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»Schön ruhig bleiben und die Hände unten lassen! Wer Dummheiten macht, kriegt ’ne Kugel!«, warnte Scalper Skid und schluckte den letzten Bissen von seinem Sandwich hinunter. »Und keine falschen Hoffnungen. Meine Leute haben die Lichtburg und das Gym fest in ihrer Hand. Selbst wenn hier ein paar Schüsse fallen, wird das nichts daran ändern, dass wir fest im Sattel sitzen und das Sagen haben, verstanden?«
Jedediah sah ihn fassungslos an. »Das kannst du nicht machen, Scalper Skid! Wir haben eine Abmachung! Du hast mir dein Wort gegeben!«, stieß er hervor. »Hast du vergessen, was das unter uns Mountain Men bedeutet?«
»Natürlich nicht, Jed. Du und deine Männer, ihr habt auch nichts zu befürchten. Da bleibt alles so wie besprochen!«, versicherte Scalper Skid gelassen. »Keiner von uns bedroht euch.«
»Das sieht mir aber verdammt danach aus!«, erwiderte Jedediah mit Blick auf den Gewehrlauf, der auf ihn gerichtet war.
Scalper Skid grinste breit. »Na ja, nimm es als so was wie eine Bitte, okay? Ich will nur, dass ihr euch nicht dazu verleiten lasst, die Partei der Grünschnäbel zu ergreifen. Denn den Kids habe ich mein Ehrenwort nicht gegeben. Die kleine Planänderung betrifft deshalb auch nur sie.«
»Um ein Ehrenwort geben zu können, muss man erst einmal Ehre haben!«, stieß Dante hervor und ballte in ohnmächtiger Wut die Fäuste.
Er hatte sein Gewehr so wie Carson und die meisten anderen gleich nach dem Eintreten in eine Ecke gestellt. Und keiner von ihnen, der noch einen Revolver bei sich trug, konnte die auch nur annähernd schnell genug in Anschlag bringen. Er hätte damit auch nichts gegen diese Übermacht an schussbereiten Waffen auszurichten vermocht.
Der Clan-Chef der Bones bedachte Dante mit einem herablassenden Blick. »Tut mir ja leid, euch den Tag zu vermasseln, der so prächtig für euch begonnen hat, Schwarzzopf. Aber das Hemd sitzt mir doch näher als eure Jacke, wenn ihr versteht, was ich meine.«
»Nein, wir verstehen gar nichts!«, rief Carson voller Zorn. »Was soll das? Ihr kriegt doch alles, was ihr haben wollt!«
»Nicht alles!«, warf Jedediah trocken ein.
»Was wollt ihr denn noch von uns?«, fragte Kendira verständnislos.
»Von euch will ich überhaupt nichts«, sagte Scalper Skid und gab Teether Joe ein Zeichen, worauf dieser die Tür zum Gang öffnete und mit der Hand wedelte. »Ihr seid jetzt aus dem Spiel. Wir haben ein besseres Angebot erhalten, bei dem wir viel mehr aus dieser Sache herausholen, als ihr uns jemals bietet könntet. Das große Geschäft, an dem wir unsere Freunde vom Clan der Wolf-Leute natürlich großzügig beteiligen«, er zwinkerte Jedediah zu, »werden wir mit Hyperion machen. Die feinen Herrschaften in Presidio werden es sich zweifellos ordentlich etwas kosten lassen, das Lager wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen, ohne vorher Truppen schicken und sich selbst bei der Niederschlagung des Aufstands die Hände schmutzig machen zu müssen. Das erledigen wir für sie.«
In das jähe Erschrecken, das diese Ankündigung bei allen Electoren und Servanten auslöste, mischten sich augenblicklich grenzenlose Abscheu und Wut, als im nächsten Moment Master Sherwood in Begleitung einer weiteren Horrorglatze ins Zimmer trat, auf dem Gesicht ein bösartiges, triumphierendes Lächeln.
Für einen kurzen Moment herrschte absolute Stille im Dienstzimmer. Von der anderen Seite des Korridors, aus Templetons Schlafzimmer, hörte man sehr gedämpft, aber doch vernehmlich das Stöhnen. Er rang mit dem Tod.
»Sie sind zu beglückwünschen, dass Ihr Mann, der mich im Keller bewacht hat, Verstand genug hatte, meinen Vorschlag an Sie weiterzugeben!«, sagte Sherwood wichtigtuerisch zu Scalper Skid. »Hyperion wird Sie für Ihre Dienste fürstlich entlohnen.«
»Schätze mal, dass denen auch gar nichts anderes übrig bleibt«, pflichtete ihm dieser bei, griff sich noch ein Sandwich und biss selbstzufrieden hinein.
»Und diese missratenen Aufrührer werden auf den Stuhl kommen!« Sherwood ließ seinen Blick langsam und mit sichtlicher Genugtuung über die bleichen Gesichter der Mädchen und Jungen gleiten, als wollte er auf diese Weise jedem persönlich das Todesurteil mitteilen. »Eine Schande, dass auch alle anderen Servanten und Electoren sterben müssen. Aber zumindest wird Liberty 9 als Ausbildungsstätte gerettet und kann mit der Aufzucht der nächsten Generation beginnen.«
»Wenn hier einer missraten ist, dann sind Sie das, Sherwood!« Hailey spuckte ihn über den Tisch hinweg an.
Sherwood lächelte kalt, während er sich den Speichel aus dem Gesicht wischte. »Dich nehme ich mir später ganz persönlich vor!«
»Jedenfalls hat sich hier das Blatt für euch Grünschnäbel gedreht«, griff Scalper Skid ein. »War wirklich nicht übel, euer Plan, und ihr habt euch draußen bei den Wachtürmen auch tapfer geschlagen. Aber es gehört eben mehr als nur eine satte Portion Mut dazu, um so ein dickes Ding erfolgreich durchzuziehen. Der Teufel steckt nun mal oft im Detail und das kostet euch jetzt den Hals. Pech, aber so läuft es eben.« Dann wandte er sich an Sherwood und befahl: »Okay, jetzt bist du an der Reihe! Setz dich da drüben an die Anlage und nimm Kontakt mit Hyperion auf!«
Eine Glatze stieß Zeno mit einem Gewehrstoß aus dem Ledersessel.
Sherwood räusperte sich und sagte verlegen: »Nun ja, das … äh, das sollten Sie wohl besser Prinzipal Whitelock machen lassen. Ich kenne mich mit der Funkanlage nicht aus. Außerdem ist Whitelock Templetons Stellvertreter. Wenn nicht er die Meldung macht, könnte man in Presidio argwöhnisch werden und erst weitere Nachforschungen anstellen wollen …«
Scalper Skid verzog das Gesicht und beauftragte den Mann, der Sherwood gerade ins Zimmer gebracht hatte, Whitelock aus dem Gym zu holen, wo die Oberen inhaftiert waren.
Kendira erhob sich langsam von ihrem Stuhl. Sofort drückte ihr Rib Cage Bobby seinen Gewehrlauf vor die Brust. »Rühr dich nicht von der Stelle!«
»Was soll das werden, Mädchen?«, fragte Scalper Skid. »Bist du lebensmüde?«
»Nein, ich will zu Templeton«, erwiderte Kendira und zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen.
»Du hast hier gar nichts zu wollen, kapiert?«
»Sie hören doch, wie er sich quält. Er hat schon seit Langem kein Schmerzmittel mehr bekommen!«
Scalper Skid zuckte gleichgültig die Achseln. »Na und? Was juckt mich das? Er wird so oder so krepieren.«
»Jawohl, aber deshalb muss man ihn doch nicht so leiden lassen!«, beharrte Kendira.
»Du bleibst hier!«
Trotzig reckte Kendira das Kinn. »Haben Sie vielleicht Angst vor einem Mädchen, das einem sterbenden alten Mann beistehen will?«
»Um Himmels willen, Kendira!«, zischte Dante erschrocken.
Mit einem Satz war Scalper Skid bei ihr und versetzte ihr eine harte Ohrfeige. »Wage so etwas nicht noch einmal, Weibsstück!«, zischte er.
Der Schlag riss ihren Kopf zur Seite und ließ sie rückwärts gegen den Tisch taumeln. Sie presste die Hand auf die brennende Wange und kämpfte gegen die Tränen, die ihr vor Schmerz in die Augen schießen wollten.
Jedediah schüttelte missbilligend den Kopf. »Herrgott, so etwas hast du doch nicht nötig, Scalper Skid! Lass die Kleine doch zu dem Sterbenden gehen und ihm was gegen die Schmerzen verpassen! Dann hört drüben wenigstens das Stöhnen auf.«
Der Clan-Chef leckte sich über die Lippen und zögerte kurz. Dann zuckte er mürrisch die Achseln. »Also gut. Aber nur, um dir einen Gefallen zu tun, Jed«, brummte er und sah Kendira an. »Du hast es gehört, du kannst zu ihm rüber. Also los, verschwinde! Aber du hältst ein Auge auf sie, Teether Joe, kapiert? Ich will nicht, dass sie mir aus dem Fenster springt oder sonst was Dummes anstellt! Wenn sie sowieso sterben muss, kann sie mir auch heute noch die Nacht versüßen.«
Teether Joe grinste. »Kapiert, Chef!« Dann machte er mit seinem Revolver eine herrische Bewegung in Richtung Kendira und blaffte: »Na los, schwing die Hufe!«
Scheinbar eingeschüchtert senkte Kendira den Kopf, als sie am Anführer der Bones vorbeiging und mit ihrem Aufpasser das Dienstzimmer verließ. Sie hatte erreicht, dass man sie zu Templeton ließ.
Aber würde er ihnen überhaupt helfen können, selbst wenn er einige klare Minuten hatte?
Sie hatte sich vor wenigen Augenblicken an etwas erinnert, das Templeton im Wald zu ihnen gesagt hatte, nachdem Sherwood mit den Taserdrähten im Rücken bewusstlos zu Boden gestürzt war. Es war eine kurze, beiläufige Bemerkung gewesen, und wegen der kritischen Situation im Wald hatte keiner von ihnen dieser Bemerkung irgendeine Bedeutung beigemessen und auch später nicht nachgefragt. Doch eben waren ihr diese Worte plötzlich wieder in den Sinn gekommen, und jetzt hing all ihre Hoffnung … nein, ihrer aller Leben an dieser vagen Idee, dass es mit Templetons Hilfe vielleicht doch noch Rettung gab.