10

Carson zwängte sich hinter Dante durch den Felsspalt und gelangte Augenblicke später mit ihm in die letzte große Höhle vor dem Ausstieg, dicht gefolgt von Jedediah und seinen Männern. Jetzt trennte sie nur noch ein schräg aufsteigender Kriechtunnel von der Welt dort oben, wo man frei atmen konnte und nicht Tausende Tonnen Gestein, sondern den weiten Himmel über sich hatte.

Nur mit Mühe unterdrückte er einen Seufzer der Erleichterung. »Und wenn ich mich noch so oft durch dieses unterirdische Labyrinth plagen muss, ich werde mich nie daran gewöhnen«, raunte er.

»Gehört auch nicht zu meinen liebsten Betätigungen«, räumte Dante schwer atmend ein und wischte sich Dreck und Schweiß von der Stirn. »Aber wir können stolz auf uns sein. Fünfundfünfzig Minuten vom Einstieg im Totenwald bis hierher, das ist Rekord!«

Carson setzte ein schiefes Grinsen auf. »Ich denke mal, diesen Rekord wird auch so schnell keiner brechen, weil es bald bequemere und schnellere Wege in die umliegenden Wälder gibt.« Jedediah trat zu ihnen. »Wie weit noch?«, erkundigte er sich. Aus seiner Stimme klang keine Ungeduld, sondern nur das ruhig geäußerte Interesse an einer sachlichen Information. Zwar rann auch ihm der Schweiß über das Gesicht, was bei seiner Kopfbedeckung kaum verwunderlich war. Aber außer Atem war er nicht.

»Wir haben es so gut wie geschafft. Wir müssen nur noch ungefähr sechzig, siebzig Meter durch diesen Kriechtunnel«, sagte Dante und deutete mit einer Kopfbewegung auf den breiten, aber nur hüfthohen Schlitz, der sich hinter ihm fast waagerecht durch die Felswand zog.

»Und wo kommen wir am Ende dieses Tunnels raus?«

»Im Wald, an einer recht abgelegenen Stelle. Und zwar in einer Felsspalte westlich des Sees. Also weit weg von den üblichen Routen der Guardians.«

Jedediah nickte.

»Aber bevor ich oben nach dem Rechten sehe, schlage ich vor, dass wir hier eine Atempause einlegen und uns sammeln.«

»Gut«, sagte Jedediah nur.

Immer mehr Wolf-Leute und Bones trafen in der Höhle ein. Es war ein scheinbar endloser Strom von düsteren, bis an die Zähne bewaffneten Gestalten, der sich durch den engen Durchgang in den kuppelartigen Raum ergoss. Im flackernden Licht von zwei rußenden Pechfackeln erschien es Dante, als spuckte die finstere Unterwelt zwei besonders Furcht einflößende Horden ihrer dämonischen Bewohner aus.

Es war ihm ein Rätsel, wie die Mountain Men es fertiggebracht hatten, ihre Fackeln in den schwierigen und engen Passagen am Brennen zu halten. Und dass die Wolf-Leute ihren sperrigen Kopfschmuck in den engen und niedrigen Tunnels nicht verloren oder ramponiert hatten, war ebenfalls erstaunlich.

Überhaupt hatten die Mountain Men beider Clans selbst die schwierigsten Passagen ohne mit der Wimper zu zucken überwunden, als handelte es sich dabei um einen Spaziergang. Mit katzengleicher Schnelligkeit und traumwandlerischer Sicherheit waren sie sogar über gähnende Abgründe hinwegbalanciert, und das schwer behängt mit sperrigen Waffen, Magazingurten, vollgestopften Umhängetaschen sowie Tornistern und Pfeilköchern auf dem Rücken!

Scalper Skid zwängte sich durch die Menge. »Warum stehen wir denn hier herum? Habt ihr euch verirrt oder ist euch bloß die Puste ausgegangen?«

»Weder noch«, sagte Dante.

»Und warum geht’s dann nicht weiter, Schwarzzopf?«

»Damit ich dir und allen anderen sagen kann, dass hier niemand laut herumbrüllen soll, weil wir uns schon nahe am Ausstieg befinden!«, erwiderte Dante. »Und bevor ihr lärmend die letzte Etappe angeht«, fuhr er fort, »sehe ich oben erst mal nach, ob die Luft rein ist und meine Leute bereitstehen, um euch auf Schleichwegen zur Lichtburg zu bringen.«

Scalper Skid nickte gönnerhaft. »Na, dann lass dich nicht aufhalten!«

»Ist auch nicht meine Absicht, Schlangenkopf«, antwortete Dante und wandte sich dann an Jedediah: »Sorgt ihr indessen dafür, dass die Fackeln gelöscht werden, eure Männer sich still verhalten und gleich möglichst wenig Lärm mit ihren Waffen und dem Gepäck machen, wenn sie oben an den Ausstieg kommen. Dass eine der Nachtstreifen hier vorbeikommt, ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber …«

»… man hat auch schon mal Pferde kotzen sehen«, beendete Jedediah den Satz für ihn, wenn auch nicht mit den Worten, die Dante im Sinn gehabt hatte.

Dante lächelte. »Genau, sicher ist sicher.« Und zu Carson sagte er: »Ich gebe dir mit der Taschenlampe das Zeichen, wenn oben alles klar ist, okay?«

»Okay.«

»Und dann läuft der Countdown – und für Primas Templeton und all die anderen Oberen läuft die Uhr ab! Jetzt gilt es, Carson!« Spontan streckte er ihm die Hand hin, als müsste er sich, so kurz bevor die wüste Truppe an die Oberfläche kroch und nach der Macht über Liberty 9 griff, noch einmal ihrer unverbrüchlichen Kameradschaft versichern.

Carson sprang auf und schlug ein. »Ja, jetzt wird abgerechnet! Und du hast recht gehabt, Dante. Was alle für unmöglich gehalten haben, ich eingeschlossen, ist vielleicht doch möglich! Liberty 9 wird heute das Joch der Tyrannei abwerfen und frei sein – koste es, was es wolle!«

Scalper Skid verdrehte die Augen, hielt sich jedoch mit einem spöttischen Kommentar zurück, der ihm zweifellos schon auf der Zunge lag.

Dante gab nichts darum. Er zog sich hinauf in den Felsspalt und kroch auf Händen und Füßen in Richtung der Öffnung nach draußen. Jaydan hatte sie vor Monaten entdeckt. Sie verbarg sich hinter einem dichten Vorhang aus miteinander verflochtenen immergrünen Efeuranken.

Es war ein mühsamer und auch schmerzhafter Aufstieg. Die sechzig, siebzig Meter mussten hart erkämpft werden. Denn viel loses Gestein bedeckte den Boden und die Spitzen und Kanten der kleinen Steine stachen in Knie und Handflächen. Auch wies die niedrige Decke reichlich viele und scharfe Felsvorsprünge auf, an denen sie sich bei ihren nächtlichen Erkundungen schon mehr als eine blutige Schramme geholt hatten.

Als Dante nur noch etwa zehn Meter vom Ausstieg entfernt war, zog er seine Taschenlampe hervor, richtete sie auf die Öffnung und ließ sie dreimal kurz aufleuchten.

Wenige Sekunden später wurde dort oben der Efeuvorhang zur Seite geschoben und fast im selben Moment drangen die aufgeregten Stimmen von Kendira und Nekia zu ihm herunter.

»Carson? … Dante? … Seid ihr es?«, rief Nekia gedämpft.

»Natürlich sind sie es!«, kam es sofort von Kendira, mit einem leisen Lachen in der Stimme. »Wer soll es denn sonst sein? Vielleicht Geister aus der Unterwelt?«

Dante lachte leise auf. »Nein, aber die kommen auch gleich. Ich bin es, Dante.«

»Das wurde auch langsam Zeit«, rief nun Zeno in den Tunnel. »Viel länger hätte ich diese elende Warterei auch nicht mehr ausgehalten. Auf heißen Kohlen zu hocken, ist ja nichts dagegen! Sag, habt ihr die Bones dabei?«

»Mann, Zeno! Lass ihn doch erst mal aus dem Loch klettern und zu Atem kommen!«, wies Kendira ihn zurecht.

Kurz darauf schob sich Dante durch den Ausgang der länglichen Felsspalte. Hilfreiche Hände streckten sich ihm entgegen und zogen ihn hinaus ins Freie. Sein erster dankbarer Blick ging hinauf zum Nachthimmel. Die Bäume rechts und links ließen zwischen den schwarzen Scherenschnitten ihrer Wipfel einen schmalen Streifen Firmament erkennen, und das war mehr als genug.

»Wie gut es doch tut, endlich wieder den Himmel über sich zu haben!«, sagte er, reckte und streckte die schmerzenden Glieder und sog die kühle Waldluft tief in seine Lungen.

»Wir sind auch froh, dass ihr endlich zurück seid«, sagte Kendira mit einem warmen Lächeln. Wie sehr sie sich um Dante und Carson gesorgt hatte! »Zeno hat schon recht, das stundenlange Warten hat entsetzlich an den Nerven gezehrt.«

Dante bemerkte nun Hailey hinter Kendira. »Wie kommst du denn hierher?«, fragte er verwundert.

Nekia schenkte ihm ein breites Lächeln und ihre schneeweißen Zähne leuchteten in ihrem dunklen, karamellbraunen Gesicht wie angestrahlt. »Sie hatte im alten Heckenlabyrinth ein heimliches Date mit Indigo und ist uns auf dem Rückweg in die Arme gelaufen.«

»Da blieb uns gar nichts anderes übrig, als sie in alles einzuweihen«, erklärte Kendira. »Das war natürlich ein Schock für sie.«

Hailey nickte mit grimmiger Miene. »Ich habe natürlich schon was geahnt. Vor allem nach der schrecklichen Geschichte mit Sinfora. Aber dennoch hat es mich fast umgehauen, als ich erfuhr, was hier wirklich mit uns getrieben wird.«

»Jedenfalls gut, dass du mit dabei bist«, sagte Dante. »So, und jetzt muss ich …«

»Du musst gar nichts – bis auf das, was ich dir und deinen Komplizen befehle!«, fiel ihm eine höhnisch kalte Stimme ins Wort.

Rainer M. Schröder - Liberty 9 Band 2 - Todeszone
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