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»Auseinanderziehen, aber ganz ruhig, und im Schritt bleiben!«, zischte Akahito, ohne sein Tempo zu verlangsamen. »Die Waffen im Anschlag, aber lasst bloß die Finger vom Abzug! Dass mir keiner die Nerven verliert, verstanden? Das ist nichts weiter als ein Bluff! Ich kenne die Spielchen dieser Gangs!«

Liang schob sich neben Akahito, während sich die Libertianer rechts und links von ihnen auffächerten, sodass sie eine ähnliche Phalanx bildeten wie die Gang, die vor ihnen die Kreuzung versperrte.

»Und woher wollen Sie das wissen? Sieht mir nämlich gar nicht so aus, als wollte die Bande den Weg friedlich freigeben«, sagte Carson.

»Wonach es dir aussieht, interessiert mich nicht, solange du tust, was ich dir sage!«, wies Akahito ihn kühl über die Schulter hinweg zurecht, während er mit unvermindert zügigem Schritt auf die Gang zuhielt. »Und ich sage: Waffen durchladen, aber Finger vom Abzug!« Mit einer energischen, aber keineswegs hastigen Bewegung lud er sein Sturmgewehr durch.

Das scharfe, metallische Geräusch der einrastenden Lademechanik, dem augenblicklich ein zehnfach verstärktes Echo folgte, hallte laut und unmissverständlich durch die Nacht.

Kendira hielt den Atem an. Würde die Gang sich auf offener Straße auf eine Schießerei mit ihnen einlassen? Aber mit drei Schrotflinten und zwei Dutzend Macheten, Keulen und Ketten gegen elf Schnellfeuergewehre und Maschinenpistolen – das wäre der reinste Selbstmord!

Es sei denn, die Sperre der Kreuzung ist Teil eines Hinterhalts, in den wir marschieren!, schoss es ihr im nächsten Moment durch den Kopf, und der Verdacht jagte ihr eine Hitzewelle durch den Körper. Und der Rest der Gang taucht gleich in unserem Rücken auf und mäht uns von hinten nieder, bevor wir wissen, dass die Falle zugeschnappt ist!

Kendira wollte schon herumfahren, als in die Mauer aus finsteren Gestalten plötzlich Bewegung kam. Der mittlere der drei jungen Männer, die mit kurzläufigen Schrotflinten bewaffnet waren, gab einen kurzen, blaffenden Laut von sich. Gleichzeitig machte er mit seiner Waffe eine knappe, herrische Geste und räumte seinen Platz mitten auf der Kreuzung.

Sofort wichen auch seine Komplizen zurück, jedoch mit sichtlichem Widerwillen. Die Mauer aus glänzenden nackten Oberkörpern teilte sich und gab einen Durchlass von drei, vier Metern Breite frei – unter dem lauten Rasseln der Eisenketten, dem Kratzen von Macheten, die beim Zurückweichen mit der Klingenspitze über den Asphalt gezogen wurden, und dem Klatschen der genagelten Keulen, die in einem betont langsamen Rhythmus in die schwieligen Hände ihrer Besitzer fielen.

Akahito und Liang blieben stehen und bedeuteten den neun Libertianern wortlos, die Lücke in der Mauer zu passieren und auf der anderen Seite der Kreuzung auf sie zu warten.

Nicht ein Wort fiel. Erst als auch Akahito als Letzter durch die Lücke schritt, spuckte der Anführer der Gang vor ihn auf die Straße und stieß drohend hervor: »Man sieht sich, Jachi!«

»Vermeide es besser«, antwortete Akahito kalt. »Es sei denn, du hast Todessehnsucht!«

Der Gangleader schnaubte abfällig, beließ es jedoch dabei und verschwand mit seinen Männern in einer der Seitenstraßen.

»Und ich dachte, ihr Jachi steht mit den Bewohnern von Mexican Heights auf gutem Fuß«, lästerte Carson wenig später. »Das war aber alles andere als eine Begegnung unter Freunden.«

Akahito warf ihm nur einen kühlen Blick zu, der genug sagte.

Doch Liang ließ es sich nicht nehmen, ihm zu antworten. »Gangs, die sich nicht an die Abmachungen zwischen zwei Territorien halten und nach ihren eigenen Gesetzen leben, gibt es in jedem Bezirk«, sagte er ungehalten. »Ich denke, das gehört zur Definition einer Gang!«

»War ja nur so ein Gedanke«, sagte Carson schnell und klang reichlich lahm.

»Ein ziemlich schwachsinniger, den du besser für dich behalten hättest!«, erwiderte Kendira und schoss ihm einen zornigen Blick zu. Akahito und Liang setzten sich den Gefahren der Dunkelwelt aus, um sie zu Dusty Tumbleweed zu bringen, und Carson hatte nichts Besseres zu tun, als ihnen das mit Spott zu vergelten! Das kam überhaupt nicht gut bei ihr an und das sollte er auch wissen! Was in den letzten Stunden bloß in ihn gefahren war? Konnte es sein, dass seine Nerven den extremen Anspannungen nicht gewachsen waren?

Selbst bei diesen bescheidenen Lichtverhältnissen war deutlich zu sehen, wie Carson das Blut ins Gesicht schoss. »Okay, war wohl etwas daneben«, murmelte er.

»Hey, Leute, das war doch bloß eine scherzhafte Bemerkung!«, ergriff nun Nekia für ihn Partei. »Man muss schon sehr humorlos sein, um daraus so ein Drama zu machen!«

Akahito und Liang taten so, als hörten sie das nicht.

»Mag sein, dass mir zurzeit der Humor ein bisschen abgeht!«, gab Kendira bissig zurück. »Keine Ahnung, warum. Aber vielleicht hast du ja eine Idee, warum ich Carsons Witze plötzlich nicht mehr zum Lachen finde!«

»Die hätte ich schon!«, blaffte Nekia zurück. »Und wenn du es genau wissen willst …«

Was immer Nekia auf der Zunge lag, Zeno verhinderte, dass sie es aussprach. »Also, wenn ich jetzt etwas genau wissen will, dann bestimmt nicht das! Wenn ihr Zickenkrieg wollt, dann macht das später unter euch aus, aber nicht jetzt, Mädels! Mich interessiert im Augenblick tausendmal mehr, wo genau wir diesen Dusty Tumbleweed treffen werden – und was es mit diesem komischen Ort namens Stinky Liar’s Roadhouse auf sich hat.« Und damit wandte er sich direkt an den Jachi, indem er fortfuhr: »Wie wäre es, wenn Sie uns dazu mal ein paar Takte erzählen würden, Akahito? Was ist dieses Roadhouse, zu dem sie uns bringen?«

Kendira und Nekia sahen sich nur kurz an, wichen dem Blick der anderen rasch wieder aus und schwiegen.

Akahito blieb stehen und drehte sich zu ihnen um. »Ihr wisst, was eine Kirche ist?«

Alle nickten. Zwar waren sie mit der Geschichte des Wanderpredigers Jesus, die in einem Buch namens Bibel aufgezeichnet war, das in Liberty 9 zu den streng verbotenen Schriften gehört hatte, nur in ganz groben Zügen vertraut. Aber sie wussten doch inzwischen, dass als Kirche jene Gebäude bezeichnet wurden, in denen die Anhänger dieses Glaubens zusammenkamen und wo sie diesen Jesus Christus als Gott verehrten – so wie sie als Electoren bei den monatlichen Lichtmessen in ihrer Basilika der erhabenen Macht gehuldigt hatten. Nicht ahnend, dass viele der von ihnen tagtäglich benutzten Bezeichnungen dem christlichen Glauben und seiner praktischen Ausübung entliehen waren.

»Nun, das Stinky Liar’s Roadhouse war früher einmal solch eine Kirche, die zu einem weitläufigen Campus gehörte, einer Ausbildungsstätte für Tausende von jungen Leuten«, sagte Akahito. »Von diesem Campus mit all seinen Gebäuden blieb nach dem zweiten großen Erdbeben nichts weiter übrig als ein riesiges Trümmerfeld, einzig die Kirche überstand die Katastrophe, wenn auch schwer beschädigt.«

»Und in der Ruine lebt er jetzt?«, folgerte Zeno.

»Ja und nein«, sagte Liang scheinbar widersinnig, bot jedoch keine Erklärung für den Widerspruch an, sondern überließ das Wort wieder seinem älteren Kameraden.

»Jahre später«, fuhr Akahito auch gleich in seinen Ausführungen fort, »nach Ende der Vertreibungen aus den Gebieten der heutigen Hisecis und den langen, blutigen Revierkriegen, die auf dieser Seite der Bucht die Folge der heimatlosen Flüchtlingsströme waren, hat ein Mann namens Chuck die Kirchenruine mitten in einem Streifen Niemandsland wetterfest gemacht und darin einen Ausschank eingerichtet. Der Erfolg gab dem Mann recht, und aus dem primitiven Ausschank von billigem Fusel wurde schnell ein richtiges Gasthaus mit einem breiten Angebot respektabler Getränke, Gerichte und Gastzimmer.«

»Und einiger weniger respektabler Dienstleistungen«, warf Liang ein. »Denn längst kriegt man dort auch Munition, Drogen, Medikamente vom Schwarzhandel, Prostituierte und nicht selten auch Informationen über seine Feinde – sofern man dafür bezahlen kann!«

»Und warum trägt das Gasthaus diesen merkwürdigen Namen?«, wollte Fling wissen.

»Darum ranken sich viele Legenden«, erwiderte Akahito. »Aber eine davon erscheint mir ganz besonders glaubwürdig. In der soll Chuck einer Gang aus dem Shadowland, die ihn kurz nach seinem Einzug ausrauben wollte, geraten haben, entweder in Ruhe den von ihm angebotenen Schnaps zu trinken und ihn ratsamerweise auch zu bezahlen oder schleunigst wieder zu verschwinden. Und als der Wortführer der Gang wissen wollte, woher er den Mut nahm, ihnen gegenüber eine solch dicke Lippe zu riskieren, soll Chuck geantwortet haben: ›Weil ich unter dem Schutz der Islander stehe und die euch jagen und dann langsam und qualvoll in Stücke schneiden werden, wenn ihr mir auch nur ein Haar krümmt.‹ Das brachte ihm hämisches Gelächter und den Zuruf ›Du bist ja ein stinkender Lügner!‹ ein. Doch wie der Zufall es wollte, hielt angeblich genau in dem Moment ein Konvoi Islander vor Chucks Kirchenschenke, und der Truppenführer, den Chuck nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte, spazierte mit seinen Leuten herein, bestätigte knapp, was Chuck gerade behauptet hatte – und schoss dem Anführer der Gang im Vorbeigehen eine Kugel in den Kopf. Die anderen lud er auf seine Kosten zu einem Drink ein. Von da an zählten und zählen bis heute die Islander zu seinen Stammkunden.«

Liang nickte. »Und ob die Story nun stimmt oder nicht, seit jenem Tag heißt der Laden, den längst Chucks ältester Sohn Beefy zusammen mit seiner Schar Töchter und Söhne führt, eben Stinky Liar’s Roadhouse.«

»Aber wenn dieses Gasthaus wirklich unter dem Schutz der Islander steht und Hyperions Söldner dort regelmäßig verkehren, dann können wir uns dort doch unmöglich zeigen!«, wandte Kendira ein.

Akahito schüttelte kurz den Kopf. »Was ich euch gerade erzählt habe, ist, wie schon gesagt, nur eine Legende unter vielen. Das Roadhouse steht nicht unter dem Schutz der Islander …«

»Aber haben Sie nicht gerade gesagt …«, setzte Nekia zu einer Frage an, kam jedoch nicht dazu, sie zu beenden.

»… sondern es gehört zu den wenigen unantastbaren Orten in der Dunkelwelt«, stellte Akahito schon im nächstem Atemzug richtig. »So wie die Kirchen früher einmal Orte waren, wohin man sich flüchten konnte und vor Verfolgung sicher war. Von diesen neutralen Flecken, wo jeder sich unbehelligt von seinen Feinden und in direkter Nachbarschaft mit ihnen aufhalten kann, gibt es nur eine Handvoll.«

Flake legte die Stirn in Falten. »Und wieso gehört ausgerechnet das Stinky Liar’s Roadhouse zu diesen wenigen Orten der Unantastbarkeit in der Dunkelwelt?«

»Das hat bestimmt damit zu tun, dass es ganz für sich allein und mitten auf den Killing Fields steht«, antwortete Liang. »Umgeben von den Boneyards.«

»Killing Fields? … Boneyards?«, stieß Zeno erschrocken hervor. »Was … was ist das?«

»In einer Stunde habt ihr die Killing Fields vor Augen«, erklärte Akahito knapp, setzte sich wieder in Bewegung und legte sofort ein scharfes Tempo vor. »Dann werdet ihr schon sehen, was es damit auf sich hat!«

Rainer M. Schröder - Liberty 9 Band 2 - Todeszone
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