TOMAMATO ISLAND
Duke und seine Gefährten machten große Augen. Seit Tagen hatte die zwölf Neuankömmlinge voller Ungeduld und Neugier darauf gewartet, endlich in die Schaltzentrale des Großen Dampferzeugers geführt und dort in die aufregende Arbeit an den Konsolen eingewiesen zu werden. Zwar hatte Arkan ihnen den Raum und einige der Funktionen schon grob beschrieben. Aber er war wohl nicht ganz bei der Sache gewesen. Denn auf das, was sie nun mit ihren eigenen Augen sahen, hatte er sie nicht vorbereitet. Umso größer war ihr Staunen, als Tec Master Blackstone sie an diesem frühen Morgen endlich nach oben in die Schaltzentrale führte.
»Erhabene Macht!«, entfuhr es Duke unwillkürlich.
»Und das ist nur eine Übungsanlage für uns Electoren, wo wir erst noch für unseren richtigen Einsatz trainieren!«, murmelte Colinda neben ihm. »Wie soll denn erst die Zentrale im Lichttempel aussehen?«
»Ich habe keine Vorstellung!«, raunte Duke staunend, konnte sich aber jenes unguten Gefühls nicht erwehren, das ihn zuerst beim Anblick von Arkans Haarbüscheln in der Dusche befallen hatte und das nach dem zufällig belauschten Gespräch zwischen Blackstone und Harrington auf dem Weg zum Maschinenraum neue Nahrung erhalten hatte.
Die Sim-Kabinen im Schwarzen Würfel waren ihm mit ihren wandgroßen Bildschirmen und vielen Konsolen riesig erschienen. Doch gegen diesen gewaltigen Saal mit seinen scheinbar Tausenden vielfarbigen Leuchtdioden, Schaltern und Reglern nahmen sich ihre Trainingsräume in Liberty 9 wie bescheiden ausgerüstete Game Rooms aus.
Gleich gegenüber des Eingangs erstreckte sich eine gut dreißig Meter lange und bestimmt fünf Meter hohe Wand, die in drei riesige Felder unterteilt war. Über dem mittleren stand der Schriftzug Presidio, das rechte trug den Namen der zweitgrößten Hiseci Pacifica und über dem linken stand Panamera. Eine riesige Anzeigetafel aus mattem schwarzem Metall erstreckte sich unter jedem Namen.
In jeder dieser drei Flächen glomm und blinkte ein Meer aus fingerlangen Leuchtanzeigen, von denen jede Lichtsäule durch schwarze Querstriche in fünf gleich große Felder unterteilt war. Die Anzeigen bildeten lange Reihen. Neben jeder dieser Leuchtanzeigen fand sich eine Markierung. In der obersten Reihe hatte jede Anzeige eine individuelle Kennzeichnung, die sich nirgends ein zweites Mal fand. In den Reihen darunter fielen vier verschieden große grafische Symbole ins Auge, bei denen es sich eindeutig um die stilisierte Darstellung von Gebäuden handelte. Die größten dieser Symbole stellten zweifellos Hochhäuser dar. Die Reihen darunter waren mit immer kleiner werdenden Kästen gekennzeichnet.
Verschiedenfarbige dünne Lichtlinien verbanden die Anzeigen. Diese Lichtlinien für alle drei Anzeigen stiegen aus einem Kubus hervor, der sich am unteren Rand der mittleren Tafel befand und mit dem Hyperion-Symbol geschmückt war. Darunter zog sich noch eine weitere Kette von Lichtdioden entlang.
Auf den Konsolen vor jeder dieser Anzeigetafeln wimmelte es nur so von Reglern, Tasten und Schiebern. Drei Tec Master, denen Duke bisher noch nicht begegnet war, saßen mit gelangweilten Mienen an den Konsolen und bedienten die Steuergeräte.
Die drei anderen Wände der Schaltzentrale waren mit Mosaiken aus bunten Glassteinen verziert. Auf der hinteren Längswand prangte das atemberaubende Bild des Lichttempels, so wie sie es vom Hologramm während der Lichtmesse in der Basilika kannten: ein in den Himmel stürmender Turm aus funkelndem Glas, Stahl und Licht auf einer sich weit in den Pazifik erstreckenden Halbinsel vor der Nordwestspitze von Presidio, umgeben von Palmen und traumhaft schönen Parkanlagen.
Die beiden kürzeren Seitenwände zeigten zwei Stadtansichten von Presidio. Beide wurden beherrscht von der markanten, spitz in den Himmel aufragenden Hyperion-Pyramide, dem Sitz der Regierung und des höchsten exekutiven Gremiums, dem Wächterrat.
Kaum hatten sie sich flüchtig umgesehen, als Master Controller Eastwood von der anderen Seite her über eine höher gelegene Treppe die Schaltzentrale betrat. Er war ein kräftig gebauter Mann von hoch gewachsener Gestalt um die fünfzig mit scharf geschnittenen Zügen und dem selbstbewussten Auftreten eines Generals. Er trug einen schneeweißen Overall, der an ihm wie eine schnittige Uniform wirkte und ihn als den ranghöchsten Oberen auf Tomamato Island auswies.
Eastwood hielt sich nicht lange mit Begrüßungsworten auf, sondern kam sofort zur Sache, indem er vor die Schalttafeln trat und mit seinen Erklärungen begann, nach welchen Kriterien der hier auf der Insel erzeugte Strom auf die drei Hisecis zu verteilen war – und welche Versorgungsbetriebe, Hochhäuser und Wohnviertel bei der Zuteilung Vorrang vor anderen genossen.
Dabei wies er mehr als einmal darauf hin, dass der Große Dampferzeuger von Tomamato Island eine zweifellos beachtliche, jedoch nichtsdestotrotz nur eine Übungsanlage war und dass sie für die drei Hisecis mit ihren angeschlossenen High Security Compounds, wo sich die industriellen Fertigungsanlagen konzentrierten, nur zusätzlichen, wenn auch unverzichtbaren Strom lieferten. Hyperions Hauptenergiequelle befand sich in den gewaltigen unterirdischen Hallen des Lichttempels.
Konzentriert hörte Duke zu. Die Arbeit, die hier an den Konsolen zu erlernen und zu verrichten war, schien ähnlich viel Überblick, Geistesgegenwart und Geschicklichkeit von ihnen zu verlangen wie die nervenaufreibenden Runs, dem Tanz der Tausend Stäbe, im Schwarzen Würfel.
Als Eastwood seine Erklärungen abgeschlossen hatte und sich schon zum Gehen wandte, fragte Leota rasch: »Master Controller Eastwood, sollten heute Morgen nicht die anderen zwölf von uns mit dem Lichtschiff hier eintreffen?«
Leotas Frage löste sofort weitere aus.
»Ja, wann werden sie hier sein, Master Controller?«
»Wissen Sie auch schon, wer dabei sein wird?«
Eastwood zögerte kurz und tauschte einen schnellen, nervösen Blick mit Blackstone. Dann räusperte er sich umständlich und antwortete etwas fahrig: »Nun, äh … die Ankunft der zweiten Gruppe wird sich verzögern. Bedauerlicherweise gibt es jetzt auch … äh … gewisse technische Probleme mit dem zweiten Lichtschiff. Es … äh … es kann unter Umständen also dauern, bis Verstärkung eintrifft.« Ein halbherziges Lächeln trat auf sein Gesicht, als er hinzufügte: »Aber ich bin überzeugt, dass ihr die anfallenden Übungen und Wartungsarbeiten auch bei kurzzeitig halbierter Mannschaft zu unserer vollsten Zufriedenheit erledigen werdet.«
Und damit wandte er sich rasch um, eilte die Treppe hoch und verließ die Schaltzentrale durch den hinteren Ausgang, dessen doppelwandige Stahltür zu jenen besonders gesicherten Türen und Luftschleusen gehörte, die sich nur per Zahlencode oder Chipkarte öffnen ließen.
Es gab ein wenig enttäuschtes Gemurmel, das sich jedoch schon nach wenigen Augenblicken wieder legte. Da war einfach zu viel Aufregendes nach dem ersten Orientierungsbesuch in der riesigen Schaltzentrale zu bereden. Außerdem wurde es Zeit, sich zum Frühstück in die Cafeteria zu begeben.
Auch in Colinda wirkte die Faszination nach. Ihre Augen leuchteten, als sie auf dem Weg durch die langen Gänge über die riesige Schaltzentrale und die gewaltige Energie sprach, die von den drei noch funktionsfähigen Reaktoren auf Tomamato Island erzeugt und von dieser Zentrale aus weitergeleitet wurde.
»Ich freue mich schon drauf«, sagte sie, »an den Konsolen zu sitzen und zeigen zu dürfen, was wir können!«
Duke nickte, doch ihn beschäftigte etwas ganz anderes. »Aber das Wichtigste, nämlich die Handhabung und Kontrolle über die Steuerung des Reaktors, trauen sie uns offensichtlich nicht zu. Darüber haben sie nicht ein Wort verloren.«
Verblüfft sah sie ihn an. »Stimmt, der Betrieb der Reaktoren wird wohl nicht über diese Zentrale gesteuert.«
»Was reichlich merkwürdig ist, wenn du mich fragst«, sagte Duke leise. »Immerhin soll das hier doch eine Übungsanlage für uns sein, und was ist wichtiger, als zu erlernen, wie man die mehr als zweihundert Steuerstäbe einsetzt, um die Energieleistung der Reaktoren je nach Versorgungsbedarf zu regulieren?«
Colinda runzelte die Stirn. »Aber das Prinzip ist uns ja bekannt. Je tiefer man die Steuerstäbe ins Herz der gebündelten Brennstäbe einfährt, desto mehr nimmt die Reaktivität ab, bis sie schließlich, wenn alle ganz eingetaucht sind, völlig zum Erliegen kommt. Und sind die Steuerstäbe ganz hochgefahren, läuft der Reaktor bei voller Leistung.«
»Na klar ist uns das Prinzip bekannt«, erwiderte Duke. »Aber dass wir den Umgang damit hier nicht üben werden und es deshalb zwangsläufig noch eine zweite Steuerzentrale geben muss, wo genau das geschieht, also das finde ich schon reichlich seltsam. Und das ist nicht das Einzige, was mir hier merkwürdig vorkommt.«
»Was denn noch?«
»Dass wir in diesem hässlichen Betonbunker mehr oder weniger eingeschlossen sind, nicht nach draußen dürfen, nur auf diesem Käfigbalkon, den sie hochtrabend Galerie nennen, mal an die frische Luft können – und vor allem, dass wir nicht wenigstens ein Mal einen Blick auf den Lichttempel werfen dürfen«, sagte er verdrossen, während sie immer mehr hinter den anderen zurückfielen.
Colinda zuckte unschlüssig die Achseln. »Na ja, wir sollen wohl in diesen letzten Monaten unserer Ausbildung von nichts abgelenkt werden, damit wir später für den hochwürdigen Dienst im Lichttempel bestens präpariert sind«, antwortete sie, doch ihrer Miene war anzusehen, dass sie diese Begründung selbst nicht allzu befriedigend fand.
Er verzog das Gesicht. »Ja, das haben uns Patterson, Blackstone und Eastwood mehr als einmal erzählt, aber wirklich Sinn ergibt unsere Abschottung nicht.«
»Was willst du machen? So sind die Regeln nun mal und damit werden wir uns abfinden müssen.«
»Nicht unbedingt.«
Verblüfft blieb sie stehen. »Wie meinst du das?«
Er sah sich um, ob sich auch niemand in Hörweite befand. Dann erwiderte er gedämpft: »Regeln sind ja ganz in Ordnung, und ich bin auch dafür, sie im Großen und Ganzen einzuhalten. Aber dann und wann muss man sie auch mal brechen, vor allem wenn sie unsinnig oder Schikane sind.«
Verständnislos blickte sie ihn an. »Was für eine Regel willst du denn brechen?«
»Brennst du nicht auch darauf, den Lichttempel endlich mal mit eigenen Augen zu sehen?«, fragte er anstelle einer Antwort. »Zumal er nur wenige Kilometer von uns entfernt gleich auf der anderen Seite dieser Insel liegt?«
»Und ob! Ich kann es gar nicht erwarten!«, sagte Colinda. »Aber leider geht das nun mal nicht.«
»Und was ist, wenn doch?«
Verwirrt sah sie ihn an. »Was um alles in der Welt hast du vor?«
Duke erzählte ihr, welche Beobachtung er auf der Galerie gemacht hatte, und weihte sie in seinen Plan ein.
»Erhabene Macht, das ist aber verdammt riskant!«, sagte sie, doch das verschmitzte Lächeln und das Leuchten ihrer Augen verrieten ihm, dass sein Vorhaben sie beeindruckte.
»Nicht wirklich«, versicherte er. »Ich habe schon alles zusammen, was wir brauchen, um nach oben auf die andere Galerie zu kommen.«
Colinda zog die Brauen in die Höhe. »Was wir brauchen?«
»Na komm!«, sagte er. »Ich sehe dir doch an, dass dir die Idee gefällt! Und allein kann ich die Sache nicht durchziehen. Das geht nur zu zweit.«
»Und da bist du ausgerechnet auf mich verfallen?«, fragte sie mit einem vorsichtigen Lächeln.
Er griff nach ihrer Hand. »Ja, weil ich weiß, dass auf dich Verlass ist. Aber vor allem weil es keinen gibt, mit dem ich den Anblick lieber teilen würde als mit dir, Colinda«, sagte er und blickte ihr tief in die Augen. »Und nicht nur den Anblick, sondern auch alles … alles andere.«
Sie errötete leicht. »Wirklich?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»Ja, wirklich!«, versicherte er.
Colinda strahlte ihn an. »Okay, du kannst auf mich zählen. Und wann?«
»Heute Nacht, am besten drei Stunden nach Beginn der Nachtschicht, wenn die von der Frühschicht noch in tiefem Schlaf liegen.«
Sie lächelte. »Hätte nie gedacht, dass ich mich mal mit dir für nachts um drei zu etwas so Verbotenem verabreden würde«, scherzte sie. »Nicht gerade die romantischsten Umstände für ein erstes Date, oder?«
»Wer weiß«, sagte er und lächelte sie vielversprechend an. »Immerhin werde ich dir den Lichttempel zeigen!«