50
Eine knappe Stunde später trafen sie auf den alten Spike. Der Geruch von gebratenem Fleisch führte sie zu ihm in die Ruine eines Hinterhofs.
Genau genommen wies der Geruch nur dem Runner den Weg zu dem Alten. Denn während Dusty schon das Feuer roch, wähnten sich die Libertianer noch ausschließlich von dem beißenden Latrinengestank umgeben, der den Gruben zwischen den vorgelagerten, hüfthohen Trümmerhaufen entwich. Aber vielleicht wusste Dusty ja auch, dass der alte Spike in dieser Mauerecke um eine Kellertreppe herum anzutreffen war, die von einem Hinterhof zwischen mehreren völlig zusammengestürzten Wohnhäusern aus Ziegelstein stehen geblieben war.
Spike war eine klapprige, in Lumpen gehüllte Gestalt mit einem spitzen, vogelartigen Gesicht und einer heiseren Stimme, die dem Krächzen einer Krähe alle Ehre gemacht hätte. Er saß auf einem umgedrehten Blecheimer vor einem primitiven Feuerring, den er aus nachlässig aufeinandergeschichteten Backsteinen errichtet hatte. Über dem Bett der heißen Glut hing an einer verbogenen Metallstange, dessen eines Ende mit einem schmutzigen Lappen umwickelt war, der aufgespießte magere Körper eines abgezogenen Tieres samt Kopf. Der Eisenspieß ragte aus dem weit aufgerissenen Maul. Mit seinen gebleckten Zähnen sah es so aus, als wären die Kiefer der Kreatur im Moment des Todesschreis in genau dieser Stellung erstarrt. Augen besaß das Tier zum Glück keine mehr, sondern nur noch schwarze Brandhöhlen. Die Flammen hatten das wenige Fleisch, das sich an den Knochen befunden hatte, mehr verbrannt als durchgebraten.
»Spike, du alte Ratte, du lebst ja immer noch!«, rief Dusty ihm zu und blickte über den oberen Rand seiner grünen Brillengläser hinweg auf ihn hinunter. »Schätze mal, du willst wohl gar nicht sterben, was?«
»Dich scheint die Hölle ja auch immer wieder im letzten Moment auszuspucken, Dusty!«, erwiderte Spike ähnlich derb. Dabei glitt der Blick der kleinen dunklen Augen in seinem fleckigen, stoppelbärtigen Gesicht, das mit den vielen Narben einer wüst zerklüfteten Felswand ähnelte, blitzschnell und wachsam über die Begleiter des Runners. »Muss an deiner unverdaulichen Albino-Natur liegen, dass nich’ mal der Teufel scharf auf deine Seele ist!«
Dusty lachte. »Der verfluchte Schwefelstinker und ich, wir haben ein Abkommen. Schätze mal, er lässt mich in Ruhe, solange ich ihm nicht in die Suppe spucke«, scherzte er leichthin und setzte sich zu ihm an den Feuerring.
»Keine Sorge, der Abyss kriegt auch dich noch bei deiner weißen Mähne! Und dann frisst er dich mit Haut und Haaren, saugt dir deine rosablauen Augen aus’m Schädel und zermalmt dir hübsch langsam die Knochen«, versicherte Spike heiser kichernd, kratzte sich mit der Messerspitze zwischen seinen verfilzten Haaren und säbelte sich dann ein Stück geschwärztes Fleisch vom Bratspieß. Der rote Schein der Glut fiel dabei auf schrundige Hände mit spinnenartig dünnen Fingern. »Na los, lang zu, nimm ’n ordentlichen Happen! Hängt noch genug an dem Vieh! Der Köter war noch gut im Futter, als er mir vorhin über den Weg gelaufen ist. Muss aus den Lowlands kommen und sich erst vor Kurzem zu uns verlaufen haben.«
Kendira tauschte mit Dante einen schnellen Blick. Das war also ein Hund, was da mit aufgerissenem Maul und von sich gestreckten, erstarrten Gliedern auf dem Spieß steckte! Plötzlich konnte sie den intensiven Geruch verbrannten Fleisches nicht mehr ertragen und atmete ab jetzt nur noch durch den Mund.
Dusty bedeutete den Libertianern, sich zu ihnen an den Feuerring zu setzen.
»Spike war einmal einer der besten Runner und Broker seiner Zeit«, teilte Dusty ihnen mit, zog dabei ein Messer hervor und schnitt sich einen Fetzen Brandfleisch ab.
»Ich war nicht einer der Besten, sondern der Beste!«, korrigierte ihn Spike und zog das Stück Fleisch, das er sich gerade abgesäbelt hatte, mit dunklen, angefaulten Zähnen von seiner Messerklinge.
»Schätze mal, dass du das wirklich warst, Spike«, räumte Dusty ein. »Umso größer die Schande, wenn man sieht, was du daraus gemacht hast.«
Der Alte zuckte gleichmütig die Achseln. »Tja, hätt mich wohl absetzen sollen, als ich noch die Mittel dazu hatte, hab aber dummerweise immer wieder den richtigen Zeitpunkt für den Absprung verpasst.«
»Vor allem hättest du die Finger von den verdammten Drogen und den Karten lassen sollen!«
Spike lachte spöttisch auf. »Sterben wär mir leichter gefallen.« Dann deutete er mit seinem Messer auf die neun Mädchen und Jungen, die sich hinter Dusty auf die Trümmer gesetzt hatten, und sagte: »So, du hast dir also den Job geangelt, die überlebenden Morituri durch die Dunkelwelt zu schleusen. Hab dich für cleverer gehalten.«
Dusty zuckte bei dem Wort »Morituri« unmerklich zusammen. »Du weißt, wer sie sind?«, stieß er argwöhnisch hervor.
Spike lachte meckernd. »Mann, Dusty, das fragste noch? Das mit dem Absturz des Hyperion-Choppers und den Morituri, die da wundersamerweise lebend aus dem Wrack gekrochen sind, ist doch wie ’n Lauffeuer durch die Dunkelwelt gerast! Davon hab ich schon vor etlichen Stunden gehört!«
Dusty seufzte und sagte verdrossen: »Schätze mal, dass das nicht anders zu erwarten war. Obwohl ich gehofft hatte, dass sich die Nachricht davon etwas langsamer verbreiten würde.«
»Wo bringste se hin?«, fragte Spike beiläufig, als ginge es ihm nur darum, freundliche Konversation zu machen.
»Du weißt, dass ich dir das nicht sagen kann.«
Spike winkte ab. »Natürlich, interessiert mich auch nich’ wirklich. Bin längs’ aus’m Rennen«, brummte er und säbelte wieder am Hundebraten herum. »Dachte nur, ich könnt dir mit dem helfen, was mir zu Ohren gekommen ist. Immerhin sitze ich näher an den Informationsquellen, die aus’m Shadowland sickern, als du dort im feinen Stinky Liar’s.«
»Und was hörst du so?«
»Die Islander machen Jagd auf euch«, teilte Spike ihnen trocken mit. »Da ist ’ne groß angelegte Suchaktion nach euch angelaufen.«
»Verdammt!«, fluchte Dusty.
»Und in diesem Fall juckt es keinen, dass du Runner und Broker bist und auch für die Islander schon so manch einen Deal erfolgreich ausgehandelt hast«, fuhr Spike fast hämisch fort. »Hyperion will, dass das eintritt, was den Todgeweihten von Anfang an bestimmt gewesen ist, nur eben hier bei uns anstatt auf dem Rock. Jaja, tot will Hyperion deine junge Kundschaft sehen. Und zwar ’n bisschen plötzlich. Und dich gleich mit dazu. Macht sich nich’ gut, wenn du davonkommst.«
Dusty ballte die Faust und hieb sich aufs Knie. »Verdammt, dann wird es jetzt eng!«, murmelte er sichtlich bestürzt.
»Worauf du einen lassen kannst! Aber noch haste ’ne Chance, ihnen die Tour zu vermasseln.«
»Offenbar gibt es da noch etwas, das ich wissen sollte?«
Spike nickte. »Es hat einige Stunden gedauert, bis Hyperion die Einzelheiten zusammenhatte und dann damit beginnen konnte, all seine Söldnereinheiten zu mobilisieren und von drüben auf den Weg zu schicken. Die meisten Konvois sind vermutlich noch unterwegs zu ihren Stellungen. Also mit ’n bisschen Glück kommt ihr noch durch, bevor sich das Netz um euch zuzieht und ihr zwischen den Maschen zappelt.«
»Hast du genauere Infos?«
»Kommt ganz drauf an. Manchmal entfallen mir ganz plötzlich Sachen, die ich gerade noch gewusst hab. Bin eben auch hier oben nicht mehr ganz so fit wie früher.« Spike tippte sich dabei mit dem Messer gegen die Stirn und grinste verschlagen, als er fortfuhr: »Aber weg isses nich’, nur ’n bissen verschüttet. Muss mein Gedächtnis manchmal erst wieder in Schwung bringen, damit mir all der Kram wieder einfällt – wenn de verstehst, was ich meine, Kumpel.«
»Ich verstehe dich nur zu gut!«, brummte Dusty.
»Und? Haste zufällig was für mich dabei, was meiner Erinnerung schnell wieder auf die Sprünge hilft?«, fragte er und leckte sich über die rissigen Lippen, als läge auf ihnen schon der Vorgeschmack des Erhofften.
Dusty griff in die Tasche seines weiten Mantels, brachte eine der mit Drogen gefüllten Streichholzschachteln zutage und warf sie ihm zu. »Wie steht’s jetzt mit deiner Erinnerung? Läuft sie wieder an, Spike?«
In den Augen des Alten leuchtete die unstillbare Gier des Süchtigen auf. »Land of Glory?«, stieß er erregt hervor und riss die Silberfolie auf.
»Nein, Angeldust.«
Das erregte Leuchten verlor ein wenig von seiner wilden Kraft. »Angeldust is nich’ übel, wirklich nich’. Aber mit Land of Glory wirkt’s bei mir besser, Dusty. Na komm schon, ich weiß doch, dass du ohne genug Vorrat nicht auf so ’nen Trip durch das Shadowland gehst!«
»Okay, okay! Was soll es mich kümmern, womit du dich umbringst!« Dusty verzog das Gesicht zu einer Grimasse, griff mit unverkennbarem Widerwillen in die andere Manteltasche und warf ihm eine Schachtel mit Land of Glory zu. »Aber wenn dein Gedächtnis jetzt nicht wie geschmiert funktioniert, nehme ich dir das Dreckszeug wieder ab, das sage ich dir!«
Blitzschnell ließ Spike die beiden Drogenpäckchen in seinen Lumpen verschwinden und bleckte das faulige Gebiss zu einem breiten Grinsen. »Keine Sorge, bin oben im Dachstübchen jetzt wieder auf vollen Touren!«, versicherte er.
»Dann erzähl, was du gehört hast!«
Spike räusperte sich umständlich und sah sich übertrieben argwöhnisch um, als lauerten Lauscher in der Nähe. Dann beugte er sich vor und sagte verschwörerisch: »Ich weiß ja nich’, auf welcher Route du deine Schäflein durchs Shadowland bringen wolltest. Aber ich nehme mal an, dass du nich’ hier in der Gegend wärst, wenn du nich’ die Abkürzung durch die Coffins Alley nehmen und dann in Richtung Cutthroat Hill wolltest.«
»Nehmen wir mal an, es wäre so«, knurrte Dusty und gab ihm damit zu verstehen, dass er genau das vorgehabt hatte. »Was dann?«
Spike lächelte befriedigt, dass er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte. »Dann vergiss die Route! Selbst wenn du noch durch die Coffins Alley kommst, der Bezirk um Cutthroat Hill ist längst dicht! Und dann steckst du in der Falle.«
Dusty zog die Unterlippe zwischen die Zähne und nagte einen Augenblick darauf herum. »Schätze mal, ich könnte hinter Doc Ricker’s Death Factory einen Bogen schlagen und hinten über die Slaughterhouse Street und Butcher’s Basin …«
»Kannste gleich wieder vergessen!«, unterbrach Spike ihn. »Da in dem Viertel waren heute Morgen schon zwei Konvois auf Raubzug. Es heißt, dass Hyperion der Nachschub an Zink, Nickel, Chrom, Kupfer, Aluminium und anderen Metallen für seine Fabriken knapp wird. Die Islander sollen möglichst viel von dem Zeug heranschaffen. Wie auch immer, jedenfalls wird es dort von dem grauschwarzen Gesindel nur so wimmeln. Unmöglich, in dem Viertel mit neun Kids durchzukommen.«
Die herablassende Bezeichnung »Kids« brachte Spike einige empörte Blicke ein. Aber niemand sagte ein Wort, zu groß waren Beklemmung und Furcht. Allein schon all die vielen schaudervollen Namen zu hören, die in dem Gespräch zwischen Dusty und dem Alten fielen, ließ ihnen die Haare zu Berge stehen und jagte ihnen einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Da fielen nach Slaughterhouse Street, Butcher’s Basin und Coffins Alley Bezeichnungen wie Hangman’s Corner, Pandemonium Plaza, Dead Men’s Cove und Dead Men’s Quarter, The Bloods, The Seven Skulls und The Devil’s Own sowie Bishop’s Bonfires, Staircase to Hell und Starvation Ruins.
»Schätze mal, du hast recht, dass die sicherste Route die durch das Dead Men’s Quarter ist«, sagte Dusty schließlich. »Obwohl es mir gar nicht gefällt, dass ich vorher mehrere Kilometer lang den Black Water Canal in meinem Rücken und im Osten die alten Kläranlagen habe. Diese Barrieren beschneiden die Fluchtmöglichkeiten in der Gegend erheblich.«
Spike zuckte die Achseln. »Dafür haste dann das Labyrinth des alten Güterbahnhofs und der umliegenden Fabrikanlagen auf deiner Seite. Das riesige Gelände einigermaßen dicht abzusperren, schaffen die Islander nich’ – nich’ mal, wenn sie mit doppelter Mannschaftsstärke da einrücken könnten.«
Dusty nickte. »Das hat was für sich«, sagte er und erhob sich. »Wir müssen weiter!« Sein Abschied von Spike fiel so derb aus wie seine Begrüßung. »Zieh dir nicht alles auf einmal rein von dem Dreckzeug, Spike. Aber vermutlich kann dir ja gar nichts Besseres passieren. Schätze mal, so ein Abgang im Rausch ist diesem langsamen Vor-die-Hunde-Gehen vorzuziehen.«
Spike kicherte und wedelte mit seinen knöchrigen Spinnenfingern nach ihm. »Du bist vor mir dran, Cowboy! Denk an meine Worte! Der Abyss holt dich und frisst dich bei lebendigem Leib, lange bevor ich den Abgang mache!«
Dusty wandte ihm ohne eine Antwort den Rücken zu, verließ die geschützte Mauerecke und stiefelte über die Trümmerhaufen zurück auf die Straße.
»Ein Wunder, dass dieser Spike es hier in der Dunkelwelt zu einem so hohen Alter geschafft hat«, sagte Nekia zu Kendira. »Der Mann muss doch weit über siebzig sein.«
»Weit über siebzig?« Dusty drehte sich kurz zu ihnen um und lachte trocken auf. »Spike ist noch keine fünfundvierzig – und wird es vermutlich auch nicht werden.« Dann bückte er sich und machte sich kurz an seinen Boots zu schaffen.
Als er sich wieder aufrichtete und sogleich ein schnelles Tempo vorlegte, gaben die Sporen auf einmal kein Geräusch mehr von sich. Offensichtlich gab es an ihnen eine Vorrichtung, um die gezackten Metallräder feststellen und zum Schweigen bringen zu können.
Dass die Sporen ihres Runners nicht länger klirrten, wirkte auf Kendira unheilvoller und beklemmender als all die schaurigen Ortsbezeichnungen, die sie vor wenigen Minuten gehört hatte. Aber das war nichts im Vergleich zu der eisigen Gewissheit, dass die Islander Jagd auf sie machten und sich selbst ein Runner und Broker wie Dusty Tumbleweed vor den Gefahren fürchteten, die vor ihnen lauerten.