Die Bühne für ein mörderisches Finale war bereitet.
Die Kulisse war spektakulär: Während das Meer auf der anderen Seite Italiens dunkel und rau war, leuchtete die Adria wie ein riesiger flacher Türkis.
Der letzte Abschnitt des Italienrennens war berüchtigt für seinen hohen Schwierigkeitsgrad: Einen Endspurt zur Ziellinie gab es hier nicht. Nachdem sie die Küste entlang gerast waren, mussten die Fahrer zwei tückische Strecken meistern: die engen und kurvenreichen - und nahezu identischen - Hauptkanäle von Venedig und Venedig II. Der zweite Abschnitt war so spannend, dass er einen Namen hatte: der Spießrutenlauf von Venedig II.
Das Feld donnerte die Küste hinauf, legte sich abwechselnd nach rechts und nach links in die Kurve, um die Torbögen zu durchfahren, und wirbelte eine gewaltige Gischtwolke hinter sich auf.
Roma fuhr an der Spitze und kämpfte mit Fabian um die Führung.
Dann gab es eine größere Lücke bis zur Verfolgergruppe mit Carver, Xavier, Trouveau und Riviera - dicht gefolgt von Jason.
Ihm wiederum folgte eine Gruppe, die von Kamikaze-Ideki in seinem Yamaha angeführt wurde.
Venedig kam in Sicht. Nicht Venedig II, sondern die echte Stadt der tausend Kanäle. Die Fahrer preschten um die fischförmige Insel herum und schwenkten dann wieder nach Süden - schössen von Norden her in den Canal Grande. Der Canal Grande hatte die Form eines weit geschwungenen spiegelverkehrten »S« und wurde an beiden Seiten von hohen historischen Gebäuden gesäumt.
Dann ging es dicht über dem Wasser mit hohem Tempo in die Stadt hinein; mächtige Gischtwolken aufwirbelnd, preschten sie unter der ersten von drei Brücken hindurch, die den Canal Grande überspannten, der Ponte dei Scalzi.
Die Gischtwolke verhalf Jason auf die sechste Position -Etienne Trouveau hatte bemerkt, dass Pablo Riviera zu einem Überholversuch ansetzte, deshalb senkte er den Vizir an der Ponte dei Scalzi leicht ab und schnitt Riviera, sodass seinem Gegner der Gischt ins Cockpit spritzte.
Vom Wasser geblendet, schwenkte Riviera nach links, raste unter der Brücke hindurch und schoss wie eine Rakete geradewegs auf eine Kirche aus dem 18. Jahrhundert zu -
- wo der Ferrari auf einer magnetisch »toten Zone«, dem Hoveräquivalent der Schotterstrecke, federnd zum Stehen kam. Alle venezianischen Gebäude wurden von solchen negativ geladenen toten Zonen geschützt, damit es bei einem Unfall nicht zu Beschädigungen der historischen Bausubstanz kam.
Jason - der hinter den beiden Fahrern herfuhr - lag somit auf einmal an 6. Stelle, unmittelbar hinter Etienne Trouveau.
Beide Wagen legten sich rasant in die Kurve und jagten mit nahezu 90 Grad Schräglage durch die Kurven des Canal Grande. Erst unter der Rialtobrücke mit ihren Geschäften hindurch, dann unter der Holzbrücke der Accademia - Jason nur Zentimeter hinter Trouveaus Heckflügel.
Und dann waren sie wieder auf dem offenen Meer und rasten, flankiert von Ausflugsbooten und Hovertribünen, dem Finale des Rennens entgegen: dem Canal Grande von Venedig II.
Der Argonaut II preschte über die Adria, unmittelbar vor ihm Etienne Trouveaus Renault.
Am Horizont ragte der Nachbau des großen Glockenturms von San Marco in den Nachmittagshimmel empor.
»Dort greifen wir an«, sagte Jason zum Bug.
Jason sah zu seiner Rechten den gähnenden Eingang des Canal Grande: Gesäumt wurde er von Wohngebäuden, die denen des alten Venedigs täuschend ähnlich sahen, obwohl sie nagelneu waren.
Trouveau fuhr in den Canal Grande ein.
Jason jagte ihm nach.
Schemenhafte Gebäude huschten vorbei.
Und dann versuchte Trouveau, mit Jason das Gleiche zu machen wie mit Riviera - an der neuen Ponte dei Scalzi schwenkte er unversehens nach rechts, sodass der Argonaut gegen einen Wasservorhang fuhr.
Jason aber zeigte sich der Herausforderung gewachsen - er hielt sich rechts und gab Gas, anstatt abzubremsen, wobei er der toten Zone, die die neue Ponte dei Scalzi schützte, gefährlich nahe kam. Zwischen Trouveaus Renault und dem Brückenbogen eingezwängt, legte er sich auf die Seite ...
... und kam mit 90 Grad Schräglage und kaum einem Handbreit Seitenabstand unter der Brücke hervorgeschossen -inzwischen an fünfter Position!
Trouveau fluchte erst, als Kamiko Ideki die Gelegenheit nutzte und ebenfalls an ihm vorbeizog. Das aber wollte Trouveau nicht zulassen; er rammte den Yamaha des Kamikazes von der Seite und kämpfte bis zuletzt.
Vor Jason ragte nun die schwarze, V-förmige Heckflosse von Xavier Xonoras viertplatziertem Lockheed-Martin auf, der sich soeben auf die rechte Seite legte und die weit geschwungene Rechtskurve unter der Rialtobrücke hindurch ansteuerte.
Jason stellte rasch ein paar Berechnungen an: Da nur noch zwei Kurven vor ihnen lagen, blieb nicht mehr genug Zeit, Xavier noch vor der Ziellinie einzuholen.
Das bedeutete, dass er in seinem ersten Grand-Slam-Rennen als Fünfter abschneiden würde, wenn er einen kühlen Kopf behielt - kein schlechtes Resultat. Allein ins Ziel zu kommen war schon eine Leistung, aber der fünfte Platz wäre absolut großartig. Und diesen widerlichen Trouveau zu schlagen, wäre eine noch größere Genugtuung ...
Unter der Rialtobrücke hindurch. Die Zuschauer jubelten. Venedig II huschte vorbei. Es folgte eine Linkskurve. Die Menge tobte. Unter der Accademiabrücke hindurch, anschließend wieder geradeaus, und dann ...
... kam auf einmal das Ende des Canal Grande in Sicht, die Stelle, wo er sich zu einer breiten Bucht öffnete, zur Linken flankiert vom roten Backsteinturm des Markusplatzes und zur Rechten vom großen Kuppelbau der Basilica di Santa Maria della Salute. Heute jedoch ragte zwischen den beiden imposanten Bauwerken ein über der Bucht schwebender Torbogen aus massivem Metall auf, an dem Schachbrettmusterfahnen und eine riesige Digitalanzeige angebracht waren ...
Die Ziellinie.
Jasons Miene hellte sich auf.
Das Ende war greifbar nahe. Sie hatten es geschafft. Das sollte für lange Zeit sein letztes Lächeln sein. Denn genau in diesem Moment zündete eine kleine Sprengladung, die am Heckflügel des Argonaut II befestigt war.
Die Vorrichtung war nur stecknadelgroß, für das bloße Auge kaum erkennbar.
Eine ultrakompakte Sprengladung aus Militärbeständen, Epoxysprengstoff vom Typ SDX-III. Sondereinsatzkommandos sprengten damit Türen auf. Ein Gramm reichte aus, um eine Panzertür zu zerstören - der aus Polycarbonat gefertigte Heckflügel eines Hovercars war dagegen nur ein Klacks.
Eine geschickte Hand hatte sie kurz vor Beginn des Italienrennens heimlich am Heck des Argonaut II angebracht.
Der Heckflügel des Argonaut II zerbarst in zahllose Fragmente.
Jason verlor augenblicklich die Kontrolle über den Wagen, der mit 740 km/h plötzlich absackte. Er kurbelte am Steuer -keine Reaktion.
Dann schaute er hoch, sah die Ziellinie näher kommen und hoffte einen Moment lang, sie würden es trotz allem schaffen -
- als der Horizont auf einmal dramatisch kippte, der Ferrari sich auf die Seite legte und nahezu in Rückenlage weiterraste. Damit war ihnen der Notausstieg verwehrt, und alles, was Jason sah, war die Wasseroberfläche des Canal Grande, die ihnen entgegenstürzte.
»Festhalten, Bug! Das wird schlimm!«
Es wurde tatsächlich schlimm.
Mit enormer Wucht pflügte der Argonaut II ins Wasser des großen Kanals.
Er prallte mit der Nase auf dem Wasser auf und überschlug sich dreimal, wobei Trümmerteile in alle Richtungen flogen, dann krachte er mit einem lauten Schlag aufs Wasser, kam zum Stehen und schwamm eine Weile auf dem Rücken: Die Unterseite wies himmelwärts, das Cockpit war unter Wasser.
Jeder einzelne Italiener, ob an der Rennstrecke oder zu Hause vor dem Fernseher, sprang entsetzt auf.
Die Stille der Unterwasserwelt.
Mit angehaltenem Atem schnallte Jason sich eilig los. Dann drehte er sich unter Wasser und sah, dass der Bug sich noch immer mit seinem Gurt abmühte.
Der Bug brauchte Hilfe, doch zunächst einmal musste Jason selbst Luft holen.
Er schwamm einen Meter nach oben, tauchte an die Oberfläche - und erblickte die hohen Gebäude von Venedig II am Rand des Kanals und hörte die Zuschauer jubeln, die froh waren, dass er noch lebte.
Er holte tief Luft, und da sah er sie.
Etienne Trouveau und Kamiko Ideki, wie sie gemeinsam um die letzte Kurve bogen und, sich gegenseitig anrempelnd, unter der Accademiabrücke hervorschossen.
In diesem Moment passierte es.
Trouveau setzte sich vor Ideki und vollführte sein Standardmanöver - er schnitt Ideki und rasierte ihm mit seinem messerscharfen Frontflügel den Spoiler ab.
Der Frontflügel des Japaners fiel ab und stürzte in den Canal Grande. Ideki versuchte voller Panik, das Rennen zu beenden - indem er dem sicheren Hafen der toten Zone entlang des Kanals auswich.
Stattdessen umklammerte er das Steuer und richtete seinen Yamaha gerade aus - doch er hatte nicht bedacht, wie schnell er an Höhe verlor.
Der Ernst der Lage wurde ihm zu spät bewusst.
Anders als Ideki war Jason, der noch immer Wasser trat, sofort klar, was geschehen würde.
Idekis Yamaha würde mit voller Wucht gegen den Argonaut II prallen ... und der Bug war noch immer im Wasser gefangen!
Nach Jasons Schätzung würde der Aufprall in etwa fünf Sekunden erfolgen.
Während der außer Kontrolle geratene Yamaha wie eine Lenkrakete auf den mit der Bauchseite nach oben im Wasser schwimmenden Hovercar zuschoss, holte Jason tief Luft und tauchte, um den Bug in letzter Sekunde zu befreien.
Wieder unter Wasser.
Durch die Fahrermontur in seiner Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt, näherte Jason sich dem Bug und sah, dass sich der Sicherheitsgurt seines Bruders verklemmt hatte. Er wollte sich einfach nicht öffnen.
Der Bug war in Panik - er zerrte am Schloss, aus seinem Mund drangen Schwärme von Luftblasen.
In diesem Moment tat Jason einen Blick in die Zukunft.
Die Befreiungsaktion würde länger als fünf Sekunden dauern.
Kamiko Idekis Yamaha schwirrte wie eine Gewehrkugel durch die Luft.
Kurz bevor er gegen den Argonaut II prallte, schössen zwei schemenhafte Objekte in den Himmel - die Schleudersitze mit Ideki und dessen Navigator.
Dann krachte der Yamaha, ohne abzubremsen oder auch nur geringfügig abzuschwenken, mit schockierenden 700 km/h gegen den unbeweglichen Argonaut II. Die Wucht des Aufpralls ließ die Umgebung erbeben.
Eine sich ausdehnende Explosionswolke füllte den Canal Grande über dessen ganze Breite aus.
Eine volle Minute lang regneten Trümmerteile des Argonaut II auf den Kanal herab und schleuderten zahllose kleine Wasserfontänen hoch.
Grabesstille senkte sich auf die Tribünen herab. Umberto Lombardi starrte von seiner VIP-Loge aus entgeistert auf die grauenhafte Szenerie.
Der Argonaut war verschwunden - in zahllose Fragmente zerschellt.
Und mit ihm Jason Chaser und der Bug. »O mein Gott«, flüsterte Lombardi.