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Jem lehnte jeden Hinweis ab, während sie am Montag in der Frühe zur Kathedrale fuhren. Er schien Boyd nach wie vor als einen Himmelsdämon anzusehen. Boyd erfuhr nur, daß Gordini gegenwärtig auf einer Beratung weilte.

Sobald Bruder Mark ihn ins Arbeitszimmer des Bischofs geführt hatte, wurde ihm klar, daß die Angelegenheit mit dem Laboratoriumsbericht im Zusammenhang stand. Die Schriftstücke, die vor O’Neill auf dem Schreibtisch lagen und die dieser eben mit einem vergnügten Lächeln durchlas, waren in Vater Pettys kritzliger Handschrift abgefaßt.

„Wunderschön, dieser Morgen, Boyd, finden Sie nicht auch? Dieses gute Wetter kann nur Gottes Segen bedeuten. Ach, ich vergesse immer, daß Sie ein Heide sind.“

„Ein verdammungswürdiger Heide?“ meinte Boyd in Anspielung auf den Bericht.

O’Neill schüttelte gemächlich den Kopf. „Nein, dazu besteht bisher kein Anlaß. Die Kirche lehrt keinesfalls, daß alle Heiden verdammungswürdig sind, mein Sohn. Nur diejenigen, die der Wahrheit gegenüberstehen und sie wissentlich leugnen. In Ihrem Fall jedoch, da bin ich mir sicher, ist noch nicht alles verloren.

Aber ich ließ Sie nicht rufen, um Ihnen eine Bekehrungspredigt zu halten. Ich habe von unserem Erzbischof Bonaforte VII. – der übrigens selbst ein hervorragender Wissenschaftler ist – eine Notiz vorliegen, die er anläßlich dieses Berichts geschrieben hat, oder irre ich mich?“

Er überreichte sie ihm. Boyd studierte die Mitteilung, las sie sorgfältig Wort für Wort durch. Er hatte immer noch Schwierigkeiten mit der Sprache. Sie lautete:

„O’Neill – Offensichtlich wurde die Arbeit nicht von Petty, sondern von niemand anders als Jensen geleistet. Die rasche Entdeckung des Grunds für die Instabilität zeigt ein so hohes Maß an intuitivem Denken, wie ich es bisher nur selten gesehen habe. Das ist es, was wir brauchen. Jensen ist sofort unter Ihre Obhut zu nehmen. Ich bitte Sie, ihn mit einer Arbeit an einem geeigneten Platz zu betrauen. – Bonaforte.“

Boyd reichte dem Bischof die Mitteilung wieder herüber. Er strahlte vor Befriedigung, enthielt sich aber jeden Kommentars. O’Neill seufzte leise. „Vater Petty ist ein alter Mann, der einen Anspruch auf Ruhm hat. Lassen wir ihn in dem Glauben, er hätte die Arbeit geleistet. Wir wollen ihm nicht das Herz brechen. Auf alle Fälle zeigt sich erneut, wie erstaunlich Gottes Wege sind – sich eines alten Mannes zu bedienen, damit Ihnen Gelegenheit geboten wird von Seiner Heiligkeit bemerkt zu werden. Ach, für mich jedoch, fürchte ich, ist die Geschichte nicht ganz so einfach. Leider kann ich Sie nicht unbedenklich entsprechend der heiligen Order einsetzen, da bei uns alle Personen, deren philosophische und ethische Qualifikation sie erst zur Arbeit mit den Bausteinen des Lebens befähigt, dem Medizinerstand angehören müssen. Korrekterweise sind sie damit auch, besonders deshalb, weil unser aller Herr ebenfalls ein Heilender war, der verlängerte Arm der Kirche. Zu dumm, daß Sie nicht von Ihrer Großmutter, die, wie ich sehe, ebenfalls Medizinerin war, die medizinische Ethik erlernt haben.“

„Nun, was das anbetrifft – von den ethischen Grundsätzen der Medizin habe ich schon ein wenig mitbekommen. Immerhin war sie eifrig um deren Förderung und Ansehen besorgt“, sagte Boyd. „Ich denke sogar, ich weiß genau, welche Auffassung sie dazu hatte.“

„Interessant.“ O’Neill lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen gegeneinander und musterte ihn darüber hinweg. „Wollen Sie damit etwa sagen, daß Sie bei ihr studiert haben? Ich bitte Sie, jetzt meinem Wortlaut folgend, genau zu antworten. Schließlich müssen wir einwandfrei die Formalitäten wahren, verstehen Sie?“

„Jawohl, ich habe bei ihr studiert“, antwortete Boyd, dem Wortlaut folgend, wahrheitsgetreu. Unter ihrer Anleitung hatte er sich mit vielerlei Dingen beschäftigt, obwohl niemals während seiner Krankheit mit Medizin.

„Und Sie sind von Ärzten Prüfungen unterzogen worden, die Sie bestanden haben?“

Die Worte waren offenbar mit großer Sorgfalt gewählt, um Boyd – ohne, daß er lügen mußte – den geforderten Wortlaut zu entlocken.

„Jawohl, ich bin von Ärzten Prüfungen unterzogen worden und habe die letzte bestanden.“ Überprüfungen hatte er sich mehr als genug bei dem Versuch herauszufinden, woran es ihm fehlte, gefallen lassen müssen.

„Na also! Dann sind Sie nach irdischem Recht berechtigt, zum Studium an einer Universität oder bei einem Arzt zugelassen zu werden. Ein alter Brauch, den wir wegen unseres Bedarfs an Ärzten wiedereingeführt haben. Mit Überprüfungen natürlich. Und nach diesem Recht wären Sie ein Arzt auf dem Mars. Da wir uns jedoch im Wirkungsbereich irdischer Gesetzbarkeit befinden, macht Sie das zu einem Arzt vom Mars. Perfekte Logik, meinen Sie nicht auch? Nun, wo Gott ist, findet sich auch ein Weg.“

„Mit ein bißchen Nachhilfe“, verbesserte Boyd ihn.

O’Neill kicherte. „Richtig, mit ein bißchen Nachhilfe. Das ist tadellose Theologie. Man kann auch sagen, daß unsere Kirche mit der Zeit gelernt hat, sich zu helfen zu wissen. Ich darf sagen, Boyd, daß ich auf den guten Verlauf der Dinge vertraut habe, und Dr. Willmark, den Dekan unserer hiesigen medizinischen Fakultät, gebeten habe, rasch bei uns hereinzuschauen und Ihnen den medizinischen Eid abzunehmen. Er haßt unsere Einmischung in sein Gebiet, er mogelt beim Damespiel, er flucht – aber er ist ein lieber, reizender Mensch.“

Boyd runzelte die Stirn, während er wartete. Wenn ein anscheinend so sanfter Mann wie O’Neill mit soviel Macht ausgestattet war – über wieviel Einfluß verfügte dann erst die gesamte Kirche? Die Mediziner hatten schon immer als der bei weitem unantastbarste Berufsstand gegolten. Wenn er kontrolliert werden konnte – wieviel mehr lag dann darüber hinaus im Einflußbereich dieser seltsamen Kirche?

„Der Kongreß darf keinerlei Gesetz verabschieden, das Rücksicht auf eine etablierte Glaubensgemeinschaft nimmt“, sagte er. „Wenn ich mich recht erinnere, stand dies sinngemäß früher in der amerikanischen Verfassung. Was nicht ausschließt, daß es umgekehrt durchaus möglich ist, oder nicht?“

O’Neills Augen wurden wachsam, und aller Spaß verschwand aus seiner Miene. „Sehr pfiffig, Boyd – aber zutreffend. Das gilt noch so wie früher, obwohl inzwischen einige Verfassungsänderungen vorgenommen wurden. Bei der gegenwärtigen Bevölkerungszahl eine repräsentative Demokratie mit freien Wahlen zu erhalten, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es gibt nach wie vor einen Präsidenten und den Kongreß, aber unsere Kirche sieht ein, daß Wahlen außer Kraft gesetzt werden müssen, weshalb sie auch jedesmal deren Terminverschiebung dekretiert. Als Folge davon werden alle Ämter wahrscheinlich erblich werden, obwohl wir es noch für notwendig erachten, Neuwahlen stattfinden zu lassen, wenn jemand sich als moralisch untragbar erweist. Sonst aber greifen wir nur sehr wenig ein.“

Das war auch gar nicht nötig. Die lange in ihren Ämtern befindlichen Parlamentarier wußten genau, daß sie ihr Mandat niemals in freien Wahlen wiedererringen würden. Das verfeinerte Drohmittel, keine Wahlen zuzulassen, machte sicher jeden Kongreßabgeordneten gefügig. Es war eine perfekt ausgeklügelte Absprache.

Die Tür öffnete sich, und herein trottete ein kleingewachsener, nervöser Mann. „Guten Morgen, Danny“, begrüßte er den Bischof. „Ist das der Streikbrecher, den du als Gewerkschaftsführer verkaufen willst?“

„Nein, das ist unser marsianischer Doktor“, berichtigte O’Neill ihn. „Wir dachten uns, die Ärzteschaft solle ihm freundlicherweise auch bei uns diesen Titel gewähren. Es gibt dafür natürlich keinen Präzedenzfall, aber ein Akt von Höflichkeit scheint mir hier angebracht zu sein.“

„O verflixt“, fluchte Willmark, „willst du mir schon wieder etwas aufschwatzen? Nun, junger Mann, wollen mal sehen, ob Sie überhaupt etwas von Medizin verstehen.“ Danach ratterte er eine Handvoll Fragen herunter und verlangte deren Beantwortung.

Boyd hatte einen Großteil der Fachbibliothek seiner Großmutter durchgelesen und verfügte auch über ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Diese Fragen aber brachten ihn gehörig ins Schwitzen. In der letzten beispielsweise wurde ein Krankheitsbild genannt, welches aus Lichtempfindlichkeit, geschwollenen Knoten in der Leistengegend, absoluter Fokussierunfähigkeit der Augen sowie weiteren Merkmalen bestand. Er hatte noch nie davon gehört.

„Ich würde den Patienten zu einem Facharzt oder in ein Krankenhaus überweisen“, befand er nach einigem Überlegen, „wo ihm hoffentlich seine Hypochondrie ausgetrieben wird und womöglich alles wieder von selbst verschwindet.“

Willmark zuckte zusammen und ließ ein entzücktes Kichern vernehmen. „Genau so habe ich beim ersten Fäll entschieden. Es hat aber nicht geholfen. Allein dafür aber gebührt Ihnen schon Anerkennung. Sie sind zwar kein Arzt, aber wenigstens besser unterrichtet als so mancher, den ich heutzutage zu prüfen habe. Jedenfalls reicht es, um mein Gewissen zu beschwichtigen. Heben Sie nun bitte Ihre Hand.“

Die Einleitung der althergebrachten hippokratischen Eidesformel hatte inzwischen eine Änderung erfahren: „Ich schwöre bei Hippokrates, dem Arzt, und bei Asklepios, dem Gott der Heilkunst, und bei Gott, dem Allmächtigen, die ich zu Zeugen anrufe, daß ich nach bestem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Verpflichtung erfüllen werde …“ Der Rest war im Wortlaut fast unverändert geblieben bis auf eine Zeile, die Willmark durch besondere Betonung unterstrich: „… Und des weiteren will ich keiner Frau ein Pessar verordnen, welches die Schwangerschaft verhüten könnte …“

Willmark führte den Eid zu Ende und wandte sich gleich darauf zum Gehen. Ein letztes Mal schwenkte er noch herum: „Oh, Entschuldigung, Sie sind damit zugelassen, hätte ich beinahe vergessen.“ Er streckte ihm die Hand hin. „Herzlichen Glückwunsch, Dr. Jensen“, sprach er feierlich.

Man hatte bereits Karten ausgestellt, die Boyd größere Privilegien bezüglich einer Wohnung, Proteinnahrung und dergleichen zugestanden. Außerdem lag eine Zuweisung für eine Arbeitsstelle in den Kathedralenlaboratorien mit einem doppelt so hohen Gehalt wie bei Firculo vor. Und schließlich erhielt er drei hellblaue Kombinationen, komplett mit den dazugehörigen Roben, sowie einen eigenen kleinen Umkleideraum zugeteilt.

O’Neill strahlte, als er damit herauskam. „Ist das nicht prächtig, Boyd? Jetzt noch zwei andere Dinge. Sie sollen fürs erste mit der von Ihnen stabilisierten Hefepilzart arbeiten. Seine Heiligkeit meint, das wäre ein gutes Training, und wünscht sofort davon zu erfahren, wenn auch andere Arten wissenschaftlicher gemacht werden können. Obendrein brauchen Sie einen Assistenten. Ich hatte mit gedacht, ob man nicht dafür dasselbe Mädchen anfordern könnte, das auch im Bericht erwähnt wird. Irgendwelche Einwände dagegen? Wir lassen gern ein eingespieltes Team zusammen, wissen Sie.“

Boyd begann seine Meinung über den alten Petty etwas zu revidieren. Der Priester hatte auch Ellen einen kleinen Anteil an dem Ruhm zukommen lassen. Ob das jedoch etwas mit O’Neills Wahl des Assistenten zu tun hatte, war unklar. Womöglich war es eine Sitte der Amerikanischen Katholischen Eklektischen Kirche, nach der er langsam ihr feines elftes Gebot zu befolgen hatte, weshalb sie jetzt die Kupplerin spielte. Dennoch nickte er. „Ich hätte sie gern weiter bei mir, falls sie nicht inzwischen eine andere Arbeit gefunden hat.“

„Ich denke schon, daß wir sie bekommen können“, versicherte O’Neill ihm. „Und jetzt könnte ich mir denken, daß Sie die Laboratorien sehen möchten, oder nicht? Bruder Mark wird Ihnen den Weg zeigen.“

Beim Eintreffen stellte sich heraus, daß die Laboratorien keineswegs seiner Erwartung entsprachen, sie würden, was die Ausstattung betraf, Firculos armselige Labors kaum übertreffen. Zwar hielten sie keinen Vergleich mit dem hohen marsianischen Standard aus, aber Boyd fühlte sich sofort heimisch in ihnen. Die Räume waren die größten, die er bisher auf der Erde gesehen hatte, gutbeleuchtet und ausgerüstet mit allem, was nötig war, von Ausgußbecken über Tische bis hin zu vorzüglichen Schneidegeräten für mikroskopische Präparate. Die Apotheke und das Gerätemagazin machten einen reichhaltigen und gutbestückten Eindruck, und ein festangestelltes Glasbläserteam stellte jedes verlangte Spezialgefäß her. Er zählte etwa vierzig mit verschiedenen Aufgaben beschäftigte Einzellaboratorien, von denen, wie er herausfand, nur etwa ein Drittel von vollausgebildeten Zytologen geleitet wurden.

Er überflog eben die Buchreihen in der Handbibliothek, als sein neuer Leiter dort auftauchte. Unter dem Laboratoriumskittel schaute der Zipfel einer Priesterrobe hervor. Mager und hohlwangig, darüber buschige Augenbrauen, die den zynischen Gesichtsausdruck noch verstärkten, und ungewöhnlich hochgewachsen, verlor der Mann keine Zeit mit Vorgeplänkel.

„Wir benutzen nur unsere Vornamen hier – es gibt zu viele hohe Tiere hier“, erklärte er und streckte Boyd seine langfingrige Rechte hin. „Mein Name ist Benjamin Muller – für Sie kurz Ben. Ich habe Sie schon erwartet. Erfreut, Sie zu sehen. Uns mangelt es an neuen Ideen, mit denen wir unsere festgefahrenen Auffassungen überwinden können, und Ihre Marsausbildung gestattet uns neue Sichtweisen, wie wir hoffen. Na, wie gefällt’s Ihnen hier?“

„Gut“, gestand Boyd. „Wann fange ich an?“

„Jederzeit, wann Sie nur wollen. Hinsichtlich Ihres Projekts gibt’s jedoch nicht eher etwas zu tun, bis wir komplette Testergebnisse und Stichproben haben. Das ist vermutlich am Donnerstag. Sie können ja morgen schon mal einige Stunden hereinschauen und erste Eindrücke sammeln. Ganz wie es Ihnen beliebt. Ansonsten: sachte angehen lassen, gewöhnen Sie sich an Ihre neue Robe, tun Sie, was Sie gern möchten.“

Boyd sah mit reumütigem Lächeln auf die offenkundig ungetragene neue Kleidung herab. „Ich glaube, Ben, ich muß Ihnen sagen, daß ich als Arzt ein klarer Schwindler bin. Aber ich habe immerhin den Magister in Zytologie.“

„Völlig unwichtig. Mich interessiert auch nicht, wie Sie zu Ihrem Doktortitel gekommen sind.“ Die tiefliegenden Augen schauten einen Moment lang verbittert drein. „Willmark und ein paar andere hier versuchen zwar, ein möglichst hohes Niveau zu halten, aber dennoch sind neun von zehn Doktoren bei uns nicht zu mehr fähig, als gerade eben ein Schulbuch zu lesen und vielleicht noch Antibiotika per subkutaner Injektion zu spritzen. Ab der Minute, wo man Ihnen die Robe übergibt, haben Sie das Recht zu praktizieren. Keine Widerrede gegen die Obrigkeit!“

 

 

Boyd fand allein zum Ausgang der Kathedrale und machte sich halb benommen auf den Heimweg. Zu viele Neuigkeiten waren heute auf ihn eingestürzt. Alles hatte sich unglaublicherweise anscheinend zum Guten hin entwickelt. Er hegte jedoch fast abergläubisch zu bezeichnende geheime Befürchtungen gegenüber Geschichten, die sich stets gut angelassen und später dann in einer Katastrophe geendet hatten. Diese Entwicklung schien jedoch typisch für irdische Verhältnisse zu sein. Ihm fiel in diesem Zusammenhang ein ständiger Ausspruch seiner Großmutter ein, der seine Zweifel noch bestärkte: „Man muß für alles im Leben bezahlen!“

Ein Mann rempelte ihn an, vielleicht auch er ihn. „Verzeihung, Herr Doktor!“ entschuldigte sich die graugekleidete Figur.

Aus einem Impuls heraus machte er kehrt, ging ins Laboratorium zurück und begab sich dort in die Arzneimittelausgabe. Ohne jeden Vorbehalt wurde ihm das ausgehändigt, was er verlangte. Die kleinen Ampullen enthielten ein hochwirksames Pharmakon, und die kleine Injektionsspritze machte einen tauglichen Eindruck. Er packte alles in einen Beutel und ging. Draußen steuerte er mit entschlossenen Schritten einem Ziel zu. Er hatte die feste Absicht, sich den unrechtmäßig verliehenen Titel zu verdienen!

Nach einiger Suche fand er den Rikschastand wieder, sah Harry aber nicht. Einer der Männer erkannte ihn jedoch vermutlich an seinem blonden Haar wieder. „Hallo, Herr Doktor! Wohin wollen Sie? Harry ist gerade unterwegs, hat uns aber gebeten, Sie gut zu bedienen.“

Ohne Harrys Anordnung wäre der Mann sicher nicht bereit gewesen, Boyd – der auch einen Zuschlag bezahlt hätte – zum gewünschten Fahrziel zu bringen. Er hatte sich vorher schon mit zusätzlichem Bargeld versorgt.

„Klar weiß ich, wo die Bluter hausen. Wer nicht? Aber das ist ’ne gefährliche Gegend dort, Doktor.“

„Sie brauchen mich ja nicht ganz bis ans Ziel zu bringen“, drängte Boyd. „Setzen Sie mich einfach dort ab, wo ich sie finden kann. An der Stelle warten Sie dann auf mich. Falls Sie meinen, ich sei verseucht, gehe ich eben zu Fuß zurück.“

„Sie werden nicht angesteckt. Sind nicht der Typ dafür – wie Sie selbst gesagt haben, als Sie das erste Mal bei uns ankamen. Mir hat man mal gesagt, ich wär’s auch nicht. Also gut, ich riskier’s, vorausgesetzt, ich komme nicht zu sehr in die Nähe. Aber gern bringe ich Sie nicht dorthin. Die können ziemlich gefährlich werden.“

Letzten Endes willigte der Mann aber doch ein, und das zu einem Preis, den Boyd als nicht unangemessen empfand. Zwischendurch hielten sie noch bei einem dem Rikschafahrer bekannten Geschäft an, wo man ohne Karten gegen Bargeld Lebensmittel von zweifelhafter Qualität und einem horrenden Preis erwarb. Danach ging’s in munterem Trab weiter, quer durch New City hindurch landeinwärts. Unterwegs fuhren sie an einem ausgedehnten Friedhofsgelände vorbei, bestanden mit abbruchreifen Baracken, die die umgestürzten Grabsteine verdrängten, und bogen auf eine Straße ein, deren zerfurchter Belag offenbar noch aus der Zeit vor der Atomkatastrophe stammte. Dann gelangten sie in eine Wohngegend, deren Häuser anscheinend neueren Datums waren und die, obwohl schlampig gebaut, planmäßig errichtet worden waren.

„Regierungsangestellte und reiche Leute wohnen hier“, rief der Fahrer über die Schulter. „Dahinter liegt das Regierungszentrum – man kann da drüben schon das Kapitol erkennen. Ist genauso gebaut worden wie jenes früher in Washington, bevor es zerbombt wurde. Sind ’ne Masse Leute in der Regierung. Die können sich’s leisten, gut zu leben.“

Jetzt fuhr er an den Straßenrand und wies nach vorn. „Wir können nicht weiter. Da kommen welche.“

Jetzt nahmen auch Boyds Ohren den Klageschrei wahr: „Blut! Blut!“

Und da kamen sie auch schon aus einer Seitenstraße heraus, etwa zwanzig dieser armen Teufel. Manche wankten daher, andere wieder sahen zu den Häusern hoch, in einem fort ihre Warnung rufend und bettelnd. Sie waren schmutzübersät, halbverhungert, glichen äußerlich Tieren. Aus den Fenstern wurden Lebensmittel herabgeworfen, die sie einsammelten und in grobe Säcke steckten. An einer Stelle empfingen sie keine Almosen, obwohl sie warteten. Daraufhin gingen sie auf die Eingangsstufen zu. Schon öffneten sich oben in Windeseile mehrere Fenster, und ein Schauer von Gegenständen prasselte herab.

Das war Erpressung, nicht zu leugnen, aber wie sonst sollten sie leben? Immerhin kündigten sie aber warnend ihr Kommen an, was die Straßen von in Furcht und panischen Schrecken versetzten Leuten leer fegte. „Wo leben sie denn, Jim?“ fragte er den Fahrer.

„Einen Kilometer die Straße weiter abwärts. In einem alten Steinbruch, wo früher im vorigen Jahrhundert die Steine für viele Gebäude in dieser Gegend herkamen. Ungefähr tausend Leute leben dort ständig. Sie machen’s meist nicht sehr lang.“

Die Bluter kamen immer näher, und Boyd stieg aus der Rikscha, zerrte die schweren Kisten mit Lebensmitteln hervor und nahm so viele davon unter den Arm, wie er ohne zu wanken tragen konnte. Ein Gesicht, das weniger schmutzig war als die anderen, zeigte Überraschung. „Blut!“ schrie der Mann ihm warnend entgegen.

„Lebensmittel!“ rief Boyd zurück. „Ich will mit euch einen Handel machen. Einer soll herkommen.“

Währenddessen öffneten sich mehrere Fenster in den umliegenden Häusern, aus denen gellende Warnrufe erschollen, die er jedoch absichtlich überhörte. Einer der Bluter schritt argwöhnisch vorwärts. Da öffnete Boyd seine Kisten und legte seine Tauschware offen. Ihm schienen die Lebensmittel kümmerlich genug zu sein, für sie, die sie sich sonst nur Abfälle erbettelten, mußten sie aber wahre Schätze bedeuten. „Ich biete sie euch im Tausch gegen einen Teelöffel voll Blut von einem von euch an. Keine Angst, ich stelle euch keine Falle.“

Sie stritten untereinander. Auf den fleckigen Gesichtern arbeitete der Hunger angesichts des guten Essens. Schließlich kam einer etwas näher. „Er ist Arzt“, rief er den andern zu. „Ich habe was von Untersuchungen gehört. Ich habe keine Angst.“

Er hatte offenbar doch welche, obwohl sie mehr darin bestand, Boyd zu berühren, als in dem, was ihm geschehen konnte. Eine merkwürdige, tiefverwurzelte, kulturell gewachsene Moral hatte diesen armen Wesen absolute Isolation von der übrigen Bevölkerung auferlegt, ohne jegliche Aussicht auf Rückkehr in die Gesellschaft. Boyd benutzte eine besonders dünne Nadel für die Blutentnahme und bedeckte sorgfältig die winzige Einstichstelle, um jede weitere Blutung zu unterbinden. „Das war’s schon“, sagte er. „Die Lebensmittel gehören euch.“

Er sah nicht zurück, als sie darüber herfielen. Er wurde das Gefühl nicht los, daß seine blaue Kleidung und Robe an auffallender Neuheit verloren hatte.

Niemand behinderte ihn am nächsten Tag im Laboratorium, als er sich ein normales Mikroskop entlieh und in der Fachbibliothek herumstöberte, bis er das geeignete Buch mit Farbabbildungen von Blutpräparaten aufgestöbert hatte. Obwohl kein Experte, hatte er diesmal die Probe sachgemäß konserviert, so daß auf den Objektträgern allerhand zu erkennen war.

Mit den Leukozyten, auch weiße Blutkörperchen genannt, war offenbar alles in Ordnung. Leukämie schied also aus. Die Anzahl der kleinen Körperchen jedoch, der Wächter des Blutkreislaufs, befand sich weit unter dem Durchschnitt. Irgendeine unbekannte Kraft vernichtete sie innerhalb des Blutkreislaufs dieser armen Menschen oder aber hinderte das Knochenmark an ihrer Neubildung. Seiner Schlußfolgerung nach befand sich die Minderzahl der Körperchen noch gerade oberhalb jener Grenze, ab der die unmittelbare Gefahr einer totalen Blutung aller inneren Organe bestand. Andererseits war kein Mensch bei dem Grad von Haargefäßblutungen, die er gesehen hatte, in der Lage, lange zu leben.

All dies ähnelte einer früher seltenen Fehlfunktion, von der er in den medizinhistorischen Büchern seiner Großmutter gelesen hatte – und zwar einer von sich aus entstehenden Fehlfunktion der Thrombozyten, die recht häufig mit starken Dosen eines kortisonhaltigen Medikaments zum Stillstand gebracht worden war.

„Na, wie klappt’s?“ erklang Bens Stimme hinter ihm. Als er sich umwandte, sah er ihn im Türrahmen stehen und ihn beobachten.

„Ganz prima, denke ich“, antwortete Boyd. „Ein kleines Projekt in Eigeninitiative. Langsam muß ich auch dem zustimmen, was Sie über das medizinische Niveau auf der Erde gesagt haben.“

Ben nickte ihm zu und ging zurück an seine eigene Arbeit, Boyd seinen Theorien überlassend. Alles schien sich jedoch zu bestätigen. Er unterbrach seine Arbeit, um ein Mittagessen in einer nahe gelegenen Cafeteria, ebenfalls inmitten der unterirdischen Stadt unter der Kathedrale, einzunehmen. Danach begab er sich in die Arzneimittelausgabe, wo er eine Anforderung über Kortison einreichte. Wenn er einen Bluter erfolgreich behandeln konnte und nachweisen, womit …

„Tut mir leid, Kortison haben wir nicht, Dr. Jensen“, informierte ihn der Ausgebende. Auch bei allen anderen Steroidhormonen, die er als Ersatz aufgeführt hatte, erhielt er den gleichen Bescheid. Der Ausgebende runzelte bei jedem Posten immer mehr die Stirn. „Wir lagern keinerlei Pharmaka dieser Art. Sie stehen nicht auf der Liste!“

Boyd seufzte und gab auf. „Wie ist es mit Cholesterol?“

Das hatte der Mann vorrätig, obwohl er anfänglich irgendwie Bedenken hatte. Boyd forderte ein ansehnliches Quantum an, zusammen mit anderen Chemikalien. Dann unterschrieb er den Ausgabebeleg, sammelte alles ein und begab sich zurück in sein kleines Zimmer, wo er die Sachen auf dem Tisch ausbreitete.

In Chemie besaß er nicht soviel Erfahrung, wie eigentlich nötig gewesen wäre, aber er hatte immerhin Tumultys grundlegendes Werk gelesen, der zehn Jahre zuvor an der Universität zu Marshafen ein einfaches Verfahren einer Synthese von Kortison aus Cholesterol entdeckt hatte. Es hatte eine Vielzahl von Fragen über die Reaktion des Körpers auf Hormone geklärt. In diesem Fall aber zählte das Produkt und nicht die Theorie. Endlich konnte er befriedigt nicken, weil er sicher war, dieses Verfahren in kaum einer Stunde wiederholen zu können. Es war eine gekonnt einfache Synthese, die weniger Zeit beanspruchte, als er ursprünglich gedacht hatte.

„Was tun Sie dort, Dr. Jensen?“ hörte er die Stimme des Angestellten aus der Ausgabe hinter sich.

Boyd stoppte die Brennerzufuhr und begann, das hergestellte Pulver abzukühlen. „Ich habe gerade etwa fünfzig Gramm Kortison hergestellt“, antwortete er. „Wollen Sie etwas davon für Ihr Lager abhaben?“

Schmunzelnd wandte er sich um. Sein Triumph aber erstarb schlagartig, als er zwei finster dreinschauende Priester neben dem Angestellten entdeckte. In um die Roben geschnallten Gürteln steckten Pistolen. Die Waffen und die bösen Blicke verrieten bereits das, was einer der Männer zu sagen hatte: „Dr. Jensen, Sie sind verhaftet!“