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Der schwarze Umriss des alten Geräteschuppens zeichnete sich vor ihnen ab, und unwillkürlich dachte Kendira an jene Mittagsstunde, in der sie sich dort zum ersten Mal heimlich mit Dante getroffen hatte.
Bis zu dem Tag hatte sie sich nie ernstliche Gedanken über das bittere Schicksal der Servanten gemacht, geschweige denn sich gefragt, welche Träume und Ängste sie wohl haben mochten. Servanten waren dazu bestimmt, den Electoren alle lästigen Arbeiten abzunehmen, damit diese sich völlig ungestört auf ihre Ausbildung zum hochwürdigen Dienst im Lichttempel konzentrieren konnten.
So hatte man es ihr und allen anderen beigebracht.
Wie sicher war sie sich damals noch ihrer Welt und ihrer besonderen Berufung gewesen – und wie schnell hatte Dante diese Welt als Lügengebäude entlarvt und zum Einsturz gebracht! Eine halbe Ewigkeit schien ihr erstes langes Gespräch zurückzuliegen – und dabei waren in Wirklichkeit doch noch nicht einmal zwei Wochen vergangen. Und seitdem war eine wahre Flut von erschütternden Ereignissen und Erkenntnissen auf sie eingestürzt.
Nekia schienen ähnliche Gedanken zu bewegen. »Hoffentlich können wir die anderen dazu bringen, uns zu glauben und sich nicht gegen uns zu stellen«, flüsterte sie.
Gerade waren sie in den breiten Durchgang zwischen dem Geräteschuppen auf der linken und dem Heckenlabyrinth auf der rechten Seite eingebogen, als Kendira in der schon recht löchrigen Heckenreihe das Rascheln und Knacken von Zweigen wahrnahm.
Sie gab einen warnenden Zischlaut von sich, packte Nekia am Arm und zog sie mit sich in den tiefen Schlagschatten der Schuppenwand.
Sie pressten sich gegen die alten Bretter, aus denen das Gebäude errichtet war, und hielten den Atem an. Im nächsten Moment tauchte auch schon eine schattenhafte Gestalt mit hochgeschlagener Kapuze aus einer Lücke in der immergrünen Mauer des Labyrinths auf, huschte am Durchgang vorbei und war einen Herzschlag später hinter dem Schuppen verschwunden.
»Erhabene Macht, das war aber knapp!«, raunte Nekia. »Wer war das, was meinst du?«
»Keine Ahnung, ein Guardian jedenfalls nicht«, sagte Kendira. »Das war jemand in einer Kutte. Außerdem gehen Guardians innerhalb der Sicherheitszone doch immer zu zweit auf Nachtstreife.«
»Dann war es einer von uns oder ein Servant. Ob er uns bemerkt hat?«
»Sah mir nicht so aus. Dafür hätte er ja den Kopf drehen und zu uns in den Durchgang blicken müssen.«
»Stimmt. Er oder sie hat es sehr eilig gehabt, von hier zu verschwinden.«
Sie warteten noch zwei, drei Sekunden und lauschten angestrengt in die Nacht. Es blieb jedoch still. Keiner sprang um die Ecke und forderte sie auf, herauszukommen und sich zu erkennen zu geben. Und so lösten sie sich aus der tiefen Schwärze der Schuppenwand und gingen weiter den Durchgang entlang.
»Möchte wissen, wer das gewesen ist und was er hier um diese Zeit zu suchen hatte«, flüsterte Nekia.
»Das würde er bestimmt auch von uns wissen wollen, wenn er uns gesehen hätte«, gab Kendira zurück.
»Na, er vielleicht nicht, ich aber schon!«, kam da eine sarkastische Stimme von rechts. Sie schien geradewegs der Hecke zu entspringen.
Die Stimme war wie ein Peitschenhieb aus dem Hinterhalt. Abrupt, als wären sie gegen ein unsichtbares Hindernis gestoßen, blieben sie stehen.
Und noch während ihr Herz für einen kurzen Moment auszusetzen schien, zwängte sich auch schon ein kräftig gebautes Mädchen mit einem flammenden roten Haarschopf und einem Meer von Sommersprossen auf der milchhellen Haut durch einen Heckenspalt und trat in das helle Mondlicht.
»Hailey?«, stieß Kendira fassungslos und erleichtert zugleich hervor. Einer ihrer Freundinnen hier unverhofft gegenüberzustehen, war, auch wenn Hailey nicht zu den Eingeweihten gehörte, immer noch das kleinere Übel im Vergleich zu der Katastrophe, die eine nächtliche Begegnung mit einem ihrer Oberen bedeutet hätte.
»Was um alles in der Welt machst du hier?«, fragte Nekia ähnlich baff.
Hailey verzog das Gesicht zu einer spöttischen Miene. »Das dürfte wohl nicht schwer zu erraten sein. Sicher habt ihr Indigo, meinen neuen Freund, doch gerade davoneilen sehen. Jetzt wüsste ich aber auch gern, warum ihr euch zu dieser Nachtstunde hier herumtreibt. Ich glaube nicht, dass ihr euch beide gleichzeitig mit Carson verabredet habt. Also, was habt ihr hier zu suchen? Für irgendwelche Liebesspiele hättet ihr ja einfach im Bett bleiben können!«
Diese Reaktion war mal wieder typisch für Hailey. Sie verstand sich darauf, in einer Position der Defensive den Spieß umzudrehen. Unsicherheit und Verlegenheit ließ Hailey nicht zu. Zumindest gab sie äußerlich nichts davon zu erkennen. Was wirklich in ihr vor sich ging, verbarg sie hinter einem burschikosen Wesen.
»Spinn doch nicht!«, erwiderte Nekia entrüstet, und Kendira hätte schwören mögen, dass ihrer Freundin das Blut ins Gesicht schoss. Was bei ihrer dunklen Haut natürlich selbst bei Tageslicht kaum zu erkennen gewesen wäre.
»Stimmt ja, ihr tut so was nicht«, neckte Hailey sie und zwinkerte Kendira zu. »Also, was macht ihr hier?«
Nekia sah Kendira fragend an. »Was meinst du, sollen wir?«
Kendira nickte kurz entschlossen. »Aber nicht hier. Wir müssen schnell verschwinden, bevor uns noch jemand entdeckt«, sagte sie leise.
Nekia pflichtete ihr bei: »Denn ob wir es ihr jetzt erzählen oder später mit den anderen, bleibt sich ja wohl gleich.«
»Ja, besser jetzt schon«, erwiderte Kendira. »Wir können ihr vertrauen. Ihr werden schnell die Augen aufgehen, und einen Eingeweihten mehr, auf den nachher Verlass ist, wenn der Tanz beginnt, können wir bestimmt gut brauchen.«
Hailey blickte verwirrt zwischen ihnen hin und her. »Hey, nun mal langsam!«, protestierte sie. »Wovon redet ihr? Und in was für einen Tanz wollt ihr mich einweihen? Wisst ihr eigentlich, wie ihr euch anhört? Als ob ihr hier oben nicht mehr all eure Murmeln zusammenhabt!« Sie tippte sich an die Stirn.
Kendira lachte kurz leise auf, um jedoch sofort wieder ernst zu werden. »Hör dir erst mal an, was wir zu sagen haben. Dann wirst du sehen, dass wir nicht durchgeknallt sind. Aber das können wir dir unmöglich hier auseinanderlegen. Man darf uns nicht erwischen. Es steht zu viel auf dem Spiel!«
Hailey zögerte kurz und nickte dann. »Also gut, ich höre es mir an. Wo wollen wir hingehen?«
»In unser altes Baumhaus«, sagte Kendira. Es gab mehr als ein Dutzend Baumhäuser in dem naturbelassenen, waldreichen Gelände, das sich rund um den großen Liberty Lake und bis nahe an die nördliche Umgrenzung erstreckte. »Da sind wir sicher. Und jetzt nichts wie weg von hier!«
»Erhabene Macht, so tief wollt ihr in den Wald? Ihr macht es wirklich verdammt geheimnisvoll und …«, murmelte Hailey. Dann schlich sie mit Kendira und Nekia unter angespanntem Schweigen durch das vertraute parkähnliche Gelände, das jedoch schon bald, kurz vor dem Vista Hill, in dichten Wald überging.
Nach etwa einer Viertelstunde hatten sie die alte, knorrige Lebenseiche erreicht. Der mächtige Baum ragte am westlichen Rand einer kleinen Lichtung auf. In sechs, sieben Meter Höhe hatten sie in die Kuhle zwischen drei fast mannsdicken Ästen die Balkenkonstruktion eingefügt, auf die sie die Bretter des Bodens genagelt hatten. Die Wände machten einen windschiefen Eindruck, was auch auf die Fensteröffnungen und ihre viel zu großen Läden zutraf. Aber alles war solide zusammengezimmert.
Eine Strickleiter hing von der kleinen Balkenplattform herunter, die sich vor dem Eingang, der mit einem Stück alter Plane verhängt war, einen Meter über den Abgrund hinaus erstreckte. Hailey fragte erst gar nicht lange, sondern kletterte als Erste die Strickleiter hinauf. Augenblicke später zog sie sich zwischen den Seilen, die als Geländer fungierten, auf die Plattform, kroch auf Knien zum Eingang und warf die alte, speckige Plane zurück. In dem Moment flammte im Innern des Baumhauses eine Taschenlampe auf, deren Lichtschein von einem roten Tuch stark gedämpft war. Es beleuchtete von unten ein rundes, fülliges Gesicht mit murmelkleinen Augen und einer kurzen Himmelfahrtsnase. Das unnatürlich rote Licht verzerrte die Gesichtszüge und verlieh ihnen ein schauriges Aussehen.
Hailey erschrak unwillkürlich.
Das Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. »Nur hereinspaziert, Hailey! Auch du bist zum hochwürdigen Tod im Lichttempel berufen!«