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»Ob wir uns wirklich für die Samurai der Dunkelwelt halten?« Kaito Yakimura lächelte belustigt.
Über eine Stunde hatten die Libertianer von ihrem abgeschiedenen und bis ins Letzte kontrollierten Leben im einsam gelegenen Tal der Sierra erzählt, hatten abwechselnd davon berichtet, wie sie hinter das Geheimnis ihrer wahren Bestimmung gekommen waren und wie es ihnen schließlich gelungen war, Liberty 9 zu befreien. Aufmerksam und immer wieder Fragen stellend hatten die drei Männer ihnen zugehört und es auch nicht an Anerkennung für ihren Mut fehlen lassen. Nun war es am Tai-Pan und seinen beiden Drachenfliegern, ihre Fragen zu beantworten.
»Nun, jedes Kind muss einen Namen haben, so auch wir«, erklärte der Tai-Pan. »Früher, vor den finsteren Jahren des Weltenbrands, musste dieser wohlklingend und prestigeträchtig sein, um die Leute und ihr Geld anzuziehen. In unserer Zeit muss er dagegen bedrohlich klingen und die Leute abschrecken.«
Akahito nickte nachdrücklich. »Deshalb heißen die Hochhäuser, die man den Leuten einst hochtrabend als die Avalon Heights verkauft hat, eben die Samurai Towers. Und das ist ein Name, der für jeden, der nicht zu unserem Territorium gehört, eine unmissverständliche Warnung darstellt.«
»Wir pflegen einfach einige Traditionen unserer Vorfahren«, fügte Liang hinzu, »insbesondere solche, die uns dabei helfen, am Leben zu bleiben und unser Territorium zu verteidigen. Deshalb verwenden wir auch viel Zeit auf das Training von asiatischen Kampfsportarten.«
»Aber diese Drachenfliegerei gehört doch nicht zu jenen alten Traditionen«, wandte Nekia ein.
Kaito Yakimura schmunzelte. »Nein, natürlich nicht. Wir nennen es übrigens Delta Gliding. Mein Vater hat uns das vermacht. Er besaß drüben in der Stadt, als diese noch San Francisco hieß und nicht von Hyperion regiert wurde, ein Ausbildungs-und Ausrüstungsgeschäft für Base Jumper und Delta Glider. Zu unserem großen Glück hat er sein umfangreiches Materiallager vor dem großen Brand retten können, der nach dem zweiten großen Erdbeben ausbrach und über eine Woche tobte. Davon zehren wir noch heute. Ihm verdanken wir es, dass wir zur Verteidigung unserer Interessen eine erfahrene und kampfstarke Einsatztruppe von wagemutigen Delta Glidern haben. Wie gut Akahito und seine Männer ihr Fluggerät beherrschen, habt ihr heute ja selbst gesehen.«
»Es war wirklich beeindruckend«, sagte Dante.
»Es war sogar ausgesprochen umwerfend«, sagte Zeno trocken. »Zum Glück nur für die Trümmerratten, wie ihr diese zerlumpten Gestalten wohl nennt.«
»In unserer Welt gibt es viele Arten von menschlichen Ratten«, warf Liang ein. »Trümmerratten, Wasserratten, Tunnelratten und Inselratten – um nur die schlimmsten Sorten zu nennen.«
»Warum haben Sie überhaupt Ihre Delta Glider zum Wrack geschickt?«, fragte Fling.
»Weil der Einsatz wertvolle Beute versprach. Aus einem Helikopterwrack lässt sich mit ein bisschen Glück vieles bergen, was in unserer Welt selten und von großem Wert ist«, gab Kaito Yakimura unverblümt zu. »Aber mit dem Einsatz war auch ein hohes Risiko verbunden.«
»Das Gelände der alten Zementfabrik liegt nämlich nicht eindeutig in unserem Territorium, sondern gehört zu einem Trümmerstreifen, dessen Besitzanspruch umstritten ist«, erklärte Akahito. »Zumindest liegen wir deshalb mit der Brotherhood im Clinch, wenn auch nicht direkt im Krieg. Das sind unsere Nachbarn von überwiegend schwarzafrikanischer Herkunft, deren Herrschaftsbereich an unsere Südostflanke grenzt.«
»Nicht zu vergessen die Islander, die uns gefährlich nahe gekommen sind«, warf Liang noch ein.
»Wer sind diese Islander überhaupt?«, fragte Dante sofort. »Und warum werden sie so genannt?«
»Weil diese skrupellosen Söldner, die Hyperions Interessen hier in der Dunkelwelt vertreten, von der Insel kommen, die ihr im Handstreich erobern wolltet«, antwortete Kaito Yakimura. »Es sind ausnahmslos Schwerverbrecher aus den Hisecis, die begnadigt und als Söldner eingestellt werden, nachdem sie ein Jahr lang Dienst auf Tomamato Island geleistet haben. Zum Tode Verurteilte müssen, als angebliche Security Master getarnt, innen den verdeckten Wachdienst über die Electoren übernehmen. Aus den anderen Schwerverbrechern setzen sich die äußeren Wachmannschaften zusammen, die an der Felsküste der Insel Wache schieben und die Maschinengewehrnester auf den Dächern der Meiler und anderswo bemannen.«
»Durch die Islander ist irgendwann auch mal das Wort von den jungen Morituri in die Dunkelwelt gedrungen, die jedes Jahr von irgendwoher jenseits der Berge frisch eingeflogen werden«, fügte Liang noch hinzu. »Im Laufe der Jahrzehnte sickert doch so einiges durch, was man drüben in Presidio lieber als Geheimnis gewahrt wissen will.«
Für einen Augenblick trat Schweigen ein, das so düster und schwer lastend war wie die Mienen der Libertianer.
Dann stieß Kendira einen Stoßseufzer aus und setzte die Fragerei fort. Es gab noch so vieles, das sie nicht wussten, aber möglichst schnell in Erfahrung bringen mussten, wenn sie eine Chance haben wollten, aus der Dunkelwelt lebend wieder herauszukommen.
»Was bedeutet der Name Jachi oder Jachis?«
»Es ist einfach nur die Zusammensetzung der Anfangsbuch-staben von Japaner und Chinese«, sagte Kaito Yakimura und bestätigte damit, was sie schon vermutet hatten. »Als wir uns zur Jachi-Föderation zusammengeschlossen und unser neues Revier hier abgesteckt haben, lag es nahe, uns diesen Namen zu geben.«
»Und ich dachte aufgrund der Romane und Filme, die wir uns aus der Mediathek herunterladen durften, dass sich Japaner und Chinesen spinnefeind wären«, wandte Flake verwundert ein.
»Das mag früher so gewesen sein und in anderen Teilen der Welt heute noch so sein, trifft aber nicht auf uns zu. Wir sind seit Generationen in erster Linie Amerikaner und stolz darauf«, sagte Kaito Yakimura, und ein wehmütiger Patriotismus schwang in seiner Stimme mit, »auch wenn es die Vereinigten Staaten schon lange nicht mehr gibt und wir in letzter Zeit dazu zurückgekehrt sind, unseren Kindern und sogar uns selbst wieder japanische und chinesische Vornamen zu geben.«
»Dieser Zusammenschluss war eine zwingende Notwendigkeit«, führte Akahito weiter aus. »Denn als Hyperion drüben die Macht übernahm und alle unliebsamen Minderheiten aus Presidio vertrieb, da traf es auch alle, die bis dahin in Chinatown und Little Tokio ansässig gewesen waren.«
Kaito Yakimura nickte. »Wir mussten uns zusammenschließen. Andernfalls wäre keiner von uns stark genug gewesen, um sich gegen die anderen bevölkerungsstarken Gruppen zu behaupten und hier draußen ein halbwegs sicheres Territorium für unsere Leute zu schaffen. Wir regieren uns demokratisch und alle sechs Monate übernimmt jemand aus der anderen Volksgruppe den verantwortungsvollen Posten des Tai-Pan. In zwei Monaten wird Liangs Vater mich ablösen.«
»Wo genau befinden wir uns überhaupt?«, wollte Carson wissen. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung, wo genau der Helikopter abgestürzt war. »Und wie weit ist es von den Samurai Towers bis zur Bay und nach Tomamato Island?«
»Was heute unser Territorium umfasst, gehörte früher einmal zu den Außenbezirken von Oakland namens Concord und Antioch und liegt fast dreißig Kilometer östlich der San Francisco Bay«, teilte Kaito Yakimura ihnen mit.
»Und von dort bis hinüber nach Tomamato Island sind es noch weitere fünf, sechs Kilometer über offenes, eisiges und von Islandern kontrolliertes Wasser«, ergänzte Liang.
»Es sind noch fast vierzig Kilometer allein bis zur Bucht?« Carson machte ein bestürztes Gesicht.
Was Kendira verwunderte. Hatte er vielleicht die Hoffnung, Duke und die anderen von der Insel retten zu können, noch nicht ganz aufgegeben?
Akahito nickte. »Die Bucht liegt so weit entfernt, dass man sie selbst von hier oben aus nur ganz selten einmal mit bloßem Auge ausmachen kann – und das dann auch nur an außergewöhnlich klaren Tagen.«
»Aber wann gibt es die hier schon mal«, sagte Liang und verzog das Gesicht, »bei all dem Dunst, der ständig über der Dunkelwelt liegt, und dem vielen Rauch, der Tag und Nacht aus zahllosen Bränden und Kochfeuern aufsteigt. Und selbst wenn mal keine Gangs bei ihren Revierkämpfen Brände legen, da unten wird ja alles verbrannt, was auch nur halbwegs brennbar ist.«
»Wir hätten uns dieses Himmelfahrtskommando aus dem Kopf schlagen und im Valley bleiben sollen, dann würde Indigo jetzt auch noch leben!«, stieß Hailey verbittert hervor. »Was soll nun aus uns werden?«
»Eine gute Frage«, sagte Dante bedrückt, denn mit Haileys Frage schien sich plötzlich eine dunkle Wolke über sie gesenkt zu haben.
Sie waren mit dem Leben davongekommen. Aber was sollten sie nun unternehmen, um auch am Leben zu bleiben? Wenn ihnen eines klar war, dann wohl, dass sie nicht in den Samurai Towers bleiben konnten. Schon gar nicht auf Dauer. Selbst wenn man es ihnen anbieten würde, was jedoch sehr fraglich war.
Was also tun?
Und mit welchem Ziel?
»Ich denke, das wird sich schon ergeben, und ihr müsst ja auch keine Entscheidung übers Knie brechen«, sagte der Tai-Pan in das bedrückte Schweigen. »Deshalb schlage ich vor, dass wir uns mal ansehen, was ihr in den Kisten mitgebracht habt.«
»Ja, schauen wir uns eure Gastgeschenke an«, setzte Akahito mit einem hintergründigen Lächeln hinzu.
Carson furchte die Stirn. »Gastgeschenke? Wie sollen wir das verstehen?«
Kaito Yakimura lächelte, aber in seiner Stimme lag eine spürbare Härte, als er antwortete: »Auch unter Freunden und Verbündeten haben Hilfeleistungen ihren Preis. Kostenlos ist in unserer Welt nur der Tod. So, und nun gebt Liang und Akahito die Kombinationen der Zahlenschlösser.«
Der Tai-Pan, Akahito und Liang machten große Augen, als ein Kistendeckel nach dem anderen aufflog und enthüllte, womit die Aluminiumcontainer beladen waren. Am Inhalt der ersten Kiste zeigten sie am wenigsten Interesse. Was nicht verwunderlich war, enthielt sie doch nur zwölf saubere rostbraune Servantenoveralls und zwölf Tornister sowie Seile, etwas Proviant und andere Ausrüstungsgegenstände.
Doch schon die nächsten beiden Kisten ließen ihre Augen glänzen, als dort die ersten sechs ihrer zwölf modernen Schnellfeuergewehre zum Vorschein kamen.
Liang und Akahito griffen sich sofort ein Gewehr, testeten, wie gut es in den Händen lag und ausbalanciert war, drehten und wendeten es und strichen geradezu zärtlich über das matte Metall. Selbst Kaito Yakimura griff nach einem. Und es war klar, dass jeder von ihnen ein solches Gewehr für sich beanspruchte – womit sich der Umfang der beanspruchten »Gastgeschenke« aber noch längst nicht erschöpfte, wie sich zeigen sollte.
Die Kisten mit den acht Maschinenpistolen und Handfeuerwaffen sowie den Mengen an Munition, Sprechfunkgeräten, Stabtaschenlampen und Ferngläsern zauberten ein überaus zufriedenes Lächeln auf ihre Gesichter. Doch als sie dann die Bazooka, zwei Dutzend Granaten mit Raketenantrieb, die Blend-und Handgranaten sowie die handlichen Kartons mit Plastiksprengstoffpaketen und Zündern zu Gesicht bekamen, fielen sie in ein fast andächtiges Staunen.
»Heiliges Kanonenrohr! Eine Bazooka und eine ganze Kiste voll Sprengstoff, Handgranaten und Granatraketen und dazu Unmengen von Munition!«, entfuhr es Akahito. In diesem Moment sah er aus wie ein kleiner Junge, der einen Märchenschatz gefunden hat. »Diese Waffen reichen aus, um einen richtigen kleinen Krieg vom Zaun zu brechen – und ihn womöglich sogar zu gewinnen!«
»In der Tat«, pflichtete Kaito Yakimura ihm bei. »Das ändert so einiges …«
Kendira horchte sofort auf. »Was meinen Sie damit, Tai-Pan?«
»Ja, was ändert das, was wir da in den Kisten haben?«, hakte auch Carson nach. »Haben wir mit dieser Bewaffnung vielleicht doch noch eine Chance, Tomamato Island einzunehmen und unsere Freunde zu befreien?«
Kaito Yakimura ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Er schürzte die Lippen, kratzte sich nachdenklich am Kinn und wiegte den Kopf hin und her, als wöge er im Geiste das Für und Wider ab.
»Nein«, sagte er schließlich und schüttelte den Kopf. »Ihr habt nicht die geringste Chance, unbemerkt auf die Insel zu kommen und die schwer bewaffneten Wachmannschaften auszuschalten. Das könnt ihr gleich wieder vergessen.«
Seine unverblümte Einschätzung rief maßlose Enttäuschung hervor, die sich deutlich auf allen Gesichtern zeigte.
Dann jedoch fügte er einschränkend hinzu: »Zumindest nicht im Alleingang. Aber wenn es euch gelingt, Major Marquez für euer Vorhaben zu gewinnen, könnte es vielleicht machbar sein.«
Seine Worte schlugen unter den Libertianern wie eine Bombe ein.