TOMAMATO ISLAND
Das Handtuch, das Colinda um die Gitterstange gelegt hatte und das über Dukes Hand mit der Feile fiel, dämpfte die scharfen, sägenden Geräusche darunter beträchtlich. Dennoch erschienen sie ihr in der Stille der Nacht immer noch viel zu laut. Ihr war, als müsste man auf der ganzen Insel hören, wie sich über dem Handlauf des Geländers die Zähne des Feilenblatts durch das Metall fraßen.
»Dauert es noch lange?«, flüsterte sie nervös.
»Hab’s gleich«, beruhigte er sie. Zum Glück bestand das Gitter nicht aus soliden Stahlstangen, sondern nur aus Rohrgestänge. Oben an der Wand war die Strebe schon durchtrennt.
»Hätte mir nie träumen lassen, dass ich mal nachts um drei hier auf der Galerie stehen und dir bei einer Aktion helfe würde, bei der wir Kopf und Kragen riskieren!«
Er hob kurz den Kopf und grinste. »Sag bloß, das ist es nicht wert, um endlich den Lichttempel zu sehen?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie, um dann mit einem schiefen Lächeln einzuräumen: »Obwohl das natürlich verlockend ist.«
»Und was riskieren wir denn schon? Im schlimmsten Fall einen Anschiss und vielleicht ein paar Strafschichten oder einen zusätzlichen Kontrollgang durch den zerstörten Meiler.«
Sie verzog das Gesicht. »Was ja wohl schlimm genug wäre. Also sieh zu, dass du …«
»Schon geschehen!«, fiel Duke ihr ins Wort. »Ich bin durch.«
Sie gab einen Seufzer der Erleichterung von sich. »Na endlich!«
Er knickte das Gitterrohr über dem Knie so eng wie möglich zusammen. Colinda nahm es ihm ab und wickelte es in das Handtuch. Später würden sie es durch den Abfallschacht in der Cafeteria mit anderem Müll verschwinden lassen.
Duke holte aus seiner Overalltasche ein Stück Schmirgelpapier hervor und glättete die scharfen Schnittkanten. Anschließend rieb er eine Mischung aus Dreck, Roststaub und altem Maschinenöl auf die Stellen, wo blankes Metall zu sehen war, das sich vom Rest des Gestänges abhob. »So, jetzt sieht es so aus, als wären das schon uralte Schnittstellen – wenn es denn überhaupt jemandem auffällt, dass hier an der Wand ein Gitterrohr fehlt, was ich bezweifle.«
»Du scheinst wirklich an alles gedacht zu haben«, sagte Colinda. Es klang anerkennend, ja fast bewundernd.
Er schwieg verlegen, wischte das Geländer um die Stellen herum sorgfältig ab und bückte sich dann nach dem schwarzen Müllsack. Darin befanden sich zwei Nylonseile und der dreifache Stahlhaken, den er in einer alten Werkstatt zusammengeschweißt hatte, die fast nur noch als Abstellraum für eine Vielzahl alter, ausrangierter Gerätschaften benutzt wurde. Was wohl auch ein Grund war, warum man dort eine schon seit Langem ausgefallene Kamera nicht durch eine neue ersetzt hatte. Er hatte den Stahlhaken dick mit schwarzem Isolierband umwickelt, damit es nicht laut schepperte und klirrte, wenn nachher Stahl auf Stahl schlug.
Seile und Haken hatten sie im Schrank von einem der beiden Rollwagen, die mit allerlei Putzutensilien bestückt waren und von denen einer ständig irgendwo herumstand, versteckt und durch die Gänge transportiert. Sie hatten den Putzwagen schon am Abend scheinbar zufällig neben der Tür zur Galerie abgestellt – und damit direkt unter der dort in der Ecke hängenden Kamera, die selbst mit einem Weitwinkelobjektiv nicht erfassen konnte, was sie da vorhin aus dem Schrank geholt und mit hinaus auf die Galerie genommen hatten.
Duke knotete ein Ende des kürzeren Nylonseils zu einer Sicherheitsschlaufe, die er sich unter den Achseln hindurch um den Oberkörper legte. Das andere Ende befestigte er am Geländer. Der Rest war gerade noch lang genug, um auf dem Handlauf aufrecht stehen zu können, ohne dass sich das Seil zu sehr spannte.
Das zweite Seil mit dem dreifachen Haken an einem Ende hatte eine Länge von zwanzig Metern. Eine Reihe von dicken Knoten in einem Abstand von zwanzig bis dreißig Zentimetern, die beim Klettern für sicheren Halt und bessere Griffigkeit sorgen würden, durchzog das Seil.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum das Seil so lang sein muss«, wunderte sich Colinda. »Bis zu der Galerie dort an der Ecke sind es doch höchstens sieben Meter. Also wozu die dreifache Länge?«
»Weil ich den Haken nach dem Zurückklettern sonst nicht wieder von da oben loskriegen würde. Vorher muss der Haken wieder hier unten sein und das Seil dort oben um die Geländerstange laufen. Das Seil muss quasi eine Art von Endlosschleife bilden, die wir dann von hier aus lösen und einziehen können«, sagte Duke und zwinkerte ihr zu, während er das freie Ende des Seils mehrmals locker um die Geländerstange wickelte und ihr erklärte, was sie gleich zu tun hatte.
Colinda schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Na klar, schon kapiert!«
Der Spalt, den er durch die herausgesägte Strebe geschaffen hatte, war nicht viel breiter als eine Unterarmlänge. Aber er genügte, um sich hindurchzuzwängen.
Colinda reichte ihm das Kletterseil mit dem Haken an.
Vorsichtig balancierte er bis zur vorderen Kante der Galerie, denn von der Wand aus war der Winkel viel zu spitz, um das Geländer der oberen Galerie mit dem Haken zu treffen. Das konnte ihm von der Gitterlücke aus nur durch einen Glückswurf gelingen – nach wer weiß wie vielen erfolglosen Versuchen. Aber den Haken viele Dutzend Mal hochzuwerfen und auf einen Glückstreffer zu hoffen, verbot sich von selbst. Wo sich eine Galerie befand, musste es auch eine Tür geben und dahinter Räume. Seinen Haken immer wieder gegen das Geländer knallen zu lassen, war deshalb der sicherste Weg, um die Aufmerksamkeit von irgendwelchen Oberen zu erregen und auf frischer Tat ertappt zu werden.
Tief unter ihm brandeten die Wellen gegen die felsigen Ufer der Insel. Es machte ihm jedoch nichts aus, in den gähnenden Abgrund zu blicken. Er war schwindelfrei – und außerdem erfüllt von der Vorfreude, in wenigen Minuten endlich den Lichttempel sehen zu können.
Als er die äußere Kante erreicht hatte, hielt er sich mit der linken Hand an einem Gitterrohr fest und beugte sich mit dem Oberkörper so weit als möglich vor. Dann nickte er Colinda zu, damit sie jetzt wie besprochen mehrere Meter Seil nachgab. Als er meinte, mit dem Haken genug Schwung erzeugt zu haben, schleuderte er ihn hinauf zum kurzen Seitengitter der oberen Galerie.
Der Haken verfehlte das Geländer um einen guten Meter, fiel in die Tiefe und pendelte aus.
»Das war wohl ein bisschen zu zaghaft«, raunte er Colinda über die Schulter zu, während er das Seil einholte, bis der Haken nur noch einen knappen Meter zum Schwingen hatte.
»Immer noch besser, als wenn er gegen das Gitter geknallt wäre.«
»Was noch kommen kann.«
Tatsächlich schlug der Haken beim zweiten Versuch gegen die seitlichen Gitterstäbe. Dank der dicken Umwicklung mit Isolierband gab es jedoch kein helles Scheppern von Metall auf Metall, sondern nur ein dumpfes, polterndes Geräusch – das sich beim dritten Versuch wiederholte, glücklicherweise weiterhin ohne Folgen.
Der vierte Wurf jedoch gelang. Der Haken flog ein gutes Stück über das Geländer und schlug auf dem Gitterrost des Bodens auf. Als Duke das Seil vorsichtig einholte, legten sich zwei der drei Haken wie gewünscht um die Geländerstange.
»Na also, warum nicht gleich so!« Duke grinste stolz und überließ das Seil für einen Augenblick Colinda. »Halt das Seil jetzt bloß stramm, damit sich der Haken nicht lösen kann.«
»Ich halte es so stramm, dass es gleich zu singen beginnt!«
Duke lachte leise, kletterte zurück zur Lücke, zwängte sich hindurch und befreite sich von der Sicherheitsleine. Dann knotete er das Seil ans Rohr, aber so, dass Colinda keine großen Schwierigkeiten hatte, den Knoten gleich wieder zu lösen.
»Warte!« Colinda hielt ihn zurück, als er Anstalten machte, wieder auf das Geländer zu steigen, um sich nun an dem straff gespannten Seil zur anderen Galerie hinaufzuhangeln.
Verdutzt sah er sie an. »Was ist?«
»Bitte pass auf dich auf, Duke!«, flüsterte sie.
»Na klar pass ich auf!«, versicherte er.
»Pass richtig auf dich auf!«, beschwor sie ihn und sah ihn mit einem Blick an, der mehr als nur freundschaftliche Sorge verriet. »Ich will dich heil zurückhaben, Duke! Und ich habe bei dieser Geschichte irgendwie ein flaues Gefühl.«
Der Ausdruck ihrer Augen, der keiner großen Deutung bedurfte, ließ sein Herz schneller schlagen. Zärtlich sah er sie an. »Das musst du nicht. Mir passiert schon nichts. Ich weiß, was ich tue und worauf ich Acht geben muss. Und du weißt, ich war immer gut in der Kletterwand. Aber ich muss zugeben, dass auch ich ein flaues Gefühl habe«, gestand er dann. »Aber das … das liegt daran, wie du mich jetzt anblickst, Colinda.«
Anstelle einer Antwort schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn. Mit leidenschaftlichem Ungestüm presste sie ihre Lippen auf seinen Mund und hielt ihn gleichzeitig fest in ihren Armen.
»Himmel, jetzt ist mir erst recht flau!«, stieß er überwältigt hervor, als sie ihn schließlich freigab.
Sie lachte ein wenig verlegen über die Leidenschaft, mit der sie ihn überrascht hatte. »Red nicht! Das musste jetzt einfach sein. Einer musste ja mal den Anfang machen und für Klarheit sorgen, oder? Und jetzt sieh zu, dass du da hinaufkommst – sonst stehen wir morgen früh noch hier!«
Duke strahlte sie an. »Ich bin froh, dass du das getan hast!« Schnell gab er ihr noch einen Kuss, dann kletterte er auf das Geländer, zwängte sich durch den Spalt und hing Augenblicke später am Seil.
Er verhakte die Beine über dem Seil und zog sich, mit dem Rücken nach unten und Hand über Hand, zügig von Knoten zu Knoten empor. Die kurze Kletterpartie stellte keine besondere Herausforderung für ihn dar, und er wusste, dass auch Colinda gleich kein Problem haben würde, ihm zu folgen. Sie waren beide körperlich absolut fit, dafür hatten die vielen täglichen Sportstunden in Liberty 9 gesorgt.
Die graue Betonwand zu seiner Linken rückte schnell näher. Auf dem letzten Stück schabte er mit der Schulter an der Kante entlang. Dann ertastete er auch schon das Geländer und zog sich daran hoch.
Er war versucht, sich sofort nach Presidio und dem Lichttempel umzusehen. Aber er widerstand der Versuchung. Er hatte noch immer den herrlichen Geschmack von Colindas Küssen auf seinen Lippen, und er wollte, dass sie hier oben bei ihm stand, wenn sein Blick zum ersten Mal auf das atemberaubende Bauwerk fiel, in dem sie bald ihren hochwürdigen Dienst verrichten würden.
Er zog den Haken von der Geländerstange, öffnete den Knoten, zog das Seil einige Meter unter dem Rohr hindurch, befestigte den Haken wieder an seinem Ende und schwang ihn dann zurück zu Colinda. Diesmal brauchte er nicht lange, um sein Ziel zu erreichen. Aber ihn von oben nach unten zu befördern, war ja auch um ein Vielfaches einfacher als umgekehrt.
Colinda bekam den heranschwingenden Haken rasch zu fassen, löste ihn vom Seil, zog es straff um das Geländer und knotete die beiden Enden mehrfach zusammen. Nun spannten sich zwischen den beiden Galerien zwei Seilstränge dicht nebeneinander. Dann kletterte sie durch die Lücke im Käfiggitter und hangelte sich zu Duke hinauf.
»Und? Hast du ihn schon gesehen? Ist er wirklich so umwerfend, wie sie ihn uns beschrieben und bei der Lichtmesse als Hologramm gezeigt haben?«, fragte sie mit freudiger Erregung, als er nach ihr griff und ihr über das Geländer half. »Kann man ihn von hier aus gut sehen?«
»Und ob man das kann!«, versicherte er, während er den Arm um sie legte und sich mit ihr zusammen umdrehte. Dass von dieser nach Südwesten weisenden Galerie aus nichts ihren Blick behinderte und helle Lichter in einigen Kilometern Entfernung die Nacht erhellten, diese flüchtigen Eindrücke aus den Augenwinkeln hatte er beim Überklettern des Geländers nicht vermeiden können, auch wenn er schnell nach unten auf den Gitterrost geblickt, sich auf die sichere Seite gezogen und sich dann gleich zu Colinda umgewandt hatte. »Hier befinden wir uns ja auf der Südwestseite. Siehst du, da ist Presidio! Und dort drüben …«
Jäh brach er ab.
Ja, die Hiseci Presidio lag zum Greifen nahe vor ihren Augen, und der Anblick, den die Hauptstadt der Supreme Republic of Hyperion bot, entsprach genau den Bildern, die man ihnen in der Lichtburg oft genug gezeigt hatte: eine stolze Stadtfestung und Insel des Lichts inmitten der Dunkelwelt. Die hügelreiche Fläche dicht bebaut mit Gebäuden aller Art, die von der schlanken und hoch in den Himmel aufsteigenden Hyperion-Pyramide noch um einige Dutzend Meter überragt wurden. Auf drei Seiten von Wasser umgeben, im Westen umspült vom Pazifik, im Norden und Osten von den Fluten der Bay. Und schützend umschlossen von dreißig Meter hohen Betonmauern mit Wehrgängen und einer Kette von Wachtürmen auf ihrer Krone. Meterdicke Festungsmauern, die geradewegs aus den dunklen Fluten aufzusteigen schienen.
Aber da, wo der Lichttempel vor der Nordwestspitze hätte liegen und mit seinem einzigartigen Leuchten selbst den hellen Schein der vielen Scheinwerfer auf dem Festungsring und die Lichter der Hochhäuser und der hell erleuchteten Hyperion-Pyramide hätte in den Schatten stellen sollen, da war – nichts.
»Ich verstehe das nicht«, murmelte Colinda verstört. »Wo ist der Lichttempel? Müsste er denn nicht genau da auf einer vorspringenden Landzunge liegen?« Sie wies auf die Nordwestspitze von Presidio.
Ungläubig und mit offenem Mund starrte Duke hinaus in die Nacht und auf jenen Punkt im Wasser, auf den Colinda deutete. Wolken zogen über den Himmel, aber die Sicht war gut, vor allem aus dieser Höhe.
»Ja, müsste er eigentlich, aber … da – ist – nichts!« Er betonte jedes einzelne Wort, als sträubte sich sein Verstand, zu akzeptieren, was seine Augen sahen – oder besser gesagt: was sie nicht sahen.
Unwillig schüttelte Colinda den Kopf. »Das geht doch gar nicht! Der Lichttempel muss irgendwo da sein! Sie haben ihn uns doch so oft gezeigt! Der hochwürdige Dienst im Lichttempel ist doch unsere Bestimmung! Und gestern Morgen hat Tec Master Blackstone doch erst noch gesagt, dass es von hier zum Lichttempel hinüber nur ein kurzer Sprung ist.«
»Ja, hat er. Ich begreife es ja auch nicht, aber wir können es drehen und wenden, wie wir wollen, es bleibt dabei: Hier ist nirgendwo ein Lichttempel zu sehen, Colinda!Er ist … einfach … nicht … da! Wenn er wirklich hier irgendwo stünde, müssten wir ihn von hier aus auch sehen, so groß und hell, wie er ist … oder angeblich sein soll.«
»Was meinst du mit angeblich?«
Er zuckte die Achseln und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Entweder Tec Master Blackstone hat gelogen, und auch unsere Oberen in Liberty 9 haben gelogen und es gibt diesen Lichttempel überhaupt nicht – oder wir sind blind! Ich weiß, es klingt verrückt, absolut absurd. Aber hast du vielleicht eine bessere Erklärung?«
»Nein«, murmelte Colinda. »Aber warum sollten sie uns denn angelogen haben?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Duke, nicht weniger erschüttert und aufgewühlt. Plötzlich musste er an Arkans Haarbüschel im Abfluss der Dusche denken, an den permanenten Husten der Alten, ihre ständige Mattigkeit und schmerzenden Glieder, Pattersons Bemerkung über die tödlichen Strahlen der Brennstäbe und an den zerstörten dritten Meiler sowie an Ashtons Tod.
Augenblicklich stieg eine dunkle Woge unheilvoller Ahnung in ihm auf, überschwemmte ihn mit namenloser Angst und schnürte ihm die Kehle zu. Ihm brach der Schweiß aus, und er umklammerte die Geländerstange, weil er fürchtete, von Schwindel gepackt zu werden und zu stürzen. »Was immer es ist«, krächzte er, »ich fürchte, die Wahrheit wird …«
Er kam nicht mehr dazu, seine Befürchtung auszusprechen. Denn in dem Moment fiel unvermittelt von hinten ein breiter Lichtstreifen direkt neben ihnen über den Bodenrost und das Geländer. Hätten sie nur einen Schritt weiter rechts gestanden, hätte das Licht sie erfasst.
Das eingeschaltete Neonlicht fiel nämlich aus der offen stehenden Tür eines Zimmer, das gerade zwei Männer betreten hatten. In ihrer Aufregung hatten Duke und Colinda die Existenz der Tür überhaupt nicht bemerkt. Geistesgegenwärtig wichen sie vom Geländer zurück und pressten sich erschrocken gegen die Wand.
Mit dem Lichtschein drangen zugleich auch zwei Männerstimmen zu ihnen hinaus auf die Galerie. Eine davon erkannten sie sofort. Es war die dunkle Stimme eines bulligen Sec Masters namens Butch. Die andere war ihnen fremd.
»… machst du dir besser nicht zur Gewohnheit, wenn du dein Jahr Wachdienst hier im Bunker abreißen willst, ohne zu Neutronenfutter zu werden«, sagte Butch gerade. »Halte vor allem immer ein wachsames Auge auf das Dosimeter, wenn du runter zu den Electoren musst, Mitch!«
»Klar, mach ich schon. Habe bestimmt nicht vor, zu Neutronenfutter zu werden, wie ihr das nennt, und so zu enden wie die Kids da unten«, sagte die fremde Stimme mit einem spöttischen Auflachen, während eine Metalltür blechern klapperte. »Nur eines verstehe ich nicht.«
»So? Was denn?«
»Na, dass Hyperion diesen Kids die Schaltzentrale und damit die Kontrolle über die gesamte Stromverteilung überlässt«, wunderte sich der Mann namens Mitch. »Ich meine, nach ein paar Monaten Arbeit unten in den Reaktorblöcken und nach mehreren Prüfgängen durch die Strahlenhölle von Block III sind die doch schon sterbenskrank! Wie kann man ihnen da … ach was, wie kann man ihnen überhaupt die Stromverteilung überlassen?«
Butch lachte kehlig. »Man merkt, dass dies heute dein erster Tag ist, Kumpel. Denn sonst wüsstest du, dass die echte Schaltzentrale woanders liegt, nämlich ganz oben, gleich unter dem neuen Dach von Block III.«
»Aber was machen die Kids denn dann in dieser Halle mit den tollen Mosaiken und dieser riesigen Leuchttafel an der Wand?«, fragte Mitch verblüfft.
»Unsere ahnungslosen Morituri spielen mit einem Computerprogramm, das sie hübsch in Atem hält, indem es ihnen nach einem Zufallsprinzip ständig irgendwelche kleinen und größeren Störungen auf die Schalttafeln lädt«, erklärte Butch. »Manchmal macht sich einer der richtigen Controller oben auch einen Spaß daraus, ihnen eine scheinbar schwere Krise zu verpassen, auf dass ihr Puls auf zweihundert rast und sie hinterher glauben, wirklich was Tolles geleistet zu haben. Ist eben die totale Verarschung. Aber irgendwer muss den tödlichen Job da unten ja machen, und besser die ahnungslosen Kids, die man irgendwo in den Bergen dafür herangezogen hat, gehen drauf als wir. So, und jetzt schnapp dir da drüben ein Dosimeter und häng dir eine von den Chipkarten um. Und dann lass uns gehen.«
»Was meinst du, ob sie schon die zehn Morituri aufgestöbert und kaltgemacht haben, die nach dem Absturz des Helikopters heute Morgen lebend aus dem Wrack spaziert sind?«
»Keine Sorge, diese Grünschnäbel kommen in der Dunkelwelt nicht weit – auch nicht mithilfe dieses Runners Dusty Tumbleweed«, versicherte Butch. »Vermutlich haben unsere Leute sie schon längst gestellt und erledigt. Aber wir können ja mal gleich über Funk nachfragen, ob es Neuigkeiten von der Jagd auf sie gibt. Und jetzt Abmarsch, sonst gibt’s einen Anschiss, was wir so lange hier gemacht haben.«
»Was ist mit der Tür? Soll die offen bleiben?«
»Nee, ich mach das schon.« Schritte näherten sich dem Ausgang zur Galerie und im nächsten Moment wurde die Tür ins Schloss gezogen und von innen ein Schlüssel umgedreht.
Colinda und Duke standen noch immer an die Wand gepresst. Sie hatten kaum zu atmen gewagt. Das kurze Gespräch der beiden Sec Master hatte all das, woran sie bis vor wenigen Augenblicken noch unerschütterlich geglaubt hatten, als heimtückische Täuschung entlarvt und ihre Welt zum Einsturz gebracht.
Nun umfing sie wieder Stille. Es war eine fürchterliche, dröhnende Stille, sodass sie meinten, gleich müsse ihr Kopf platzen. Am liebsten hätten sie ihre Verzweiflung mit aller Lungenkraft hinaus in die Nacht geschrien.
Doch sie rissen sich zusammen und sahen einander an: Jeder blickte in ein Gesicht, das von sprachlosem Grauen und Entsetzen gezeichnet war – und so bleich wie der Tod.