

Ariel fuhr weiter und nahm die nächste 30-Sekunden-Runde in Angriff.

Den Zuschauern stockte der Atem.

Jason blieben 30 Sekunden.

Er hielt in der Box. Tarantula senkte sich herab.

7 Sekunden ... 8 ...

Der Pied Piper schoss durch den Stadtabschnitt. Die neuen Mags wurden montiert. Kühlmittel rauschte in die Tanks.

Der Pied Piper preschte die Acht entlang. 13 Sekunden ... 14 Sekunden. »Sally ...!«

»Fast fertig ... okay! Los!«

Sally beendete die Aktion, Tarantula zog sich in die Decke zurück, und Jason gab Gas und schoss in dem Moment aus der Box, als Ariel kreischend um die letzte Kurve gebogen kam, dem Argonaut dicht auf den Fersen - nur noch wenige Wagenlängen von ihm entfernt!

Jetzt war es ein klassischer Zweikampf, der Teil des Rennens, der als »Jagdphase« bezeichnet wurde.

Der Pied Piper (keine Boxenstopps) klebte am Heck des Argonaut (ein Boxenstopp) und jagte ihm hinterher. Sollte Jason auch nur den kleinsten Fehler machen und sich Ariel auch nur einen Millimeter vor ihn setzen, wäre das Rennen für ihn gelaufen.

Ein Millimeter reichte tatsächlich schon aus - die in den Frontflügeln beider Wagen eingebauten Mikrochips würden Alarm geben, sobald einer der Wagen eine Runde Vorsprung hatte.

Jason musste sich Ariel so lange vom Leib halten, bis sie in die Box fuhr.

Doch das tat sie nicht.

Sie setzte ihm einfach weiter nach.

Griff unermüdlich an.

Jagte ihn, nahm perfekt jede Kurve und holte mit jeder Runde weiter auf. Schob sich unerbittlich Meter um Meter an ihn heran.

Nach einer Runde lag sie zwei Wagenlängen hinter dem Argonaut.

Und nach weiteren drei Runden war sie bis auf eine Wagenlänge herangekommen!

Es war erbarmungslos. Ariel gab ihr Bestes, nahm jede Kurve sauber und suchte nach einer Überholmöglichkeit. Sie fuhr das Rennen ihres Lebens.

In der vierten Runde hatte sich Jasons Vorsprung auf eine halbe Wagenlänge verkürzt. Nicht die Nerven verlieren ... sprach er sich Mut zu. Verlier bloß nicht die Nerven ...

Fünf Runden. Die meisten Verfolgungsjagden endeten in der fünften Runde; entweder fuhr der Verfolger in die Box, oder der Führungswagen setzte sich ab.

Ariel schloss zu ihm auf!

Sie will mich zu einem Fehler verleiten!

Sieben Runden.

Jetzt rasten sie Seite an Seite dahin.

Jason blickte starr nach vorn - hätte er es gewagt, den Kopf zu wenden, hätte er hinter dem Visier des Rennhelms Ariels Augen erblickt.

Acht Runden. Die Zuschauer sprangen von den Sitzen.

Acht Runden!, schrie es in Jason. Wie lange will sie das durchhalten? Wann fährt sie endlich in die Box?

In der neunten Runde des Rennens schob sich der rot weiße Frontflügel des Pied Piper auf einmal in sein Gesichtsfeld.

Nein! Sie schafft es! Die Zuschauer rasten.

Gib niemals auf. Lass dich nicht unterkriegen.

Erst als sie die Start-Ziel-Gerade entlang bretterten und Runde 20 in Angriff nahmen - die zehnte Runde des Verfolgungsrennens -, fiel Ariel plötzlich zurück und verschwand in der Box.

Das Publikum applaudierte begeistert. Jason hatte soeben eine Neun-Runden-Verfolgungsjagd überstanden, fast das Doppelte einer normalen Verfolgungsjagd. Eine unglaubliche Konzentrationsleistung unter höchster Anspannung.

Jetzt, da Ariel nicht mehr an seinem Heck klebte, gab er befreit Vollgas.

Ariels Boxenstopp verlief fast perfekt, und sie kam dicht vor Jason auf die Piste zurück - allerdings fuhren sie nun beide in derselben Runde.

Die 40. Runde endete ohne besondere Vorkommnisse.

In der 81. Runde war Jason mit der Verfolgungsjagd an der Reihe, doch Ariel wehrte ihn entschlossen ab.

Dann versuchte Ariel es erneut, als Jason in der 90. Runde in die Box fuhr, doch auch diesmal kam es zu keiner Entscheidung.

Somit hing nach 96 Runden und 48 Minuten großartigen Zweierrennens alles vom vier Runden währenden Endspurt ab.

Die beiden Wagen jagten über die Piste und preschten wie Raketengeschosse um die Kurven, zwei verwischte Schemen, blau und rot.

Drei Runden vor Schluss fühlte Jason sich erschöpft, seine Nerven und Reflexe waren bis zum Äußersten strapaziert worden. Er hatte keine Ahnung, ob er das Rennen bis zum Ende durchstehen würde.

Noch zwei Runden, und ihm verschwamm allmählich die Sicht - während Ariel noch immer vor ihm war. Noch 60 Sekunden Rennzeit.

Im Stadtabschnitt brachte Jason die Triebwerke auf volle Leistung.

Der Argonaut raste über die Überführung und schoss mit fast 90 Grad Seitenneigung in die Rechtskurve, was ihn einen Meter näher an den Pied Piper heranbrachte.

Die beiden Wagen kamen kreischend aus der letzten Kurve heraus und begannen die letzte Runde, der Pied Piper mit einem knappen Meter Vorsprung.

Jason biss die Zähne zusammen und gab Vollgas.

Allmählich wurde ihm schwummrig.

Zwischen den Wolkenkratzern hindurch, dann scharf in die Kurve, der Pied Piper ein roter Schemen dicht vor ihm. Das Gebrüll der Zuschauer brandete ihm entgegen.

Über die Überführung und auf die letzte Rechtskurve zu, alle Pedale, Schalthebel und Anzeigen im roten Bereich. Und dann auf einmal, in einem flüchtigen Bruchteil einer Sekunde, sah Jason, wie Ariel einen Fehler machte.

Sie nahm die letzte Kurve zu weit außen. Die allerletzte Kurve - die zweihundertste Kurve dieses nervenzerfetzenden, die Reflexe zermürbenden Rennens.

Unter Aufbietung der allerletzten Kraftreserven und all seines Könnens stürzte Jason sich auf die Gelegenheit.

Er setzte zur Kurve an und lenkte den Argonaut scharf nach innen. Als sie gemeinsam um die Kurve bogen, fuhr er an der Innenseite des Pied Piper ...

... schloss zu ihm auf ...

... dann donnerten die beiden Wagen gleichauf über die Zielgerade, überquerten nach 100 Runden eines Zweierrennens, wie man es sich spannender nicht vorstellen konnte, Seite an Seite die Ziellinie, und der Sieger war -

- der Argonaut.

Mit einem Vorsprung von der Länge des Frontflügels.

Später wurde bekannt gegeben, dass der Vorsprung, berechnet von den Mikrochips in den Frontflügeln der beiden Wagen, 0,04 Sekunden - vier Hundertstelsekunden - betrug. Erst dann stand » Chaser, J.« als Sieger fest.

Körperlich erschöpft und mental ausgelaugt, kehrte Jason zur Box zurück.

Das Turnier ging unterdessen weiter; die beiden nächsten Rennfahrer nahmen Aufstellung und bereiteten sich auf den Start vor.

Als der dampfende Argonaut in die Box einfuhr, verströmte er den säuerlichen Geruch überhitzter Magnetodrives.

Jason und der Bug stiegen aus, nahmen die Helme von den verschwitzten Köpfen - und wurden sogleich von Sally McDuff und ihren stolzen Eltern umarmt.

»Du bist mir ja ein rechter Draufgänger, Jason Chaser!«, rief Sally aus. »Ich dachte schon, sie würde dich gleich in der Anfangsphase erwischen.«

»Ich auch!«, sagte Henry. »Neun Runden! Du hast sie dir neun Runden lang vom Leib gehalten! So was hab ich noch nicht gesehn! Wie hast du das nur gemacht?«

Jason lächelte verlegen dem in der Nähe stehenden Scott Syracuse zu: »Niemals aufgeben. Sich nie unterkriegen lassen.«

Dann gaben ihn seine Eltern frei, sodass Jason und der Bug sich in die Sessel in der hinteren Ecke der Box fallen lassen konnten.

Syracuse näherte sich ihnen und musterte die beiden er schöpften, verschwitzten Rennfahrer mit den wirren Haaren.

Er lächelte.

»Ein schönes Rennen, Jungs«, sagte er. »Ausgezeichnet. Einen so nervenstarken Fahrer habe ich schon lange nicht mehr erlebt, Mr. Chaser.«

»Danke, Sir«, sagte Jason.

»Und jetzt gehen Sie duschen und ruhen sich beide aus. Die nächste Runde wird schneller eingeläutet, als Sie denken, und dann müssen Sie frisch sein.«

Zehn Minuten später trat Jason aus der Boxendusche - als Ariel in ihrer Box sich gerade lebhaft mit Fabian unterhielt. Eigentlich redete nur sie.

Er hatte sich bereits zum Gehen gewandt und tat ihre tränenreichen Ergüsse mit einer schroffen Handbewegung ab.

Fabian entfernte sich und ließ Ariel allein in der Box zurück. Tränen strömten ihr übers Gesicht.

Jason wusste, was da vor sich ging. Ariel war am Vorabend zu Fabian aufs Zimmer gegangen - was sich dort abgespielt hatte, wollte er sich lieber nicht ausmalen -, und jetzt, da sie schon in der Eröffnungsrunde des Turniers ausgeschieden war, wollte er nichts mehr von ihr wissen.

Wie er sie so betrachtete, tat Ariel ihm leid. Sie hatte Fabian gestern in völliger Verkennung der Sachlage etwas von sich geschenkt, doch Fabian hatte sie nur benutzt

Auf einmal drehte Ariel sich um und bemerkte, dass Jason zu ihr herüberblickte.

Beide standen da, an entgegengesetzten Enden der Boxengasse, und sahen einander an.

Jason brach den Blickkontakt nicht ab. Das würde er auf keinen Fall tun. Schließlich war es Ariel, die wegschaute und dann in ihrer Box verschwand.

»Tut mir leid, Ariel«, murmelte Jason vor sich hin. »Aber auf der Piste hört die Freundschaft auf.«

Im Verlauf des Turniers heizte sich die Volksfestatmosphäre immer mehr auf. Zwischen den Rennen traten Popgruppen auf, während die Sponsoren und die Vertreter der Rennschule in den VIP-Zelten Champagner tranken und Geschäfte tätigten.

Von den ersten sechs Vorrundenrennen hatte das von Jason und Ariel bei weitem am längsten gedauert. Die anderen waren aufgrund von Unfällen oder Boxenfehlern entschieden worden. Kein einziges hatte die 50-Runden-Marke überschritten, geschweige denn die hundertste Runde erreicht.

Die zweite Runde versprach ein spannendes Viertelfinale zu werden, und die hohen Erwartungen der Zuschauer wurden nicht enttäuscht.

Nach der Vorrunde sahen die weiteren Paarungen folgendermaßen aus:

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