Jeder hatte drei Durchgänge, nur die beste Zeit wurde gewertet.
Am Freitagmorgen starteten die Fahrer nacheinander auf dem Grabenkurs.
Dies war Jasons dritter Versuch, und auf der Rutschbahn flog er dahin wie eine Rakete. Die beiden ersten Versuche waren nicht sonderlich spektakulär verlaufen - dieser Lauf aber war richtig schnell.
Die Wände des Grabens rasten mit astronomischer Geschwindigkeit an ihm vorbei, bogen sich nach links und nach rechts, und dann - Schuumm! - legte sich der F-3000 auf die Seite und schoss durchs erste Tor.
Drei weitere Seitenlagemanöver später raste er unter dem frenetischen Applaus der Zuschauer durchs letzte Tor. Vor seinen Augen flammte die elektronische Anzeigetafel auf:
Zwölfter.
Der zwölfte Platz war gut. Jason hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, sich die Poleposition zu erkämpfen. Er hatte lediglich eine gute Performance hinlegen und den Wagen heil aus der Rutschbahn herausbringen wollen. Mann, wäre er unter die ersten zehn gekommen, wäre er vor Freude außer sich gewesen.
Aber auch der 12. von insgesamt 28 Plätzen machte ihn ziemlich glücklich.
»Nicht übel«, meinte Sally. »Gar nicht so übel ... für einen Neuling.«
Sie zauste Jason das Haar. »Ein gutes Rennen, Superstar.«
Am Abend musste Jason am offiziellen Galadiner des Italienrennens teilnehmen, obwohl er keine große Lust dazu hatte.
Das Galadiner des Sponsorenturniers in der Rennschule war schon opulent gewesen, doch dieses Essen war in einer ganz anderen Liga angesiedelt.
Es fand auf der Piazza de Campidoglio statt - auf dem berühmten, von Michelangelo auf dem Kapitolshügel entworfenen Platz mit den drei Palästen -, die im Licht der himmelwärts gerichteten Scheinwerfer einen märchenhaften Anblick bot.
Den Hoverlimousinen entstieg die Creme de la Creme der europäischen High Society - Milliardäre, Filmstars, Rocksänger und natürlich Rennfahrer. Umherwuselnde Reporter vermeldeten atemlos jeden neuen Gast, der den roten Teppich betrat.
Für Jason aber war es nur irgendein Essen.
»Wie lange müssen wir bleiben?«, fragte er Sally, als sie sich, dicht gefolgt vom Bug, zwischen den Gästen in Smokings und Abendkleidern hindurchzwängten und nach ihrem Tisch Ausschau hielten.
»Lombardi hat gemeint, wir brauchten nur bis zu den Ansprachen bleiben«, antwortete Sally. »Danach steht es uns frei, zu gehen.«
»Gott sei Dank. Hast du Syracuse schon gesehen? Ob er wohl noch kommt?«
»Bei unserem letzten Telefonat hat er noch gesagt, er hofft, am Samstag hier zu sein. Heute fand doch in der Schule ein Rennen statt - du weißt schon, das Rennen, wegen dem Ariel wieder zurückfliegen musste -, und da war er unabkömmlich.«
»Weißt du schon, wer gewonnen hat?«, fragte Jason, als er an einer dichten Menschentraube vorbeikam und unvermittelt mit einem Bekannten zusammenstieß. Xavier Xonora.
Ein peinliches Zusammentreffen.
Jason, Sally und der Bug standen ihrem Rivalen gegenüber, dem Schwarzen Prinzen. »Hallo, Xavier«, sagte Jason. »Chaser.«
»Du hast heute ein gutes Rennen gefahren«, sagte Jason. »Bei dem Wettbewerb geht es ganz schön eng zu. Wo bist du gelandet? Auf dem neunten Platz?«
»Stimmt. Auf dem neunten. Aber ich hatte mir nur zum Ziel gesetzt, unter die ersten zehn zu kommen, deshalb bin ich alles in allem ganz zufrieden.«
In diesem Moment tauchte hinter Xavier dessen Vater auf, König Francis von Monesi. »Entschuldige, mein Sohn. Ich möchte dir -« Auf einmal bemerkte er Jason und dessen Team. »Oh.«
»Hallo, Hoheit«, sagte Jason freundlich. »Schön, Sie wiederzusehen.«
Der König reagierte verdattert, als hätte er nicht damit gerechnet, dass Jason des Sprechens mächtig war, geschweige denn einer freundlichen Äußerung fähig. »Äh, ja, die Freude ist ganz meinerseits, Master Chaser. Xavier? Ich möchte dir jemanden vorstellen.« Der König nickte Jason zu. »Ich wünsche Ihnen ... einen angenehmen Abend.«
Als sein Vater sich entfernt hatte, musterte Xavier Jason mit einem eiskalten Funkeln in den Augen. »So, Chaser. Sind deine Eltern da? Wie ich höre, gibt es am Stadtrand von Rom ein paar gute Campingplätze.«
»Weißt du, Xavier, du bist ein prima Fahrer. Schade nur, dass du ein solches Arschloch bist.«
Damit wandte Jason sich ab und ging zu seinem Tisch.
Außer dem Zusammentreffen mit Xavier hatte Jason beim Galadiner noch zwei interessante Begegnungen.
Zur ersten kam es in der Herrentoilette am Hauptgang.
Er stand gerade am Waschbecken, als ein kleiner, drahtiger Inder neben ihn trat und sich ebenfalls die Hände wusch. Ohne ihn anzusehen sagte der Inder: »Sieh an, sieh an. Wen haben wir denn da? Das ist ja Jason Chaser, der Hovercarpilot. Wie geht es Ihnen, Jason?«
Jason sah ihn an. »Kennen wir uns?«
Der Inder reichte ihm die Hand. »Oh, Verzeihung, entschuldigen Sie. Wie unhöflich von mir. Ich heiße Gupta. Ravi Narendra Gupta.«
»Ja, aber woher kenne ich Sie?«
»Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie, Jason.«
»Sind Sie bei einem der Rennteams beschäftigt?«, fragte Jason.
Ravi Guptas Lächeln war Jason auf Anhieb unsympathisch. »Oh, könnte man schon so sagen. Andererseits auch wieder nicht. Ich bin einfach nur sehr interessiert an Hovercarrennen.«
Jason war auf der Hut. »Sie sind doch nicht von der Presse, oder?«
»O nein. Nein, nein, nein! Bestimmt nicht! Glauben Sie mir, junger Jason, ich bin kein Reporter. Bloß ein interessierter Beobachter. Zum Beispiel würde ich gern von Ihnen wissen, wie Ihnen der Profirennbetrieb gefällt. Heute beim Zeitfahren haben Sie sich ausgezeichnet geschlagen.«
»Ich war froh, auf einem mittleren Platz gelandet zu sein.«
»Wie gefällt Ihnen der F-3000? Hat er nicht zu viel Wumm?«
»Das ist ein guter Wagen.« Jason hatte keine Ahnung, worauf Gupta hinauswollte.
In diesem Moment betrat Umberto Lombardi die Herrentoilette - und ehe Jason sich's versah, war Gupta auch schon wieder verschwunden.
Lombardi bemerkte Jasons verdutzte Miene. »Stimmt was nicht, mein junger Star?« Jason schaute umher. Der Inder war tatsächlich verschwunden. »Nein ... nein ... alles in Ordnung.«
Die zweite interessante Begegnung an diesem Abend hatte Jason unmittelbar nach den Ansprachen.
Als der Beifall für den italienischen Präsidenten verklungen war und Jason sich anschickte, sich zu entfernen und ins Hotel zu fahren, nahm auf einmal ein gut aussehendes junges Mädchen neben ihm Platz.
»Hü«, sagte sie. »Du bist Jason Chaser, stimmt's?«
»Ah ... also ... ja«, stammelte der verblüffte Jason.
Sie war um die fünfzehn, also in seinem Alter, und hatte große blaue Augen und schimmerndes blondes Haar. Sie trug ein teures, ausgesprochen stilvolles himmelblaues Cocktailkleid. Kurz gesagt, sie war das hübscheste Mädchen, das Jason in seinem ganzen Leben gesehen hatte.
»Ich bin Dido«, sagte sie mit italienisch-amerikanischem Akzent. »Dido Emanuele, und ich bin ein großer Fan von dir. Ich hab dich vor ein paar Wochen bei dem Schulturnier im Fernsehen gesehn und dann wieder heute beim Zeitfahren. Du bist wirklich umwerfend und dabei noch so jung! Okay, das war eine dumme Bemerkung. Tut mir leid, ich wollte mich nicht anhören wie ein Groupie, das ganz erstarrt ist vor Ehrfurcht. Aber ich hab dich hier sitzen sehen, und da wollte ich dir hallo sagen. Also ... hallo!«
Jason hatte es die Sprache verschlagen. »D-danke.«
»Tja«, meinte Dido. »Offenbar wolltest du gerade gehen. Ich will dich nicht länger belästigen. Vielleicht - hoffentlich -sehen wir uns mal wieder.«
Daraufhin erhob sie sich und blickte ihn mit ihren großen blauen Augen an. Jason schmolz dahin.
Glücklich und zufrieden entfernte sie sich. Jason sah ihr nach.
Sally McDuff brach den Bann, indem sie ihm auf die Schulter klopfte. »Gut gemacht, Romeo. Ich wusste ja gar nicht, dass du so charmant sein kannst. Lass uns mal deine Gesprächsbeiträge analysieren: >Äh ... also ... ja< und >D-danke<. Aber Kopf hoch, Mann, beim nächsten Mal klappt's bestimmt schon besser. Und jetzt komm, lass uns zum Hotel fahren und schlafen gehen. Morgen können wir ausruhen. Sonntag ist Renntag.«
Lombardi Grand Hotel Venedig II, Italien (Samstag)
Den Samstag nutzte Jason, um sich zu sammeln.
Endlich hatte er Zeit, herumzusitzen, nachzudenken und sich auf das bevorstehende große Rennen zu konzentrieren.
Da die Presse das Hotel belagerte, hielt Jason sich die meiste Zeit auf dem Zimmer auf und schaute aufs Meer hinaus.
Der Bug entspannte sich damit, dass er, ausgerüstet mit einem Headset, am Computer Autorennen »fuhr«. Sally tigerte in der Suite umher und studierte das Boxenhandbuch und das Reglement.
Am Nachmittag trafen Henry und Martha Chaser in Venedig II ein. Sie wären gern schon eher gekommen, doch Henry hatte auf der Farm zu tun gehabt. Sie blieben die ganze Zeit in der Nähe - Henry staunte über die Suite (»Mann, ist die groß!«), während Martha sich wie gewöhnlich mit Näharbeiten beschäftigte.
Gegen Mittag traf Jasons Ledermontur ein: ein nagelneuer schwarzer Rennanzug mit gelben Ziernähten an Armen und Beinen und dem Schriftzug >LOMBARDI RACING< auf der Brust. Gelbe Handschuhe, schwarze Stiefel und ein schicker gelber Helm vervollständigten die Ausrüstung. Der Bug und Sally bekamen ein ähnliches Outfit. Und dann am frühen Abend traf Jason eine schicksalhafte Entscheidung. Da er den Zimmerservice leid war, ging er nach unten, um im VIP-Restaurant zu speisen. Das exklusive VIP-Restaurant war den Bewohnern der oberen Hoteletagen vorbehalten.
Als Jason Platz nahm, bemerkte er Dido, die mit zwei Erwachsenen, wohl ihren Eltern, an einem Tisch saß.
»Dido?«, sagte er.
»Jason!« Sie kam zu ihm herüber.
»Wir wohnen ja beide im selben Hotel.«
»Ja, also, ich bin hier wegen meiner Eltern«, meinte Dido. »Sie sind, na ja, ziemlich reich. Also, ich hab den Eindruck, du möchtest allein sein und dich aufs Rennen vorbereiten, da lass ich dich wohl besser in Ruhe -«
»Nein«, platzte Jason heraus. »Ist schon okay. Du kannst ruhig bleiben. Ich meine, wenn du ... wenn du magst und falls ... deine Eltern nichts dagegen haben ... könntest du ja mit mir essen.«
Auf Didos Gesicht erstrahlte ein wundervolles Lächeln. »Mit Vergnügen. Lass mich sie schnell fragen.«
Kurz darauf saß Jason an einem großen Erkerfenster mit Ausblick auf den Canal Grande und aß zusammen mit der wunderschönen Dido Emanuele - zwei Teenager, die wie Erwachsene wirkten und bei Kerzenschein in einem der exklusivsten Restaurants der Welt speisten.
Sie unterhielten sich bis weit in den Abend hinein, und Jason genoss es in vollen Zügen. Dido war witzig, geistreich, bezaubernd und normal. Und was noch besser war, sie mochte ihn anscheinend ebenfalls! Ehe er sich's versah, hatte sich das Restaurant geleert, und sie waren die letzten Gäste. Erst als auf einmal Sally McDuff auftauchte, erwachte er aus dem tranceartigen Zustand.
»Hallo, Superstar«, sagte Sally. »Wir haben uns schon gefragt, wo du steckst. Ich dachte, du würdest vielleicht einen Spaziergang machen. Aber dafür ist es eigentlich schon ein wenig spät. Es geht nämlich schon auf Mitternacht zu.«
»Tatsächlich?« Jason sah auf die Uhr. Sally hatte recht. Es war fünf vor zwölf. »Dido, tut mir leid. Zeit für mich zu gehen. Ich muss schlafen. Morgen ist der große Tag.«
»Hey, das ist schon in Ordnung«, sagte Dido. »Tut mir leid, dass ich dich so lange aufgehalten habe. Hab gar nicht gemerkt, wie spät es ist. Danke fürs Essen.«
Jason nickte. »Nein. Ich habe dir zu danken. Hat mir wirklich Spaß gemacht.«
Er entfernte sich zusammen mit Sally.
Sally musterte ihn von der Seite. Irgendwie machte er den Eindruck, als schwebte er auf Wolken.
Sie schüttelte den Kopf. »Also, das gefällt mir so an dir. Du lernst schnell dazu. Gestern hast du dich in Gegenwart dieses Mädchens noch wie ein stammelnder Idiot verhalten, heute bist du so charmant wie der leibhaftige Casanova. Gut gemacht, Kleiner. Aber jetzt sollten wir zusehen, dass wir eine Runde Schlaf kriegen. Wie du schon gesagt hast: Morgen ist der große Tag.«
Das Italienrennen