Internationale Rennschule Hobart, Tasmanien

 

An der Unterseite Australiens liegt eine große Insel, die aus der Luft aussieht wie ein auf der Spitze stehendes Dreieck.

Früher unter dem furchteinflößenden Namen Van Diemens Land bekannt, wird sie heute einfach Tasmanien genannt.

Es ist eine unwirtliche Insel, wild und abweisend. Dort gibt es zerklüftete Steilküsten, uralte Regenwälder und ein verschlungenes Fernstraßennetz. Auf den zahlreichen Halbinseln findet man die grausigen Sandsteinüberreste britischer Gefängnisse - Port Arthur, Sarah Island. Namen, die jeden Verbrecher des neunzehnten Jahrhunderts in Angst und Schrecken versetzt haben.

Früher einmal war Tasmanien das Ende der Welt. Jetzt war es von Sydney aus mit dem Hoverlinienschiff bequem in zwei Stunden zu erreichen.

Jason Chaser stand an Deck des Linienschiffs, das den Der-went River entlang schwebte, und betrachtete das moderne Hobart.

Mit seiner eleganten Mischung aus sehr alt und ganz neu hatte Hobart sich zu einer der weltweit angesagtesten Städte entwickelt. Die zweihundert Jahre alten Sandsteinlagerhäuser passten gut zu den modernen Wolkenkratzern aus Glas und funkelndem Stahl und den Titanbrücken, die den Fluss überspannten.

Aufgrund einer seltsamen Wendung des Schicksals gehörte die ganze Insel der Internationalen Rennschule und war somit das weltweit größte Areal in Privatbesitz.

Anfang der 2000er Jahre war der australische Bundesstaat Tasmanien im Verfall begriffen gewesen; die Bevölkerung war überaltert und schrumpfte. Als die Bevölkerung unter 50 000 sank, nahm die australische Regierung zu einer ungewöhnlichen Maßnahme Zuflucht und privatisierte die ganze Insel. Tasmanien wurde von einem Erdölkonzern gekauft, der anschließend von der Hovertechnologie überrollt wurde. Bei der Liquidierung der Besitztümer des bankrotten Konzerns wurde der Inselstaat von Phillip T. Youngman erworben, dem Anführer einer Gruppe von Leuten, die beabsichtigten, eine Schule für den gerade aufkommenden Hoverrennsport zu gründen.

Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.

Als Wüstenjungs hatten Jason und der Bug noch nie etwas gesehen, das mit der Ostküste von Australien vergleichbar gewesen wäre.

Das Linienschiff war auf dem Weg nach Tasmanien an Sydney vorbeigerast. Gleich hinter Sydney hatten sie die berühmten Acht Dämme gesehen, die sich an der Pazifikküste entlang zogen - ein atemberaubendes Großbauwerk. Vor ein paar Jahren hatten die Ingenieure den Pazifischen Ozean buchstäblich zurückgedrängt und ein paar Meilen vor der Küste die acht gewaltigen hydroelektrischen Dämme errichtet.

Die acht Wasserfälle, die sich nun majestätisch über die Dämme ergossen, produzierten nicht nur eine schier unerschöpfliche Menge Strom, sondern hatten auch noch einen willkommenen Nebeneffekt: Sie waren nach den Pyramiden die weltweit meistbesuchte Touristenattraktion und bildeten den spektakulären Hintergrund für das alljährlich in Sydney stattfindende Hovercarrennen - das Sydney Classic, eines der vier Grand-Slam-Rennen.

Das Schiff lief in den Hafen von Hobart ein.

Jason und der Bug nahmen ihr Gepäck und wandten sich zur Gangway -als sich ihnen auf einmal zwei grimmig dreinschauende Jugendliche in den Weg stellten.

»Da ist ja schon wieder der kleine Jason Chaser«, höhnte Barnaby Becker. Mit seinen 18 Jahren war Becker einen Kopf mitsamt Schultern größer als Jason. Außerdem war er jetzt der indopazifische Regionalchampion, ein Titel, der in Rennkreisen einiges Ansehen genoss.

Barnaby nickte seinem Navigator zu: Guido Moralez, ebenfalls 18, mit unstetem Blick und schleimigem, ordinärem Auftreten.

»Also, das kapier ich nicht, Guido«, sagte Barnaby. »Erklär du mir mal, was der kleine Scheißer, der waisenhaft Letzte bei der Regionalausscheidung, hier auf der Rennschule zu suchen hat.«

»Keinen Schimmer, Barn«, erwiderte Guido glattzüngig, wobei er Jason und den Bug von der Seite beäugte. »Ich hoffe nur, sie sind gut vorbereitet. Man weiß nie, was einem an einem solchen Ort alles passieren kann.«

Der Wortwechsel fasste ihre Reise treffend zusammen.

Nach der unerwarteten Einladung zur Rennschule hatten Jason und der Bug Scott Syracuse nicht mehr wiedergesehen. Er war mit einem privaten Hoverflugzeug nach Tasmanien geflogen und hatte gemeint, er wolle sich dort mit den Jungs treffen. Dies hatte leider zur Folge gehabt, dass Jason und der Bug - aufgrund ihres Alters beide Außenseiter - die ganze Fahrt nach Tasmanien über Beckers und Guidos Frotzeleien erdulden mussten.

Barnaby, der wusste, dass Jason und der Bug bei Adoptiveltern in Halls Creek lebten, streute möglichst oft das Wort »Waise« in seine höhnischen Bemerkungen ein.

Der Bug flüsterte Jason etwas ins Ohr.

»Was! Was hast du gesagt?«, wollte Barnaby wissen. »Was soll das Getuschel, du kleiner Schwachkopf? Warum redest du nicht wie ein Mann?«

Der Bug musterte ihn wortlos.

»Ich hab dich was gefragt, du Flasche -« Barnaby wollte den Bug am Kragen packen, doch Jason schlug dem größeren Jugendlichen auf die Hand.

Barnaby erstarrte.

Jason erwiderte unverfroren seinen Blick. »O je, ich rieche Spannungen.« Guido Moralez rieb sich die Hände.

»Rührt ihn nicht an«, sagte Jason. »Er redet, aber nicht mit Leuten wie euch.«

Barnaby nahm lächelnd die Hand weg. »Also, was hat er gesagt?«

»Er hat gesagt: >Wir sind keine Waisen<«, antwortete Jason.

Die Rennschule lag unmittelbar gegenüber dem Dock, am anderen Ufer des breiten Derwent River, untergebracht in einem Gebäude aus funkelndem Glas und Stahl, das aussah wie ein Riesensegel.

Jason und die anderen Rennschüler wurden ins höhlenartige Eingangsfoyer der Schule geleitet. Von der Decke hingen berühmte Hovercars: Wilmingtons Prototyp, der H-l, nahm den Ehrenplatz ganz in der Mitte ein und wurde flankiert von dem Boeing Hyper-Drive, mit dem Ferragamo das Masters gewonnen hatte, und einem Originaltor vom Rennen in der Londoner U-Bahn.

»Hier entlang«, sagte ihr Führer und geleitete sie in einen Hightech-Vortragssaal, der aussah wie das Kontrollzentrum der NASA. Vor den fünfzehn wie in einem Amphitheater angeordneten Sitzreihen stand ein riesiger Bildschirm. Jeder einzelne Sitz war mit einem Computermonitor ausgestattet. Die Galerie an der Rückseite des Saales war den Medienvertretern vorbehalten und gegenwärtig bis auf den letzten Platz besetzt.

»Willkommen im Briefingraum«, sagte ihr Führer. »Mein Name ist Stanislaus Calder, ich bin der Renndirektor der Schule. Glauben Sie mir, Sie alle werden diesen Raum

noch genau kennenlernen. Bitte nehmen Sie Platz. Professor LeClerq und die Lehrkräfte werden gleich kommen.«

Jason blickte sich um und musterte die anderen Rennschüler.

Insgesamt waren etwa fünfundzwanzig Fahrer erschienen, die meisten im Alter von siebzehn bis neunzehn. Fast alle hatten zwei Begleiter: ihren Navigator und den Mechaniker. Jason und der Bug hatten keinen Mechaniker dabei, sie hatten die Boxenarbeit bislang allein bewältigt. Syracuse hatte gemeint, bei Unterrichtsbeginn werde ihnen jemand zugeteilt werden.

Jason machte Barnaby Becker und Guido aus, die mit ein paar der älteren Jungs zusammensaßen. Auch ein paar Mädchen waren im Raum verteilt, die meisten im schwarzen Mechanikeroverall, doch waren sie eindeutig in der Unterzahl.

Ein Mädchen allerdings fiel Jason sofort ins Auge. Sie war ausgesprochen hübsch, hatte ein elfenhaftes Gesicht, strahlend grüne Augen und rotblonde Haare. Sie war um die siebzehn und saß allein für sich, ganz außen in der vordersten Reihe.

Erst nach einer Weile fiel Jason auf, dass viele der Reporter auf der Mediengalerie zu ihr hinsahen, auf sie zeigten und sie fotografierten. Jason hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte.

»Mach den Mund zu und hör auf zu sabbern«, sagte eine rauchige Mädchenstimme ganz in der Nähe.

Jason drehte sich um und stellte fest, dass das unmittelbar hinter ihm sitzende Mädchen ebenfalls zu der grünäugigen Schönheit hinübersah. »Ariel Piper spielt nicht in deiner Liga, kleiner Mann.«

»So hab ich sie gar nicht angeschaut!«, protestierte Jason.

»Aber klar doch.« Das Mädchen hinter ihm war etwa sechzehn, hatte ein rundliches Gesicht und feuerrotes Haar (das zu seinem feuerroten Brillengestell passte), rosige Wangen und ein breites Grinsen. »Ich bin Sally McDuff, Mechanikerin und Mädchen für alles aus Glasgow, Schottland.«

»Jason Chaser, und das ist der Bug, mein kleiner Bruder und Navigator.«

Sally McDuff musterte den Bug neugierig. »Der Bug, wie? Du bist ja richtig niedlich. Wie alt bist du, mein Kleiner?«

Der Bug errötete vor Verlegenheit.

»Er ist zwölf«, sagte Jason.

»Zwölf ...«, meinte Sally McDuff versonnen. »Muss schon ein mathematisches Genie sein, wenn er hierher eingeladen wird. Freut mich, euch kennenzulernen, Jason Chaser und Bug Navigator. Ich schätze, wir werden uns im Laufe des Jahres schon noch über den Weg laufen. Hoffentlich bekommt ihr einen guten Mentor.« »Wie meinst du das?«

»Mann, du hast ja wirklich noch keine Ahnung. Es reicht nicht, dass du ein prima Fahrer bist. Auf den Lehrer kommt es an. Zoroastro ist wohl der beste. Der Maestro. In den vergangenen vier Jahren haben seine Schüler dreimal die Schulmeisterschaft gewonnen. Es heißt, bei Charlie Riefenstahl sitzt man mehr im Rennwagen als bei den Hausaufgaben, deshalb wollen viele Fahrer zu ihm.«

»Was weißt du über Scott Syracuse?«, fragte Jason.

»Syracuse. Yeah. Unterrichtet dieses Jahr Vollzeit. Hab gehört, er hätte letztes Jahr Aushilfsunterricht gegeben, als die Vollzeitlehrkräfte im Urlaub waren.« »Und?«

»Seine Schüler waren offenbar froh, als der reguläre Lehrer wieder da war. Sie meinten, Syracuse wäre sehr anspruchsvoll. Jede Menge Theorie. Viel Boxenpraxis - immer wieder und wieder, bis alles sitzt. Und viele Hausaufgaben.«

»Oh«, machte Jason.

»Warum fragst du?«

»Ach, nur so.«

In diesem Moment öffneten sich rumpelnd die hinteren Türen, und sofort wurde es still im Saal. Jean-Pierre LeClerq betrat den Briefingraum, gefolgt von etwa einem Dutzend Lehrern und Dozenten, alle in Pilotenuniform. Der Letzte in der langen Reihe der Lehrkräfte war Scott Syracuse, der sich auf den Gehstock stützte.

LeClerq, der Dekan, nahm hinter dem Stehpult auf dem Podium Aufstellung.

»Hiermit begrüße ich herzlich die anwesenden Sponsoren, die Medienvertreter und vor allem ... die Rennfahrer. Willkommen an der Internationalen Rennschule. Das Jahr hat kaum be gönnen, und schon hat die Welt des Hovercarrennsports die ersten Umwälzungen zu verzeichnen« - Jason hätte schwören können, LeClerq habe Ariel Piper angesehen -, »doch wir in der Rennschule sind vorbereitet und begrüßen den Wandel, auch wenn ihm heftige Diskussionen vorausgegangen sind.«

Die Digitalkameras der Medienfotografen klickten unablässig. Ihre Fotos würden in Sekundenschnelle auf den Nachrichtensites der ganzen Welt erscheinen.

LeClerq fuhr fort: »An dieser Stelle möchte ich die neuen Schüler willkommen heißen. Vor Ihnen liegt das härteste, anstrengendste Jahr Ihres Lebens. Glauben Sie mir, diese Schule ist eine Feuerprobe, ein Schmelzkessel, ein fortwährender Härtetest, der Ihr Können und Ihre Geistesgegenwart aufs Äußerste beanspruchen wird.

Die Rennschule ist nichts für Leute mit schwachem Herzen oder weichen Knien. Sie werden das Hochgefühl des Sieges erleben ... und die Depression der Niederlage. Sie werden an der Schulmeisterschaft teilnehmen, und diejenigen von Ihnen, die bei einem der Rennen siegen, werden in den Genuss der Teilnahme am Sponsorenrennen zur Mitte der Rennsaison kommen.

Einige von Ihnen werden gestählt aus der Feuerprobe hervorgehen und sich des Titels >Rennfahrer< als würdig erweisen. Anschließend steht es Ihnen frei, bei einem Profiteam zu unterschreiben. Andere werden es nicht schaffen - sie werden gebrochen werden. Aber keine Bange, es ist keine Schande, von der Rennschule abzugehen. Allein die Einladung hierher bedeutet, dass Sie etwas Besonderes sind.

Wo wir gerade vom Besonderen sprechen«, meinte LeClerq mit einem Grinsen, »es ist mir ein Vergnügen, Ihnen eine Überraschung verkünden zu dürfen. Aus Anlass der Begrüßung der neuen Schüler haben wir heute einen Ehrengast, einen Ehemaligen dieser Schule und, sagen wir's ruhig, eine Berühmtheit. Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen den besten Schüler vorstellen, den ich je unterrichtet habe ... Alessandro Romba, den derzeitigen Weltmeister!«

Das Auditorium erwachte zum Leben.

Alle Köpfe wandten sich überrascht um. Allgemeines Gemurmel setzte ein. Jason wäre beinahe vom Sitz gefallen.

Jean-Pierre LeClerq lächelte zufrieden hinter seinem Stehpult - die Überraschung war ihm geglückt.

Alessandro Romba war schlicht und einfach der berühmteste Mensch der Welt.

Romba la Bomba.

Der amtierende Weltmeister des Profirennbetriebs war der Cheffahrer des Werksteams von Lockheed-Martin. Außerdem war er Italiener, eine umwerfende Erscheinung und vielleicht der wagemutigste Mann, der je einen Hovercar gesteuert hatte: Seinen Spitznamen la Bomba - die Bombe - trug er zu Recht.

Er machte Werbung für Aftershaves, Hovercars von Lockheed-Martin und Adidas, und es verging keine Woche, ohne dass sein Gesicht auf der Titelseite einer größeren Zeitschrift oder Zeitung aufgetaucht wäre.

Als Alessandro Romba aufs Podium trat, senkte sich andachtsvolle Stille auf das Publikum herab. Etliche Frauen nestelten an ihren Haaren.

Er umarmte LeClerq wie ein Sohn seinen Vater, dann trat er hinters Stehpult und präsentierte sein Eine-Million-Dollar-Lächeln.

Das Klicken der Kameras schwoll auf Maschinengewehrlautstärke an.

Als Romba la Bomba eine halbe Stunde später seine Rede beendete, brach ein Beifallssturm los, und das Publikum bereitete ihm stehende Ovationen.

Jean-Pierre LeClerq nahm wieder seinen Platz am Stehpult ein.

»Danke, Alessandro, vielen Dank. Es wird Sie nicht verwundern, dass Alessandro während seiner Lehrzeit die Schulmeisterschaft mit zwanzig Punkten gewann, was einen Rekord darstellte. Er beabsichtigt, zum Lunch zu bleiben, und wird Ihnen allen gern ein Autogramm geben.

Nun aber zu einigen praktischen Fragen: Ich werde nun die Namen der Kandidaten verlesen und sie ihrem jeweiligen Mentor zuteilen. Ihr Mentor wird hier an der Rennschule Ihr Lehrer sein - sowie Ihr Beratungslehrer, Vertrauter und Elternersatz. Jeder Mentor ist für drei Fahrerteams zuständig.

So. Wir beginnen in alphabetischer Reihenfolge. Team Becker, Fahrer Barnaby, Sie werden von Master Zoroastro betreut. Team Caseman, Fahrer Timothy, Master Raul. Team Chaser, Fahrer Jason, Sie werden Master Syracuse zugeteilt: Der Mechaniker wird noch benannt werden. Freeman, Fahrer Wesley ... «

Jason wandte sich dem Bug zu. »Tja, kleiner Bruder. Jetzt geht's also los.«