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Es war gegen halb drei, als die beiden grauen Langboote durch ein schmales Seitenwehr im mächtigen Schleusentor aus dem Becken der Werfthalle glitten und sich hinaus auf die nächtliche Bay wagten. Nicht etwa schwere Ruderriemen in knarrenden Dollen, sondern schlanke Kanupaddel stachen in einem kraftvollen Rhythmus ins Wasser und trieben die schnittigen Boote fast lautlos durch die tintenschwarzen Fluten.
Die beiden Langboote waren mit den besten Männern aus der Truppe der Delta Glider besetzt, die unter Akahitos Kommando standen. Insgesamt hatten zwei Sons of Liberty, die mit den Gewässern der Bay auch bei Nacht vertraut waren, und einundzwanzig graue Drachen mit ihren Fluggeräten und Waffen in den langen, aber schmalen Booten Platz gefunden – sowie Kendira, Dante und Carson.
Sich mit der Hauptstreitmacht von der Potemkin aus am Angriff auf Tomamato Island zu beteiligen, hatten die drei Libertianer strikt abgelehnt, als sie erfahren hatten, welcher Part den Delta Glidern zugedacht war. Hartnäckig hatten sie darauf bestanden, sich Akahito und seinen Männern anschließen zu dürfen, und schlussendlich hatten sie ihren Willen bekommen – und zwei Stunden Einweisung und Trockenübungen in der Halle.
Kendira saß mit Liang an ihrer Seite im ersten Langboot. Dante saß drei Sitzbretter weiter vorn bei Akahito, und Carson eine Reihe hinter ihr.
Eigentlich hatte auch Nekia dabei sein wollen, aber dann war sie doch davor zurückgeschreckt. Dass Zeno sich lauthals darüber beklagt hatte, von allen im Stich gelassen zu werden, hatte Nekia geholfen, ihr Gesicht zu wahren und so zu tun, als wäre sie allein wegen ihm zurückgetreten. Und es war richtig, dass sie sich so entschieden hatte. Zeno konnte ihren Beistand auf der Potemkin später beim Angriff gut gebrauchen.
Zeno hatte die Bazooka für sich reklamiert und nach einem kurzen, heftigen Streit auch seinen Willen bekommen, und das mit gutem Recht. Sie hatten die modernen Waffen erbeutet, sich mit ihnen abgeschleppt und sie durch das Shadowland und den Abyss gerettet. Und da auch keiner von Major Marquez’ oder Yakimuras Männern Erfahrung mit einer Bazooka besaß, konnte auch ebenso gut er, Zeno, derjenige sein, der sie bediente.
Major Marquez und der Tai-Pan hatten vorhergesagt, dass sich in der zweiten Nachthälfte Nebel über der San Francisco Bay bilden würde, wenn nämlich genug warme Luft vom Land über das kühlere Wasser hinweggestrichen war. Die Nebelschleier würden der plumpen Potemkin ermöglichen, sich der Insel unauffällig zu nähern.
Die Vorhersagen waren eingetreten. Nebelfelder stiegen über dem Wasser auf und wogten im warmen, ablandigen Wind, der über die Bay strich.
Wind und Nebel machten die erste Etappe anstrengend und gefährlich. Die Langboote mussten im Nebel durch einen Irrgarten gesunkener Fähren, Fischerboote, Yachten, Hausboote und riesiger Kriegsschiffe, mit deren Wracks die flachen Ufergewässer übersät waren. Die Langboote durch den bizarren und von Nebelschleiern umwogten Schiffsfriedhof zu steuern, erforderte selbst von den einheimischen Lotsen, die mit den Gewässern bestens vertraut waren, höchste Konzentration und von den Mannschaften Reaktionsschnelligkeit. Und dennoch rasierten sie mehrmals nur haarscharf an verrosteten Decksaufbauten und anderen Wrackteilen vorbei, die plötzlich neben ihnen aus der milchigen Dunkelheit auftauchten.
Endlich hatten sie sich aus dem gefährlichen Schiffsfriedhof befreit. Die Langboote schlugen nun einen westlichen Kurs ein und nahmen die Überquerung der weiten Bay in Angriff. Mehr als zehn Kilometer offenes Gewässer lagen zwischen ihnen und ihrem Ziel. Und die Zeit lief.
Akahito legte ein scharfes Schlagtempo vor, denn spätestens gegen zehn vor vier mussten sie das Westufer der Bay erreicht haben, wenn sie ihren Plan nicht gefährden wollten.
Zielstrebig und kraftvoll schnitten die Boote durch die Fluten. Die Paddel stachen im Sekundentakt durch die dunkle Wasseroberfläche. Das leise Gurgeln beim Durchziehen und das Abtropfen der Blätter beim Herausziehen waren die lautesten Geräusche. Daneben war nur noch das Rauschen des Wassers zu hören, das an den schlanken Rümpfen vorbeiströmte, und der Atem der Mannschaft, der so synchron war wie die Paddelschläge und wie ein einziger sich hebender und senkender Brustkorb klang. Nur dann und wann drang ein elektronisches Knistern aus dem Sprechfunkgerät, das Akahito sich unter seinem Hemd an einer Schnur um den Hals gehängt hatte.
Um zwanzig vor vier tauchten die schemenhaften Umrisse der Türme vor ihnen aus den Nebelschleiern auf. Wie ins Wanken geratene Mahnzeichen aus Stahl und Rost erhoben sie sich in den Nachthimmel. Bis zum Ufer waren es nur noch wenige Hundert Meter.
Die Langboote korrigierten geringfügig ihren Kurs. Akahito legte kurz sein Paddel aus der Hand, griff zum Sprechfunkgerät und gab ihre Position mit einer knappen, verschlüsselten Meldung an den Tai-Pan durch.
»Wir liegen gut in der Zeit«, raunte er anschließend den Bootsbesatzungen zu. »Was aber kein Grund ist, jetzt herumzutrödeln!«
Leises Auflachen kam von den Booten.
»Sind sie das?«, fragte Kendira leise, obwohl sich die Frage eigentlich erübrigte, und schaute beklommen zu den riesigen Stahlgebilden hinauf.
»Ja, das sind die beiden nördlichen Zwillingstürme, stolze zweihundertsiebenundzwanzig Meter hoch«, antwortete Liang, während die Boote im flachen Uferwasser über sandigen Grund knirschten und die sechs bewaffneten Scouts aus ihrem Versteck erschienen. Der Tai-Pan hatte die Scouts schon bei Einbruch der Dunkelheit und mit einem Teil der Ausrüstung über die Bay geschickt, um sich zu vergewissern, dass in den Türmen und in ihrer Umgebung keine unliebsamen Überraschungen auf Akahito und seine Truppe warteten. »Die beiden Pylonen und dieses kurze Stücke Fahrbahn, das da verdreht zwischen ihnen hängt, ist alles, was von der fast drei Kilometer langen Golden Gate Bridge übrig geblieben ist.«
»Und von dort oben stürzen wir uns in die Tiefe?«, murmelte Kendira und fragte sich plötzlich, was sie bloß geritten hatte, sich am Angriff auf Tomamato Island unbedingt auf der Seite der Delta Glider zu beteiligen.
Aber die Antwort war einfach. Dante und Carson waren zuerst auf die Idee gekommen, und als sie dem Tai-Pan die Erlaubnis zur Teilnahme abgerungen hatten, hatte sie sofort dasselbe Recht für sich reklamiert. Sie hatte um jeden Preis in Dantes Nähe sein wollen, wenn der Kampf um die Reaktorinsel begann. Und das galt noch immer.
Liang grinste und schüttelte den Kopf. »Unsinn. Nicht in die Tiefe. Wir werden uns in die Lüfte erheben!«
Die knappe, aber mitreißende Ansprache von Major Marquez an die Sons of Liberty und ihre Verbündeten von den Samurai Towers war längst verklungen. Alle Lichter in der Werft waren gelöscht, an Bord des Lastkahns wie in der Trockendockhalle, und die hohen Schleusentore standen weit offen.
Sechs vollbesetzte Langboote zogen die Potemkin aus dem Becken. Für einen langen Moment schien es, als wollte der umgebaute Frachtkahn der geballten Kraft von hundertzwanzig kräftigen Männern, die sich in die Riemen legten, trotzig widerstehen. Aber dann gab die Potemkin ihren Widerstand auf und setzte sich träge in Bewegung.
Zeno und Nekia standen am Bug und verfolgten mit einer Mischung aus Bangen und unbändiger Erregung, wie der alte Lastkahn mit ihnen aus dem Trockendock glitt. Zeno presste die Bazooka an sich, als fürchtete er, sie könnte seinen schwitzigen Händen entgleiten. Neben Nekia standen die Metallbehälter mit den raketengetriebenen Granatgeschossen. Sie hatten insgesamt zwölf Geschosse zur Verfügung. Die Jachis hatten noch die Granaten mitgebracht, die sie bei ihnen hatten zurücklassen müssen.
»Es geht los«, flüsterte Zeno, eine Gänsehaut auf den Armen.
»Ja, es geht gegen Hyperion«, raunte Nekia. »Und wir sind mit dabei, Zeno!«
»Ja, Nekia«, erwiderte er mit heiserer Stimme, »heute werden wir Geschichte schreiben!«
Die enge Fahrrinne, in der sich die Potemkin auf ihrem Weg durch den Schiffsfriedhof unbedingt halten musste, wenn sie nicht auf ein dicht unter der Oberfläche liegendes Wrack auflaufen und stecken bleiben wollte, war seit Langem ausgekundschaftet. Im Schneckentempo manövrierten die sechs Langboote den Frachtkahn an den Untiefen vorbei und durch die Engstellen.
Die nächtliche Passage verlief sehr langsam, auch weil die Nebelschleier die Sicht immer wieder stark beeinträchtigten, aber ohne Zwischenfall.
Jeder an Bord und in den Langbooten atmete auf, als die letzte Gefahrenstelle hinter ihnen lag. Die schwere Maschine der Potemkin sprang an, und der Kahn schob sich nun mit eigener Kraft durch die Nacht, wenn auch nur mit stark gedrosselter Maschinenleistung.
Der Steuermann im Ruderhaus hielt auf Major Marquez’ Anweisung hin auf die Nordspitze der Reste von Treasure Island und Yerba Buena Island zu, die vor ihnen in der Bay lagen. Die kleinen Landflecken boten eine hervorragende Deckung auf der ersten Streckenhälfte hinüber nach Tomamato Island.
Äußerlich völlig ruhig und beherrscht wartete Yakimura im Ruderhaus auf Akahitos Funkspruch, sobald der mit seiner Kerntruppe die Landungsstelle am Fuß der beiden Zwillingstürme erreicht hatte.
Die Meldung kam, als Major Marquez gerade den Befehl gegeben hatte, die Fahrt der Potemkin etwas zu drosseln und im Schutz der Inseln auf den wichtigen Funkspruch zu warten.
»So, der Countdown läuft«, sagte Yakimura. »Jetzt kommt es darauf an, dass wir nicht zu früh, aber auch nicht zu spät zuschlagen!«
Major Marquez nickte mit entschlossener Miene. »Wir haben nur diese eine Chance, und wir werden sie nicht verspielen, Tai-Pan!«
Kendira stand in schwindelerregender Höhe auf der Plattform des westlichen Brückenturms, der sich auf der Meerseite der Landzunge in den Himmel erhob. Die Mannschaft des anderen Langboots hatte den östlichen, zur Bay hin gelegenen Pylon erklommen. Der warme Wind war kräftiger geworden und trieb die Nebelfelder auseinander.
Sie war in Schweiß gebadet. Der Aufstieg im Innern des Turms über ein scheinbar endloses System von rostigen Leitern, Plattformen und kurzen Metallstegen war fast so anstrengend gewesen wie die gut zehn Kilometer lange Schnell-Paddel-Partie über das offene Gewässer.
Selbst mit der sperrigen Last ihrer Ausrüstung hatten Akahito und seine Männer die Klettertour in weniger als einer halben Stunde geschafft. Nicht mal Dante und Carson, die doch beide sportlich und durchtrainiert waren, waren schneller geklettert, und dabei hatten sie erheblich weniger zu tragen gehabt.
Kendira war überrascht, wie groß die Plattformen an der Spitze der Brückentürme waren. Sie maßen vierzehn Meter in der Länge und zehn Meter in der Breite. Aber diese Fläche brauchten Akahito und seine Kameraden auch, um ihre Fluggeräte zusammenzubauen, was sie auch sofort in Angriff nahmen.
Vorsichtig näherte sie sich dem Rand der Plattform. Ihr Blick ging hinüber zur Stadtfestung Presidio, deren verschwenderisch helle Lichter durch die schwächer werdenden Nebelschleier zu ihnen aufblitzten. Nach dem Marsch durch die Trümmerlandschaft der Dunkelwelt und dem Horror des Abyss erschien ihr das glitzernde Häusermeer auf der anderen Seite als reinster, menschenverachtender Hohn.
»Ihr da drüben, die ihr weder Gerechtigkeit noch Mitleid oder Moral kennt, ihr sollt ein böses Erwachen haben!«, murmelte sie mit brennendem Zorn und ballte die Fäuste, weil sie gleich wieder an ihre Freunde denken musste, die in der Dunkelwelt ihr Leben gelassen hatten.
Und dann ging ihr Blick hinüber nach Tomamato Island. Ihr schauderte beim Anblick der dunklen, kantigen Betonklötze, die leicht versetzt zueinander auf der Felseninsel aufragten und bis nahe ans Ufer reichten. Dort unten in den Hallen der Reaktoren lauerte der Strahlentod. Ein Tod, der auch ihr zugedacht gewesen war.
Dante trat neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Es wird gefährlich werden, Kendira, sogar verdammt gefährlich. Ich wünschte, du würdest es dir noch einmal überlegen«, sagte er eindringlich. »Du kannst mit den Scouts und den beiden anderen Männern zurück, die …«
»Nein, ich komme mit«, unterbrach sie ihn. »Was wir in Liberty 9 begonnen haben, beenden wir hier – und zwar gemeinsam. Ich lasse dich nicht allein gehen … oder fliegen. Jetzt schon gar nicht!«
Augenblicke später gesellte sich Carson zu ihnen. »Ich glaube, es geht gleich los, Leute«, sagte er, und sein beschwingter Ton hatte etwas Bemühtes.
Kendira und Dante drehten sich zu ihm um.
»Also dann, guten Flug und gute Landung, Carson«, sagte Dante und streckte ihm spontan die Hand hin.
Carson schlug ein. »Ja, euch auch. Und …« Er zögerte kurz, bevor er leicht verlegen fortfuhr, »… und weil die Sache ja vielleicht anders ausgeht, als wir uns das wünschen, will ich es besser jetzt loswerden.«
»So? Was denn?«
»Meinen Dank, dass du uns die Augen geöffnet und uns zur Freiheit verholfen hast«, erwiderte Carson und drückte Dantes Hand noch einmal kräftig.
Dante winkte ab, er schien nun selbst leicht verlegen. »Ohne Jaydan wäre das nicht möglich gewesen. Dass wir frei sind, verdanken wir in erster Linie ihm.«
»Und dir!«, beharrte Carson und fügte dann mit einem schiefen Lächeln hinzu: »Es ist zwar schon ein starkes Stück, dass du, ein einfacher Servant, mich bei Kendira aus dem Rennen geworfen hast, aber ich denke, ich werde darüber hinwegkommen, ohne dass mein Selbstbewusstsein allzu sehr darunter leidet.«
Dante grinste. »Da bin auch ich ganz unbesorgt.«
»Okay, also passt gut auf euch auf!«, sagte Carson. Er ließ Dantes Hand los und drückte Kendira schnell einen Kuss auf die Wange. »Du ganz besonders, Kendira!«
Seine Geste rührte sie. »Dasselbe gilt für dich, Carson«, sagte sie bewegt und gab nun auch ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange.
Im nächsten Moment rief Akahito die drei zu sich, um ihnen letzte Instruktionen für ihren Tandemflug zu erteilen. »In zehn Minuten beginnt drüben vor der Insel der Feuerzauber! Und dann müssen wir schon in der Luft und im Anflug sein!«
Duke mischte die Karten neu. »Hör auf, ständig nervös auf die Uhr zu schauen!«, raunte er Ellis zu und schob ihm den Packen zum Abheben zu.
Ellis klopfte auf den Stoß Karten und schob ihn Duke zurück. »Aber es war abgemacht, dass wir uns um Viertel vor fünf hier in der Cafeteria treffen! Und jetzt ist es schon gleich fünf!«, stieß er leise hervor.
»Mach dich und mich nicht verrückt! Colinda und Leota werden schon gleich kommen! Außerdem haben wir noch massig Zeit. Sonnenaufgang ist erst um zehn nach sechs und die Dämmerung setzt erst eine halbe Stunde vorher ein. Also kein Grund, jetzt schon in Panik zu geraten«, sagte Duke und teilte Karten aus.
»Mann, hast du Nerven!«
Duke zuckte die Achseln. »Hast du vielleicht was Besseres vor?«
Sie hatten Becher mit Milchkaffee vor sich stehen und auf dem Tisch lagen aufgerissene Tüten mit Snacks. Es sollte so aussehen, als hätten sie nicht mehr schlafen können, sich hier in der Cafeteria getroffen und beschlossen, die Zeit bis zum Beginn ihrer Schicht mit einem Kartenspiel totzuschlagen. Vermutlich eine völlig unnötige Tarnung. Denn dass jemand in der Überwachungszentrale zu dieser Stunde auf die Monitore schaute, die die Bilder aus der Cafeteria übertrugen, war unwahrscheinlich.
Minuten später erschienen Colinda und Leota. Sie gaben sich erstaunt, dass sie offenbar nicht die Einzigen waren, die es so früh aus dem Bett getrieben hatte. Auch sie holten sich ein heißes Getränk vom Automaten und setzten sich zu ihnen.
»Habt ihr die Blätter auch in eurem Schlafsaal verteilt?«, fragte Duke.
Colinda nickte. »Stecken vor jedem Bett in den Schuhen und sind nicht zu übersehen.«
»Was ist mit dem Seil?«, fragte Leota, feine Schweißperlen auf der Stirn. »Habt ihr noch genug auftreiben können, damit es auch bis nach unten reicht?«
»Nein«, sagte Duke über den Rand seines Bechers hinweg. »Hat nicht geklappt, ist aber kein Beinbruch.«
»Was, kein Beinbruch? Du hast gut reden! Das Seil im Putzwagen ist doch bloß zwanzig Meter lang! Das reicht doch vorn und hinten nicht!« Panik schwang in Leotas Stimme mit.
»Ganz ruhig bleiben, okay?«, sagte Duke, lachte, als hätte jemand einen Witz gemacht, und teilte Karten aus. »Wir steigen hoch auf die andere Galerie und holen uns, was wir brauchen, aus dem Umkleideraum. Vermutlich ist die Tür noch nicht mal abgeschlossen. Und wenn doch, habe ich das Schloss im Handumdrehen aufgeschraubt. Was ich dafür brauche, habe ich mir schon besorgt.«
Colinda nickte. »Das Schloss ist außen nicht durch eine glatte Abdeckung gesichert. Die einfachen Kreuzschlitzschrauben halten uns bloß für ein, zwei Minuten auf. Dann sind wir drin.«
»Und da habt ihr Seile gesehen?«, vergewisserte sich Ellis skeptisch und warf eine Karte ab.
»Nein, aber eine Menge anderes Zeug, darunter auch eine lange Kleiderstange, vollgehängt mit roten Overalls frisch aus der Wäsche und schön ordentlich nach Größen sortiert«, erwiderte Duke. »Wir brauchen nur zehn, fünfzehn von den Dingern zusammenzuknoten, dann haben wir, was wir brauchen.«
»Erhabene Macht, wir sollen uns an einem Seil aus zusammengeknoteten Overalls in die Tiefe wagen?«, stieß Leota erschrocken hervor.
Duke zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. »Die Overalls sind aus solidem Stoff. Unser Gewicht halten die ganz locker aus!«, versicherte er, klatschte seine restlichen Karten auf den Tisch, als hätte er das Spiel gewonnen, und stand auf. »Aber wenn ihr lieber hierbleiben und langsam an den Strahlen krepieren wollt, könnt ihr das tun – nur ohne mich und ohne Colinda!«
Damit nahm er seinen Pappbecher mit Milchkaffee, verließ die Cafeteria und schlenderte scheinbar ganz entspannt den langen Gang hinunter, der vor der Tür zur Galerie endete. Dort rechts in der Ecke und direkt unter der Kamera stand wieder der Rollwagen mit den Putzutensilien – und mit dem Müllsack im Schrank, der zwanzig Meter Seil und einen Stahlhaken verbarg, ihren kostbaren Schlüssel zur Freiheit.
Duke wusste, dass Colinda in wenigen Augenblicken nachkommen würde. Ob auch Leota und Ellis ihnen folgten oder im letzten Moment doch noch kalte Füße bekommen hatten und es sich anders überlegten, kümmerte ihn nicht. Sie hatten ihre Chance erhalten. Wenn sie zu dumm oder zu ängstlich waren, sie wahrzunehmen, konnte er ihnen auch nicht helfen!
Kendiras Herz raste. Sie hatte den Gurtharness angelegt und den Karabinerhaken oben im Gestänge des Delta Gliders eingeklinkt. Die Maschinenpistole baumelte ihr vor der Brust, die Automatik hing ihr im Rücken. Patronenmagazine beulten die Hosentaschen ihres Overalls aus und drückten, von den über Kreuz laufenden Gurten beengt, schmerzhaft gegen ihre Oberschenkel.
Ein letztes Mal kontrollierte Liang, an dessen Seite sie sich gleich vom Brückenturm stürzen würde, den festen Sitz und die Schnallen ihrer Gurte. Carson flog mit Akahito Tandem und Dante hatte den schmächtigen Takumi als Piloten.
»Bist du bereit?«, fragte Liang, nachdem er die Handgranaten an seinem Gürtel zurechtgerückt hatte, und ergriff den dreieckigen Steuerbügel.
»Nein, nicht wirklich«, gestand sie mit belegter Stimme, »aber das wird mich nicht davon abhalten, mit dir in die Tiefe zu springen, wenn Akahito gleich das Kommando dazu gibt!«
Er lachte auf. »Hast du vergessen: Wir werden uns in die Lüfte erheben und du wirst es lieben! Zumindest den ersten Teil. Der Angriff aus der Luft wird dann wohl weniger prickelnd sein.«
Kendiras Blick suchte Dante, aber die gewaltige graue Bespannung verwehrte ihr den Blick nach hinten, wo die anderen Jachis mit ihren dicht zusammengeschobenen Fluggeräten warteten. Selbst auf einer so geräumigen Plattform wie dieser hatte immer nur einer von ihnen Platz genug, um vor dem Absprung einige Schritte Anlauf zu nehmen, betrug die Spannweite der Fluggeräte doch sechzehn Meter.
»Liang, Abflug!«, gab Akahito nach einem kurzen Funkkontakt mit der Potemkin das Startkommando. »Hals und Beinbruch! Wir sehen uns auf Tomamato Island, Männer!«
Wie in Trance griff jetzt auch Kendira nach der Stange, umklammerte sie krampfhaft und rannte im Gleichschritt mit Liang auf die Nordkante der Turmplattform zu. Das Blut rauschte in ihren Ohren, und das Herz jagte so wild, als wollte es ihr jeden Moment den Brustkorb sprengen.
Das also ist das Ende! Wir werden in die Tiefe stürzen!, hämmerte es in ihrem Schädel. Das bisschen Stoff, Draht und Gestänge kann uns niemals in der Luft halten!
Der zweihundertsiebenundzwanzig Meter tiefe Abgrund flog auf sie zu.
»Jetzt!«, rief Liang. »Nach vorn den Körper! Gestreckt!«
Kendira warf sich im Gurtharness nach vorn, als der Boden unter ihr wegsackte, streckte sich dabei, wie sie es in der Werfthalle geübt hatten, und unterdrückte den gefährlichen Impuls, sich an der Stange festhalten zu wollen und sie dabei an sich zu reißen. Sie war der felsenfesten Überzeugung, dass sie wie ein Stein in die Tiefe stürzen würden.
Aber der tödliche Absturz blieb aus.
Fast lautlos glitten sie durch die Luft, und als Liang wie erhofft gleich hinter dem Turm auf eine Thermik traf, gewannen sie sogar an Höhe.
Die Angst verließ sie noch nicht ganz, aber die Faszination und das Staunen bekamen in ihr schon die Oberhand. Und als sie unter sich schaute, sah sie, wie sich ein Delta Glider nach dem anderen von den Türmen in die Lüfte schwang. Es sah so aus, als stieg ein Schwarm grauer Drachen von den Pylonen auf. Ein Schwarm, der sich rasch sammelte und dann in breiter Formation Kurs auf Tomamato Island nahm, um Feuer und Tod auf Hyperions Söldner niederregnen zu lassen!
Die Potemkin hatte sich Tomamato Island bis auf einen knappen Kilometer genähert, als die Nebelschleier keinen hinreichenden Sichtschutz mehr boten, die wenigen über das Wasser wandernden Suchscheinwerfer der Islander den Frachtkahn erfassten und auf der Felseninsel die Alarmsirenen losschrillten. Nun flammte eine ganze Batterie von Scheinwerfern auf. Und aus den Lautsprechern, die in großer Höhe an Betonwänden, Galerien und Außentreppen angebracht waren, schallten harsche Befehle über das Wasser und bis weit in die Dunkelwelt und nach Presidio hinein. »Drehen Sie sofort aus der Sperrzone ab oder wir eröffnen das Feuer!«
Major Marquez stand mit dem Tai-Pan an Steuerbord auf der Brückennock, dem nicht überdachten Teil des Ruderhauses. Yakimura verfolgte durch das Fernglas den Anflug seiner grauen Drachen. Sie näherten sich ihrem Ziel in zwei hintereinander liegenden winkelförmigen Formationen und lagen genau im Zeitplan. In wenigen Minuten würden sie auf die Atominsel herabstürzen und den Wachmannschaften auf den Dächern buchstäblich in den Rücken fallen.
»Geben wir es ihnen, Major!«, sagte der Tai-Pan kühl.
»Ja, lassen wir uns nicht um die Genugtuung bringen, zuerst das Feuer eröffnet zu haben«, erwiderte der Major und gab das Kommando zum Angriff, indem er die Schiffssirene aufheulen ließ.
Zeno und Nekia, die ganz vorn unter dem Schutz der vorgewölbten Bugnase kauerten, fuhren erschrocken zusammen, obwohl sie mit dem Sirenengeheul gerechnet hatten. Aber nun drang es ihnen doch durch Mark und Bein.
»Himmel, hoffentlich haben wir uns nicht zu viel zugetraut!«, stieß Nekia hervor. »Ich habe jetzt doch ziemlich Angst!«
Zeno schluckte krampfhaft. »Meinst du, ich nicht? Aber wir wollten es ja so, und jetzt ziehen wir es auch durch, okay?«, beschwor er sie und zugleich auch sich selbst. »Wir packen es, Nekia! Was die anderen dort können, können wir auch!« Dabei deutete er auf die Hundertschaft Sons of Liberty, die an Steuerbord hinter der erhöhten Reling gekauert hatten und nun auf die Beine sprangen. Viele von ihnen waren nicht älter als sie. Eine weitere Hundertschaft wartete unter Deck auf ihren Einsatzbefehl.
Mit einem schnellen Griff schoben die Sons of Liberty die schmalen Metallplatten zur Seite, mit denen die Schießscharten in der erhöhten Stahlwand getarnt gewesen waren, brachten ihre Waffen in Anschlag und eröffneten das Feuer.
Gleichzeitig klappten rechts und links von den scheinbaren Bretterhütten sechs Stahlluken auf. Aus ihnen fuhren mechanische Katapulte mit schweren Blattfedern hervor, die auf einer drehbaren Scheibe montiert waren. Am Ende eines jeden Hebelarmes saß eine querlaufende Platte mit drei kreisrunden Vertiefungen. In den Öffnungen steckten Eimer. Die Flamme einer einfachen Pechfackel fuhr über die offenen Eimer hinweg und setzte die Flüssigkeit in Brand, mit der die Feuertöpfe gefüllt waren. Und dann flogen sie auch schon von den Katapulten.
Die meisten Eimer landeten auf dem felsigen Ufer und vergossen dort ihr flüssiges Feuer, zum Entsetzen der Wachposten, die auf dieser Seite Dienst taten. Drei Feuertöpfe zerplatzten an einer der dicken, hohen Betonwände und wie ein Wasserfall aus Feuer floss die brennende Flüssigkeit die Wände hinunter.
Die anderen Feuertöpfe der ersten Salve trafen die Anlegestelle, wo mehrere Motorboote und eine Barkasse vertäut lagen. Sie brannten sofort lichterloh und sogar aus dem Wasser schienen die Flammen an ihren Rümpfen hochzulecken. Schon beeilten sich die Mannschaften der Katapulte, sie wieder zu spannen und mit neuen Feuertöpfen zu laden.
»Dem Himmel sei Dank, dass wir letzten Winter das Chemielager mit all dem Phosphor gefunden haben!«, schrie Major Marquez gegen den lauten Gefechtslärm an, während die Potemkin mit voller Maschinenkraft auf das Ufer zuhielt, wo rechts von der brennenden Anlegestelle eine eiserne Treppenanlage bis hinauf auf das oberste Dach des dritten Betonblocks führte.
Fast im selben Moment, als die Luken geöffnet wurden und die Katapulte zum Vorschein gekommen waren, flogen die Dächer von den Bretterhütten – und diese scheinbar primitiven Unterkünfte erhoben sich in die Höhe. Denn in Wirklichkeit handelte es sich um Hebebühnen mit Wänden aus Stahl, deren Bemalung nur das Bild einer Bretterhütte täuschend echt vorgegaukelt hatte.
Das Ziehharmonikagestänge, das fest im Boden der Frachträume verankert war, begann sich aufzurichten und die drei mit Scharfschützen besetzten Hebebühnen immer höher zu schrauben. Hinter den Männern hingen schmale, anderthalb Meter lange Segmente aus Aluminium, die sich zu einem Steg, einer primitiven Landungsbrücke zusammensetzen ließen.
Maschinengewehrgarben strichen von den Dächern der Reaktorblöcke über die Schießschartenreling und über das Deck der Potemkin hinweg. In den ohrenbetäubenden Gefechtslärm mischten sich die Schreie der Verwundeten und tödlich Getroffenen.
Die Langboote mit den todesmutigen Landungstruppen hielten sich noch im Schutz des Hecks und auf der Backbordseite. Noch war die Zeit für die Erstürmung der Ufer nicht gekommen.
Über Presidio stiegen Hubschrauber auf und aus dem von hohen Festungsmauern umschlossenen Hafenbecken schossen schwer bewaffnete Schnellboote hervor.
»Gleich wird es sich entscheiden!«, stieß Major Marquez mit heiserer Stimme hervor, als er die drei Helikopter vor der Lichterkulisse von Presidio ausmachte und sie Kurs auf die Potemkin nehmen sah.
»In der Tat!«, kam es von Yakimura, der das Fernglas auf den Schwarm seiner grauen Delta Glider gerichtet hatte. »Gleich bricht über Tomamato Island die Hölle los!«
Duke hatte den Haken schon gleich mit dem ersten Wurf hinter das Geländer gebracht. Gerade verknotete er das straff gespannte Seil, als die Suchscheinwerfer auf einem plötzlich aus den Nebelschleiern auftauchenden Frachtkahn kleben blieben, schrille Sirenen die Stille der Nacht zerrissen und es innerhalb von Sekunden zu einem Gefecht zwischen der Besatzung des Kahns und den Wachmannschaften kam.
Zu Tode erschrocken warfen sie sich auf den Boden der Galerie. »Die greifen uns an!«, schrie Ellis entsetzt.
»Nein, sie greifen nicht uns an, sondern Hyperion und unsere Oberen!«, schrie Duke zurück.
Leota sprang in kopfloser Panik auf. »Wir müssen zurück ins Gebäude!«, gellte sie.
Colinda bekam sie gerade noch rechtzeitig zu fassen und zerrte sie brutal zurück. »Bist du lebensmüde? Da drin sind wir gefangen und es wartet nichts als der sichere Tod auf uns!«
»Genau!«, stieß Duke hervor und hob vorsichtig den Kopf. »Wir müssen jetzt so schnell wie möglich nach oben auf die Galerie. Wer immer die Angreifer sind, ich habe keine Lust, hier untätig abzuwarten, ob sie auch gewinnen und uns freilassen.«
Ungläubig starrte Ellis ihn an. »Du willst dich noch immer abseilen? Du musst verrückt sein!«
»Nicht verrückter, als nichts zu tun und bloß darauf zu hoffen, dass mit dem Angriff auch unsere Rettung kommt! Aber mach, was du willst, ich bleibe jedenfalls bei unserem Plan!«, erwiderte Duke, richtete sich vorsichtig auf und sah sich hastig um. Alle Scheinwerfer konzentrierten sich auf den langen Kahn, der inzwischen in einem spitzen Winkel auf das südwestliche Ufer der Insel zuhielt und schon aus ihrem Blickfeld zu verschwinden begann. Die Gedanken jagten sich hinter seiner Stirn. »Mann, Leute, hier bei uns fliegt keine einzige Kugel durch die Luft! Das Gefecht findet auf der anderen Seite statt und das macht alles noch viel einfacher! Keiner wird auf uns achten, wenn wir uns hier auf der dunklen Ostseite abseilen! Wartet hier, ich hole die Overalls!« Damit kletterte er aufs Geländer, zwängte sich durch die Lücke und hängte sich ans Seil.
Die Mannschaften an den Katapulten schleuderten so schnell sie konnten einen Dreierset Feuertöpfe nach dem anderen dem Feind entgegen. Doch sie zielten nicht länger allein auf den langen Uferstreifen von Tomamato Island, sondern sie ließen die Feuertöpfe in einem weiten Fächer über die gut zwei Kilometer breite Wasserfläche zwischen der Insel und dem Festland niederregnen. Der Phosphor brannte auf dem Wasser weiter und verwandelte die Ufergewässer in ein hell loderndes Flammenmeer, das sich immer weiter in Richtung Presidio ausbreitete. Zwei der von dort heranjagenden Schnellboote wurden direkt getroffen und verwandelten sich im Handumdrehen in schwimmende Fackeln. Die anderen drehten ab und schlugen einen weiten Bogen um das Flammenmeer.
Die Besatzungen der Schnellboote sahen auch keinen Grund, sich tollkühn einen Weg durch die Feuerbarrieren zu suchen. Die drei Helikopter, die sich über ihnen im Anflug befanden, würden den massiven Angriff, der von dem alten Kahn ausging, mit ihren schweren Geschützen zurückschlagen und die Feinde Hyperions auf den Grund der Bay schicken.
Doch Zeno machte ihnen mit Nekias Hilfe einen Strich durch die Rechnung.
Der Major gab ihnen wie verabredet von der Brücke her das Zeichen, als die Helikopter nahe genug hergekommen waren. Zweimal ließ er die Schiffssirene kurz aufheulen.
»Jetzt!«, schrie Zeno sich selbst zu, richtete sich auf, legte das geladene Rohr in die Rundung der Schießscharte, die man gestern noch extra für die Bazooka vergrößert hatte, und suchte sein Ziel. Er nahm den links auf sie zufliegenden Helikopter ins Visier. Alle drei Chopper hatten unterdessen das Feuer eröffnet. Ein fürchterlicher Kugelhagel fegte über die Potemkin hinweg und brachte Tod und Vernichtung.
»Das ist für Fling und Flake!«, brüllte er, um seine Todesangst zu überschreien, und drückte ab.
Unter lautem Fauchen jagte das raketengetriebene Geschoss aus dem Rohr, stieg in den Himmel auf und durchschlug die Pilotenkanzel des linken Hubschraubers.
Der Helikopter verwandelte sich in einen blendend grellen Feuerball.
Wilder Jubel übertönte kurz das Feuergefecht.
Mit verzerrtem Gesicht wirbelte Zeno mit der Bazooka auf der Schulter zu Nekia herum. Sie hielt schon die zweite Rakete in der Hand und ließ sie ins Rohr fallen.
Zeno schwenkte mit der Bazooka herum. »Das ist für Hailey!«, schrie er und richtete die Waffe auf den Helikopter, der gerade noch in der Mitte der Formation geflogen war. Der Pilot hatte seine Maschine nach links und zugleich steil nach oben gezogen, weg von dem Feuerball und den herumfliegenden brennenden Trümmern.
Die Granate flog durch die offene Seitentür, explodierte und riss den Helikopter in Stücke. Dem dritten Chopper wäre sein Ausweichmanöver vermutlich noch gelungen, wenn sein Abstand zur Explosion größer gewesen und sein Hauptrotor nicht von durch die Luft fliegenden Trümmern getroffen worden wäre. So blieb Zeno Zeit genug, um nachzuladen und auch dem unkontrolliert herabtaumelnden dritten Helikopter den Todesschuss noch mitten in den stählernen Leib zu setzen, kurz bevor der Hubschrauber am Nordwestende der Insel auf dem Felsenufer aufschlug und zur Feuersäule wurde.
»Und das war für Marco!«, schrie Zeno, lud in fieberhafter Hast nach und feuerte auf eines der Schnellboote.
Während sich auf der Südseite der Felseninsel die Bay in ein Flammenmeer verwandelte und sich die drei Helikopter in rascher Folge in gleißende Feuerbälle verwandelten, rauschten von Norden die grauen Drachen in zwei Wellen heran.
Die Wachmannschaften unten auf dem Uferstreifen waren schon arg dezimiert, und die Landungstruppen in den Langbooten, die nun hinter der Potemkin hervorschossen, würden diese Islander im Nahkampf aufreiben.
Aber die von Betonblöcken gut geschützten Stellungen auf den Dächern der Reaktorgebäude, die mit Maschinengewehren bestückt waren, ließen sich selbst von den voll hochgefahrenen Hebebühnen aus nicht ausschalten. Auch kam die Potemkin nicht nahe genug ans Ufer heran, um die zusammensteckbaren Landungsbrücken einsetzen zu können. Der Widerstand, der von den Maschinengewehrnestern ausging, war deshalb erbittert und von tödlicher Wirkung.
Wie Raubvögel stürzten die Delta Glider nun aus der Höhe auf diese Stellungen herab. Der Glider, unter dem Kendira mit Liang hing, gehörte zur zweiten Welle, die der ersten mit etwa hundert Metern Abstand folgte.
Zugleich schaudernd und fasziniert starrte sie hinunter auf das flammende Inferno, das sich innerhalb weniger Sekunden vor ihren Augen entfaltete, begleitet von dem ohrenbetäubenden Lärm aus Hunderten von Schusswaffen.
Und dann erfolgte auch schon der Angriff der ersten Welle. Die grauen Drachen vor ihnen legten sich in eine atemberaubend steile Linkskurve und flogen keine zwanzig Meter über die Stellungen auf den Dächern hinweg. Die ersten Jachis warfen Blendgranaten ab.
Liang warnte sie rechtzeitig. »Augen zu!«, brüllte er, als er die Blendgranaten fallen sah.
Kendira war vorgewarnt und kniff sofort die Augen zusammen.
Die Kette der dicht aufeinanderfolgenden Detonationen klang wie das Krachen einer Serie von himmelspaltenden Blitzen, die in unmittelbarer Nähe einschlugen. Die Explosionen der Granaten, die von den nachfolgenden Jachis abgeworfen wurden, hörten sich dagegen vergleichsweise dumpf und harmlos an, was sie natürlich nicht waren. Der Angriff aus der Luft hatte eine verheerende Wirkung, schaltete die Maschinengewehrnester jedoch nicht gänzlich aus.
Feuergarben aus mehreren Maschinenpistolen und Handfeuerwaffen stiegen in den Himmel auf, während die erste Welle über die Insel hinausschoss und ein weiteres riskantes Kurvenmanöver flog, um in einer engen Flugschleife zum lang gestreckten Gebäudekomplex zurückzukommen und auf den Dächern zu landen, bevor sie zu viel Höhe verloren und unten am Ufer aufsetzen mussten.
Die Kugeln der Islander zerfetzten die Bespannung von zwei Delta Glidern, die augenblicklich ins Trudeln gerieten und wie Steine in die Tiefe stürzten.
Kendiras Blick suchte Dante, fand ihn jedoch nicht. Sie hatte den Überblick verloren. Waren Takumi und er nicht gerade noch links von ihnen gewesen? Oder hatten sie bei dem letzten scharfen Schwenk eine andere Position in der Formation eingenommen?
»Bereit zur Landung!«, schrie Liang, zog die Steuerstange zu sich heran, worauf der Glider steil nach unten abkippte, und folgte den anderen von der zweiten Welle.
In halsbrecherischem Sturzflug ging es die letzten fünfzig, sechzig Meter hinunter – mitten hinein in den Kugelhagel, den ihnen Islander aus zwei Stellungen entgegenschickten.
Kendira schrie vor Todesangst. Nichts konnte diesen Sturz mehr aufhalten! Sie würden auf dem Beton der Dächer zerschellen, aufschlagen wie reife Tomaten!
Ein grauer Drache, der etwas tiefer und zu ihrer Linken flog und gerade zur Landung ansetzte, wurde von einem Feuerstoß getroffen. Die Bespannung verwandelte sich blitzschnell in Dutzende von wild im Wind flatternde Fetzen. Das Fluggerät sackte sofort ab, krachte mit abknickendem Flügelgestänge gegen die Dachkante – und verschwand dahinter in der Tiefe.
Dante? Nicht Dante!, schrie es entsetzt in Kendira auf, gefolgt von dem Gedanken, dass sie gleich im Tod vereint sein würden, wenn das wirklich Takumi und Dante gewesen waren, denn in ein, zwei Sekunden würde der Aufprall auf dem Dach des Reaktors auch ihr Leben beenden.
Während draußen der Kampf tobte, riss Duke in fliegender Hast Overalls von der Kleiderstange und warf sie Colinda zu. Sie hockte vor der Tür am Boden und hatte schon damit begonnen hatte, die ersten Overalls miteinander zu verknoten. Sie war ihm nach kurzem Zögern hinterhergeklettert, weil sie wusste, dass er Hilfe brauchte.
Plötzlich zersplitterte das Fenster rechts neben der offenstehenden Tür zur Galerie. Stangen, Stofffetzen und eine leblose, blutüberströmte Hand ragten durch den Fensterrahmen in den Raum hinein.
Colinda schrie entsetzt auf und sprang zurück.
Auch Duke fuhr zusammen und starrte auf das Fenster. Das Stangengebilde bewegte sich zwischen den Glasscherben, ruckte weiter hoch, und der Kopf eines Mannes tauchte über dem Fensterbrett auf. Der Mann trug ein breites Lederband mit Goggles um den Kopf. Das rechte Glas war zertrümmert. Die Kugel musste ihn auf der Stelle getötet haben, wie der aufgerissene Hinterkopf unschwer erkennen ließ. Aber dennoch bewegten sich Körper und verbogenes Gestänge!
Jemand fluchte draußen auf der Galerie.
Etwas Metallisches polterte laut auf die Gitterroste des Bodens. Und dann taumelte eine Gestalt mit blutverschmiertem Gesicht und einer Maschinenpistole in den Händen durch die Türöffnung.
Duke stieß einen erstickten Schrei aus, wich unwillkürlich vor der Gestalt zurück und starrte sie mit ungläubiger Fassungslosigkeit an. Im ersten Moment glaubte er tatsächlich, einen Geist vor sich zu sehen.
»Ich kenne dich!«, stieß er dann hervor. »Du … du bist doch der Servant Dante!«
»Es gibt keine Servanten mehr, Duke«, erwiderte Dante, lehnte sich an den Türrahmen, wischte sich das Blut vom Gesicht und rang nach Atem. »Aber bevor ich dir das erkläre, wäre uns allen besser damit gedient, wenn du mir sagen würdest, wie man von hier aus nach oben aufs Dach – oder besser noch in die Kommandozentrale dieser verdammten Reaktorinsel kommt!«
Dukes Blick ging zu einem Hängebrett neben der Tür, von dessen Haken ein halbes Dutzend Chipkarten baumelte. »Ich nehme mal an, einer der Gänge hinter der Tür dort führt bestimmt nach oben in die Schaltzentrale. Und mit diesen Chipkarten kann man alle Türen öffnen, die mit Lesegeräten gesichert sind.«
»Dann wollen wir doch mal dafür sorgen, dass der tapfere Takumi nicht vergebens gestorben ist«, sagte Dante mit Blick auf den toten Drachenflieger, stieß sich von der Tür ab und riss eine der Chipkarten vom Hängebrett.
Erst jetzt löste sich Colinda aus ihrer Schockstarre. »Was … was tust du hier?«, stieß sie entgeistert hervor. »Und was hat der Angriff von dem Kahn da unten zu bedeuten?«
Dante verzog das Gesicht. »Das seht ihr doch, wir erobern Tomamato Island, um euch zu befreien. Und nun entschuldigt mich, geschätzte Electoren«, sagte er bissig. »Ich muss jetzt zur Kommandozentrale und dann wieder Anschluss an meine Kameraden finden!«
»Ich komme mit!«, bot Duke sofort an.
»Gut!«, sagte Dante knapp, zog seine Automatik aus dem Halfter, lud sie durch und drückte sie ihm in die Hand. »Das Ding ist echt, okay?«
Duke schluckte und nickte nur.
»Und frag nicht erst lange, wenn es brenzlig wird, sondern drück ab. Das hier ist kein Fun Ride in der Tube, den du beliebig oft wiederholen kannst, wenn du ihn vermasselt hast! Hier stirbst du wirklich, wenn du nicht schnell genug bist und nur Löcher in die Luft ballerst! Und jetzt komm, du willst doch bestimmt nicht die Highlights deiner eigenen Party verpassen!«, spottete er, stieß die Tür auf und stürmte mit der MP im Anschlag den hell erleuchteten Gang hinunter.
Der tödliche Aufprall, den Kendira für unvermeidlich gehalten hatte, blieb wie durch ein Wunder aus. Denn Liang stieß, wie seine Kameraden zu beiden Seiten, wenige Meter über dem Boden die Steuerstange abrupt von sich. Der Glider reckte seine spitze Nase fast senkrecht in den Himmel, und die sechzehn Meter Bespannung des Gliders wurden bis an die Grenze zum Zerreißen beansprucht, als sich die Luft mit einem gewaltigen Andruck gegen die Flügel presste – und ihren Sturz abbremste.
Liang stolperte mit ihr drei, vier Schritte über den Boden. Dann kippte der Glider, von Kugeln am Gestänge getroffen, zur Seite weg, schleuderte sie zu Boden und riss sie mehrere Meter mit sich.
Begraben unter Gestänge und Stoff, kämpfte Kendira gegen die Panik an, die sie zu überwältigen drohte. Um sie herum wurde geschossen, explodierten Handgranaten, gellten Schreie auf und schrien sich Liangs Kameraden Kommandos zu. Sie zerrte sich die Goggles von den Augen und tastete im Dunkeln verzweifelt nach dem Karabinerhaken.
Liang schrie ihr etwas zu. Aber irgendwie verstand sie nicht, was er ihr ins Ohr brüllte. Sie spürte seine Hände, die an ihr zerrten und sich an ihrem Gurtharness zu schaffen machten. Dann stieß sie plötzlich auf den Karabinerhaken. Sie klickte sich aus der Aufhängung, kroch unter dem Fluggerät hervor und merkte plötzlich, dass Liang ihre Schnallen geöffnet hatte und der Gurtharness von ihr rutschte.
Auf der anderen Seite kam Liang zum Vorschein. Er grinste schief. »Keine schlechte Landung, oder?«, rief er ihr zu, aus zwei Schürfwunden am Kopf blutend. »Wir nennen das die Kamikaze-Landung. Muss man schon ein paarmal geübt haben, um sie richtig hinzukriegen.« Er zwinkerte ihr zu.
Kendira verstand nicht, wie er jetzt einfach so Witze machen konnte. Sie riss sich die Maschinenpistole von der Schulter und wollte in den Kampf um die letzten Dachstellungen eingreifen, die noch von Islandern verteidigt wurden.
Aber dann wurde sie sich unvermittelt bewusst, dass keine Schüsse mehr krachten und auch sonst kein Gefechtslärm mehr zu hören war. Es gab keine Islander mehr, die Widerstand leisteten. Sie waren entweder tot oder hatten sich ergeben.
Der Kampf um Tomamato Island war vorbei.