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Es dämmerte bereits, und jener Platz, an dem die Kathedrale erbaut werden sollte, war dichtgedrängt mit Menschen. Harry kam mit der Rikscha nicht mehr weiter. Als Ellen und Boyd abstiegen, wollte er sofort mitkommen, er war sogar bereit zu riskieren, daß das kleine Fahrzeug gestohlen wurde.

„Ich habe keine ruhige Minute mehr, wenn ich euch wieder aus den Augen lasse“, sagte er. Doch schließlich willigte er ein und ließ sie gehen, aber nicht ohne das Versprechen, wieder hierher, an dieselbe Stelle, zu kommen, wenn alles vorüber war. Er würde hier warten, ganz egal wie lange, und sie zu ihrem Quartier zurückbringen.

Sie hatten schon früher kommen wollen. Auf der Rückfahrt mit dem Dreirad, das der Erzbischof ihnen bestellt hatte, war es ihnen nur logisch erschienen, sofort den Blinden Stephan zu suchen, wenn Boyd auch keine Ahnung hatte, wann sie zu dieser Entscheidung gekommen waren. Aber als sie erst einmal in ihrem Wohnhaus angekommen waren und Pete sie gesehen hatte, war es unmöglich gewesen, rasch wieder zu gehen. Pete war gegangen, um Harry zu holen, und Harry wiederum hatte einen raschen Abstecher ins Labor unternommen, um Ben und die anderen zu informieren. Die beiden Zimmer hatten nicht ausgereicht, um all jene aufzunehmen, die alle Details hören wollten, und das Treffen war sehr bald in eine Art Zeremonie ausgeartet. Überhaupt wegzukommen war ein Problem gewesen, doch Boyd hatte seine guten Vorsätze gehabt.

Die Menge war die größte, die Boyd jemals gesehen hatte. Zwei Tage zuvor hatte der Blinde Stephan bekanntgegeben, daß dies seine letzte Ansprache in der Stadt war, bevor er mit seiner Pilgerfahrt durch das Land beginnen wollte, um weitere Leute zu rekrutieren – in jenen letzten verbleibenden Monaten, bevor er nach Australien aufbrechen konnte. Dieses Mal war die Botschaft von der Ansprache nicht über den Rundfunk übertragen worden, doch sie war von Mund zu Mund weitergegeben worden, bis die ganze Stadt davon wußte.

Das machte Boyd zu schaffen, wie fast alles im Zusammenhang mit dem Kreuzzug. Es war fast, als hätte Stephan erwartet, Boyd heute abend hier zu treffen, und daher keine Notwendigkeit gesehen, noch länger zu bleiben. Doch das mußte andere Gründe gehabt haben – Boyds Zukunft war alles andere als sicher gewesen. Doch irgendwo in seinem Verstand war Boyd sicher, daß da ein Zusammenhang bestand.

Sie konnten das Zelt sehen, das der Mann für private Zwecke aufgebaut hatte, und drängten sich in dessen Richtung, mit den Ellbogen stoßend und schiebend und immer darauf bedacht, einander nicht zu verlieren. Boyd kümmerte sich kaum um die Arme, die ihn anrempelten, oder die Beine, die sich ihm in den Weg stellten, er sah nur das Zelt vor sich und drängte darauf zu, bis der größte Teil der Menge hinter ihnen lag.

Vor dem Zelt war ein freies Gelände, das durch eine dünne Kordel abgegrenzt wurde. Es schien unfaßbar, daß sie dem Druck dieser Menschenmasse widerstehen konnte, doch es gab Legenden, nach denen jenen, die diese Absperrung durchbrachen, Übles widerfahren konnte – Legenden, die wahrscheinlich vorsätzlich von dem Blinden Stephan in Umlauf gebracht worden waren, da man von ihm sagte, er habe einen Widerwillen gegen allzu viele Leute, die sich zu dicht um ihn drängten.

Boyd half Ellen unter der Absperrung hindurch und ging mit ihr über den freien Platz; irgendwie war er sich dessen sicher, daß dies bei ihm seine Richtigkeit hatte. Die Menge stöhnte laut auf und deutete auf sie. Doch dann wurde sie von einem Laut aus dem Zeltinneren zum Schweigen gebracht.

Es klang wie ein lautstarker Freudenschrei. Stephans Stimme schwoll an und wogte über sie hinweg wie eine Orgel, auch ohne die Mikrophone, die seine Stimme verstärkten.

„Sieh diesen, Joshua, einen Mann, in welchem der alte Geist lebendig ist, und lege deine Hand auf ihn. Du sollst deine Flamme über ihm leuchten lassen, auf daß die gesamte Versammlung ihm gehorsam sei.“

Der Zelteingang wurde zur Seite geschlagen, und der Mann kam herausmarschiert, er tastete nicht einmal mit seinem Stock herum. Er sah aus wie ein älterer David, gegürtet für den Krieg, und er kam direkt auf Boyd und Ellen zu. Er legte eine Hand auf Boyds Schulter.

„Joshua ist unter uns“, rief er. „Beugt eure Knie und schwört ihm alle Gehorsam mit mir zusammen, denn er wird zum Ruhme führen.“

Das war nicht gerade der glücklichste Befehl, dachte Boyd bei sich. Die Menge, zumindest diejenigen ganz vorn, bemühten sich zwar, dem Befehl direkt Folge zu leisten, doch reichte der Raum bei weitem nicht aus, um die Knie zu beugen. Außerdem war das wirklich nicht das, worauf er übertriebenen Wert gelegt hätte.

Doch diese Gedanken vergaß er rasch wieder, als Stephan seine Hand hielt und diejenige Ellens in seine Linke nahm. „Guten Abend, Boyd“, sagte der alte Mann. „Ich habe Sie und Ihre Lady erwartet. Ist sie hübsch?“

„Sie ist wunderschön, Vater“, versicherte Boyd ihm. Sie war beim Anblick Stephans erstarrt – ihre alte Furcht vor Priestern –, doch bei seiner ersten Berührung hatte sie sich wieder entspannt. Nun lächelte sie. „Aber vielleicht hätten Sie mich nicht vor Ihrer Zuschauerschaft ehren sollen, da wir noch nicht unsere Zustimmung gegeben haben, mit Ihnen zu kommen. Es gibt da gewisse Bedingungen.“

„Ich hatte schon vorher all Ihren Bedingungen nachgegeben“, erinnerte Stephan ihn. Dann lächelte er, und sein Gesicht wurde feierlich wie das eines Kindes, das ein Geheimnis bis zum letzten Augenblick bewahrt hat und nun mit der Sprache herausrückt. „Ihr beide wollt unverzüglich heiraten. Ich habe bereits alle Vorbereitungen getroffen.“

Ellen schluckte überrascht, ein Ausdruck des Entsetzens erschien in ihren Zügen. Als ob er dies wahrgenommen hätte, schüttelte Stephan sanft den Kopf. „Ihr Freund Ben ist bereits hier und erwartet Sie. Durch ihn habe ich von eurem Wunsch erfahren.“ Er deutete zum Zelt. „Er ist dort drinnen. Vater Muller hat sich bereits vor zwei Wochen dem Kreuzzug angeschlossen.“

Boyd grunzte überrascht. Und doch hätte er es wissen sollen. Ben war ein Zyniker gewesen, doch er hatte sich überzeugen lassen. Und ein reformierter Zyniker ergibt den besten Missionar. Er wollte zum Zelt gehen, doch Stephans Hand auf seiner Schulter hielt ihn zurück.

„Die Hochzeit wird warten müssen bis nach der Ansprache. Ich habe die Menge bereits zu lange warten lassen, als ich auf Sie gewartet habe. Aber sagen Sie mir noch eines: Sie wurden heute nacht zu mir gesandt, und ich habe keine Fragen gestellt. Aber ist diese Sendung vollständig, oder haben Sie mir noch etwas zu sagen?“

„Es gibt ein Serum gegen die Pest“, versicherte Boyd ihm mit plötzlichem Selbstvertrauen. „Ich habe keinen Beweis, der über das Studium der Aufzeichnungen und meine eigene Intuition hinausgeht. Aber keiner Ihrer Leute wird jemals an dieser Krankheit sterben.“

Einen Augenblick lang hob der Blinde Stephan sein Gesicht dem Himmel entgegen und ging dann auf die Bühne zu.

„Wehe den Ungläubigen! Sie werden fallen und vergessen werden auf Erden. Denn wir werden uns erheben, zu kämpfen mit den Abgesandten der Hölle, und unsere Kraft ist der starke Arm des Herrn. Er wird vorangehen, und Sein Schild ist über uns …“

Boyd blieb stehen und sah zum Himmel, bis er den Mars gefunden hatte. Es war nur ein kleiner Punkt, unbedeutend in der grenzenlosen Weite über der Erde.

Dort oben waren jene vom reinen Blut und Intellekt und schwammen auf den Wellen ihrer eigenen Selbstgefälligkeit. Der Erde hatte man den Himmel und die Zukunft abgesprochen. Doch Boyd beneidete den Mars nicht länger.

Im Augenblick war die Erde zwar weit hinterher in jenem großen Rennen um die Zukunft. Und die kommenden Tage und Jahre würden häßlich sein. Für die Angehörigen der Amerikanischen Katholischen Eklektischen Kirche, die zurückblieben, würden es Jahre der Bevölkerungszunahme, der Lebensraumverknappung, der Krankheiten und des Leids sein – aber auch der Kraft und der Freundschaft und der Wärme, die er selbst erfahren hatte.

Aber eines Tages würde der Kampf der Mutationen in ihren eigenen Zellen beendet sein. Die Schwachen würden eliminiert sein und die Starken um ihr Überleben kämpfen, in einer Welt, die bis an die Grenzen ihres Fassungsvermögen bevölkert war. Und eine neue Menschenrasse würde entstehen.

Die Menschen würden gehärtet werden, gehärtet im Feuer des menschlichen Leides und Schmerzes.

Der Mars konnte seine Treibhaussterilität bewahren, bis die unweigerliche Stagnation eintreten würde. Mit dem elften Gebot, das ihn antrieb, würde der Mensch sich aus eigener Kraft aus dem Dschungel der Erde erheben und Mars auf dem Weg zu den Sternen weit hinter sich zurücklassen.

Er lächelte über die Intensität seiner eigenen Träume, doch er fühlte, daß sie eines Tages Realität werden würden.

Dann beugte er sich hinunter zu Ellen und zog sie in der lauschigen Wärme der irdischen Sommernacht fest an sich.