13

Es war die kurze Zeitspanne, in der die Dunkelheit der Nacht mit zähem Widerstand gegen das nahende Grau der Morgendämmerung ankämpfte. In einer halben Stunde würde der neue Tag, der schon hinter den Bergen im Osten anrückte, die Vorherrschaft über den Himmel zurückerobern. Doch noch lag über dem Totenwald und Liberty 9, als aus den Lautsprechern in den Türmen der Lichtburg die Fanfarenstöße in einem harmonisch an-und abschwellenden Rhythmus ertönten und die trügerische Stille der Nacht zerrissen. Sie riefen den Konvent zum Morgenlob auf den Appellplatz. Und die Lichtorgie, die fast gleichzeitig einsetzte und um die Lichtburg herum ihre spektakuläre Wirkung entfaltete, ließ die umgebende Dunkelheit nur noch tiefer und undurchdringlicher erscheinen.

Zahlreiche Strahler von unterschiedlicher Leuchtkraft und Lichtfarbe, die überall in die mit Erkern und kleinen Türmen verzierte Fassade eingelassen sowie rund um das Gebäude im Boden versenkt waren, warfen von allen Seiten großartige Lichtkaskaden auf das Bauwerk aus rotbraunem Sandstein. Solange die sphärisch nachhallenden Fanfarenklänge aus den Lautsprechern drangen, umhüllte vielfarbiges Licht das Gebäude und wogte in Wellen über die Fassaden.

Kendira schnürte es die Kehle zu, als der Konvent auf dem Vorplatz zusammenströmte und sie sich mit Nekia und Hailey in den Block der Alpha-Mädchen einreihte. Es fiel ihnen schwer, sich normal zu geben und sich ihre ungeheure innere Anspannung nicht anmerken zu lassen. Zum Glück waren ihre Mitschwestern noch zu schläfrig oder mit eigenen Gedanken und Sorgen beschäftigt, um zu bemerken, wie ungewöhnlich blass ihre Gesichter und wie starr ihre Blicke waren.

»Erhabene Macht, auf was haben wir uns da bloß eingelassen!«, stöhnte Hailey leise auf. Es war, als wäre ihr erst in diesem Augenblick zu Bewusstsein gekommen, dass der Countdown unerbittlich lief und dass der Einsatz ihr eigenes Leben war. »Diese schaurigen Wolfsköpfe und Bones …«

»Halt jetzt bloß die Klappe!«, zischte Nekia und stieß ihr den Ellbogen in die Rippen.

Joetta, die in der Reihe vor ihnen stand, drehte sich zu ihnen um. »Schlecht geträumt?«, flüsterte sie mit hochgezogenen Brauen.

»Ja, sie hatte einen üblen Albtraum«, antwortete Kendira schnell und rang sich ein Lächeln ab, das irgendwie nachsichtig und spöttisch zugleich wirken sollte. »Hatte was mit Knochenbergen, Wölfen und so zu tun.«

Joetta grinste. »Kenn ich. Bin im Traum mal auf einem Friedhof und mitten unter Skeletten aufgewacht. Und im Wald hat eine Wolfsmeute geheult. Irre gruselig.« Sie schüttelte sich.

»Psst!«, zischte jemand hinter ihnen. »Wir haben Morgenlob!«

»Mach dir bloß nicht ins Hemd!«, fauchte Nekia über die Schulter zurück.

Kendira tastete nach der Hand ihrer Freundin und drückte sie fest. Ein stummer Zuspruch, der auch ihr selbst galt. Nekias Hand war feucht und kalt wie ihre eigenen Hände. Vor nicht mal einer Stunde hatte sie die beiden Schauergestalten vom Clan der Bones, die Sherwood getragen hatten, in den Keller und zu den Arrestzellen geführt. Und vor gerade mal zwanzig Minuten hatte sie noch oben im dritten Stock mit Dante und Carson die letzten Gewehre und Magazine aus der Waffenkammer geholt und sie in das Audimax gebracht. Und jetzt stand sie in ihrem Block, als wäre dies ein gewöhnlicher Morgenappell wie so viele tausend andere zuvor.

Was ihr zusetzte und geradezu Übelkeit in ihr hervorrief, war einerseits das Wissen, dass die schwerbewaffneten Mountain Men im Audimax oben auf der Empore und hinter dem Vorhang der Bühne nur darauf warteten, dass in wenigen Minuten die Falle zuschnappte und sie den ersten und hoffentlich alles entscheidenden Schlag führen konnten.

Hinzu kam der Zeitdruck, unter dem sie alle plötzlich standen. Denn von Templeton hatten sie erfahren, dass ihn die Leitstelle in Presidio am gestrigen Abend über das Eintreffen des nächsten Lichtschiffes unterrichtet hatte. Demnach würde der Chopper in der kommenden Nacht gegen vier Uhr auf dem Dach des Schwarzen Würfels landen, um weitere zwölf Electoren abzuholen. Und das bedeutete, dass bis dahin jeglicher Widerstand der Guardians gebrochen und Liberty 9 gänzlich in ihrer Gewalt sein musste.

Aber was sie in diesen Minuten mehr als alles andere quälte und ihr fast das Herz zerriss, war der unwiderrufliche Verlust eines wunderbaren Traums, den sie so viele Jahre für wahr gehalten hatte. Und der blendende Lichtzauber, der sie jetzt umgab und der sie all die vielen Jahre an ihr Auserwähltsein hatte glauben lassen, brannte ihr den Verlust förmlich ins Bewusstsein.

Wie zum Hohn wechselten die Strahler von vielfarbigem Licht zu reinem, strahlendem Weiß. Die Leuchtfinger umhüllten das Heim der Electoren und ihrer Oberen und ließen den Sandstein so intensiv aufleuchten, als glühte er von innen heraus. Und über dem Gebäude verbanden sich die Strahlen zu einer gigantischen Lichtsäule, die in den Nachthimmel aufstieg und bis tief in den Kosmos zu reichen schien.

Und dann, als sich alle Electoren, Master, Servanten und die beiden Züge Guardians eingefunden hatten, trat Primas Templeton hinaus auf die Plattform.

Das Aufflammen von mehreren Dutzend weiterer Scheinwerfer begleitete sein Erscheinen. Sie kamen aus vier Richtungen: vom riesigen Flachdach des Schwarzen Würfels, vom obersten Ring der Tube und vom Dach des Gym sowie vom Giebeldach der Lichtbasilika. Ihre starken Lichtkegel kreuzten sich mehrfach und bildeten über dem Appellplatz ein strahlend leuchtendes Gitter, das einem hoch gewölbten Dach aus Licht gleichkam. Deshalb wurde es von den Electoren Lichtdom genannt.

Zuletzt setzten die Laserstrahler ein. Sie projizierten unter den weißen Lichtdom den tausendstäbigen Kubus, das allgegenwärtige Hyperion-Symbol. Es rotierte unter der Lichtdecke wie von einer unsichtbaren Hand zum Kreisen gebracht und flimmerte dabei in seinen sich ständig verändernden Spektralfarben.

Die allmorgendliche Lichtorgie war ein grandioses Schauspiel, das die Sinne überwältigte. Perfekt inszeniert und dazu geschaffen, alle anwesenden Jugendlichen mit grenzenlosem Stolz zu erfüllen.

Und wir haben daran geglaubt!

Kendira ballte vor Zorn die Fäuste und kämpfte doch zugleich auch gegen Tränen der Wehmut an. Fast wünschte sie, nie die hässliche Wahrheit erfahren zu haben. Dann hätte sie sich jetzt völlig unbeschwert nur mit der bittersüßen Frage auseinandersetzen müssen, zu wem ihr Herz stärker entbrannt war – zu Carson oder zu Dante.

Erhabene Macht, wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, in diesen seligen Zustand der Ahnungslosigkeit zurückzuflüchten! Wenn doch alles so wäre wie noch vor wenigen Wochen!

Es erschütterte sie, als sie sich bei diesem selbstmörderischen Gedanken ertappte. Welch eine berauschende Droge, mit der man ihr Hirn all die Jahre vergiftet und sie süchtig gemacht hatte! So süchtig, dass sie selbst jetzt noch, nach allem was sie über die verlogene Welt von Liberty 9 erfahren hatte, unter heftigen Entzugsschmerzen litt und zu solch einem Gedanken fähig war!

Nur verschwommen nahm sie die hagere, weißgewandete Gestalt des Primas zwischen den Rotkutten wahr. Doch nicht er, sondern Prinzipal Whitelock, seine rechte Hand und ein ähnlich scharfer Hund wie Sherwood, führte sie an diesem Tag durchs Morgenlob.

»Gelobt und gepriesen sei die Erhabene Macht!« Whitelocks nasale Stimme hallte aus den Fassadenlautsprechern links und rechts des Portals herab.

»Gelobt und gepriesen sei die Erhabene Macht!«, antwortete die Versammlung wie aus einem Mund. Es klang wie Donnerhall über den Platz.

»Söhne und Töchter des Lichts, treue Diener der Erhabenen Macht und unverbrüchliche Gefolgschaft Hyperions, seiner hochwürdigen Exekutive auf Erden, ihr seid das Licht der Welt!« Die Berghänge warfen Whitelocks Worte als Echo zurück. »Lasst uns den neuen Tag mit Demut und Dankbarkeit, aber auch mit Freude und der unerschütterlichen Entschlossenheit beginnen, unserem hohen Auftrag gerecht zu werden und unablässig danach zu streben, in diesem Dienst nie müde zu werden!«

»Das geloben wir!«, schallte es unverzüglich aus Hunderten von Kehlen zurück. Das war das übliche Wechselrezitativ.

»So lasst uns denn gemeinsam das Morgenlob und Treuegelöbnis sprechen!«

Kendira presste die Zähne zusammen. Sie starrte hinauf zu Templeton. Der Primas stand nicht wie gewöhnlich in gestraffter Haltung und mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf der Plattform, sondern die Arme baumelten ihm wie kraftlos an den Seiten herab und seine Schultern waren nach vorne gefallen. Statt seine Augen auf die Versammlung zu richten, hielt er den Blick auf einen imaginären Punkt zu seinen Füßen gesenkt.

Sie fragte sich, was wohl jetzt in ihm vorgehen mochte. Immerhin wusste er, dass seine Welt gleich in sich zusammenstürzen würde. Es würde Blut fließen, selbst wenn ihnen der Umsturz rasch gelang, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach auch das von einigen Oberen. Die Wut würde unbeherrschbar sein und sich ihre Opfer suchen, und nichts würde den Ruf nach sofortiger Vergeltung zum Schweigen bringen können, bevor nicht einige Master und Prinzipalen für ihre Verbrechen mit ihrem Leben bezahlt hatten.

Angst hatte Templeton bisher keine gezeigt. Eher Erleichterung, dass sein falsches Spiel vorbei war. Er hatte ihnen geholfen, die Mountain Men unbemerkt in kleinen Gruppen erst durch den Wald und die Parkanlagen und dann über die Servantenstiege in den großen Saal zu bringen. Er hatte ihnen auch die stark gesicherte Waffenkammer geöffnet und war ihnen dabei zur Hand gegangen, einige der Waffen im Audimax an strategisch wichtigen Stellen zu verstecken. Und er hatte ihnen in seinem großen Dienstzimmer gezeigt, wie die Lautsprecheranlage, mit der man jede Ecke im Tal erreichen konnte, und die Funkstation zu bedienen waren und welche Meldungen Hyperions Leitstelle im fernen Presidio zweimal täglich erwartete.

Aber warum hatte Templeton das getan?

Nach all den Jahren, die er unzählige junge Menschen geistig verführt, auf den Cleansing-Stuhl gebracht und in den sicheren Tod im Lichttempel geschickt hatte? Quälte ihn sein Gewissen dermaßen, dass er glaubte, sich für seine Untaten selbst auf das Härteste strafen zu müssen? Aber was er auf sein Gewissen geladen hatte, war unverzeihlich und durch nichts wieder …

Kendira schreckte aus ihren Gedanken auf. Der Wortlaut des Morgenlobs war ihr und jedem anderen Elector längst so in Fleisch und Blut übergegangen, dass selbst die kleinste Abweichung augenblicklich Aufmerksamkeit und Verwunderung erregte. Und genau so etwas war eben geschehen. Whitelock hätte an Templetons Stelle das Wechselrezitativ mit dem Zuruf »So geht denn hin und dient!« abschließen müssen. Und darauf hätte die Gemeinschaft mit einem letzten donnernden »Lob und Dank sei dir, Erhabene Macht!« geantwortet. Diese Antwort lag sogar Kendira auf der Zunge – als Templeton das morgendliche Ritual genau an dieser Stelle unterbrach. Er trat zu Whitelock, deckte das Mikrofon am Ende des dünnen Kopfbügels mit der Hand ab und raunte ihm etwas zu.

Whitelock machte ein verblüfftes Gesicht, nickte dann knapp und räumte beflissen den Platz mitten auf der Plattform vor den hohen Flügeln des Portals.

Ein leises Raunen der Verwunderung ging durch die Versammlung. Keiner konnte sich daran erinnern, dass es im Morgenlob jemals eine Unterbrechung gegeben hätte. Und alle warteten gespannt, was wohl der Grund dafür sein mochte, dass es ausgerechnet ihr Primas war, der diesen einzigartigen Bruch in ihrer Tradition beging.

Rainer M. Schröder - Liberty 9 Band 2 - Todeszone
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