An Werktagen war die Versammlungshalle eine Art Fabrik, wo grober Stoff, den man aus bearbeitetem Tang herstellte, in kleinere Stücke zerschnitten und zur Verschiffung in ärmere Landstriche verpackt wurde. Nun hatte man den Fußboden geräumt, bis auf wenige Stoffballen, die als Sitze fungierten. Jeder Ballen bot zwei Personen bequem Platz, wie Boyd erkannte. Dann sah er überrascht zu den bereits anwesenden Personen hinüber. Die meisten von ihnen trugen leichte Masken.
Eine junge Frau mit gewaltigem Busen und zu schmalen Hüften kam auf sie zugetrippelt. Angesichts der gezwungenen Freundlichkeit in ihrer Stimme wußte Boyd sofort, daß sie mitverantwortlich für den Ablauf war. Sie bedeckte ihre Gesichter hastig mit dünnen Gazeschleiern, wonach sie sie den schmalen Korridor hinabführte. Ihre Brust drückte sanft gegen Boyds Körper.
„Nun, wollen mal sehen – ich glaube, ich setze Sie hierher, direkt in meine Nähe“, entschied sie sich schließlich, und erneut konnte er den sanften Druck spüren. Er wurde unsanft am Handgelenk gezogen, als Ellen sich auf dem Ballen niederließ und ihn mit sich zog.
„Hast du denn überhaupt kein Schamgefühl?“ flüsterte sie in sein Ohr.
Er wußte nicht, was er getan hatte, dessen er sich hätte schämen müssen, doch er verzichtete auf einen Protest. Dann grinste er und deutete rasch auf ihr Kleid. Dieses Mal war mehr als nur ein Schenkel zu sehen; wer auch immer ihr das Kleid verkauft hatte, hatte nicht allzuviel Geld für Stoff verschwendet.
Sie hatte die Grazie, entschuldigend zu lächeln, als sie das Kleid zurechtzupfte. Nach einer Weile brachte sie es sogar über sich, die Vergeblichkeit ihres Zornes einzusehen.
Boyd sah sich erneut in dem Raum um. Es gab schummrige Lichter unter kleinen Stoffschirmchen, die alle durch Leitungen, die in einem Punkt zusammenliefen, verbunden waren. Neben ihnen war eine kleine Bühne mit einem Tisch und einer kleinen Orgel. Der Hauch von Ehrfurcht, den Boyd beim Betreten der Halle verspürt hatte, fehlte hier völlig. Er fühlte sich unbehaglich und irgendwie fehl am Platze. Daran änderte sich auch nichts, als die Frau, die sie begrüßt hatte, begann, auf der Orgel zu spielen. Jeder fiel in den Psalm ein, doch ohne wirkliche Führung. Die meisten der Leute wirkten noch relativ jung, zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, von wenigen Ausnahmen abgesehen.
Dann ging plötzlich ein Mann im Gewand eines Priesters zu dem Tisch und begann ein Gebet. Auch sein Gesicht war unter einer dünnen Maske verborgen, und seine Stimme klang dünn und fiepsig, wie die eines Jungen, obwohl er sich sehr bemühte, ihr jene Resonanz zu verleihen, an der es ihr noch fehlte.
Danach setzten sie sich zurück, und die Predigt begann. Sie war sehr unbeholfen, und er begriff nicht ganz, was die Kernaussage war. Schließlich verhaspelte der Redner sich vollkommen und hörte auf zu sprechen. Er schwieg, offensichtlich sehr stark schwitzend, und zündete zwei Kerzen an, bevor er weitersprach. Danach ging es besser, und Boyd merkte, wie eine leichte Freude von dem Jungen Besitz ergriff. Die Kerzen verströmten einen seltsamen Geruch, der ihm allerdings nicht unangenehm war.
„Und daher bezeichnen wir uns selbst gern als Kinder des Ersten Gebotes“, schleuderte der Priester, der sich langsam für seine Ausführungen zu erwärmen begann, ihnen entgegen. „Denn das erste Gebot ist das wichtigste, nicht das elfte. Und wann wurde dieses Gebot verkündet? Ich werde Ihnen sagen, wann. Ich werde es direkt aus dem Buch vorlesen. Kapitel eins, Vers siebenundzwanzig: ‚Und Gott schuf die Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er sie; und schuf sie als Mann und Weib. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch Untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht. Da haben wir es, bevor Er sie vor dem Baum warnte. Sie waren nicht verheiratet, doch Gott erwartete von ihnen, daß sie sich vermehren sollten. Denn das ist die Pflicht eines jeden Mannes und einer jeden Frau, nicht nur diejenige derer, die im Bund der Ehe vereinigt sind. Das einzige andere wichtige Gebot ist, nicht ehezubrechen. Denn die, die das Sakrament der Ehe empfangen haben, müssen es heilighalten. Doch das erste Gebot kommt zuerst!
Und welches ist der Eckstein des ganzen christlichen Glaubens? Es ist dasselbe Gebot: ‚Liebet einander!’ Nur das. Brüder sollten einander mit brüderlicher Liebe und Schwestern einander mit schwesterlicher Liebe, Paare mit paarlicher Liebe lieben.“
Boyd konnte nicht viel über die Logik dessen sagen, doch er begann, sich an der Sache zu erfreuen. Andere um sie herum nickten bei den Worten des Priesters, sie alle schienen sichtlich aufzuleben, als der Geistliche mit einer Tirade gegen die unrechten Bande, mit denen das herrschende Establishment die Religion eingrenzte, loslegte. Wahrscheinlich wollten sie so fühlen. Offensichtlich waren diese Treffen nicht so wichtig, wie Ben dies ihm gegenüber erwähnt hatte. Sie kamen hierher, um sich in ihren Ansichten bekräftigen zu lassen, oder einfach nur, um einen Partner zu finden. Vielleicht würden sie mit ein wenig sündigeren Absichten davongehen, wenn das Treffen zu Ende war, doch Boyd bezweifelte es.
Er fühlte die großen Brüste in seinem Rücken, und gleichzeitig flüsterte eine Stimme ihm zu: „Halten Sie diese Tasse, bis der Priester zum Trinken auffordert.“ Die Frau gab auch Ellen eine Tasse, doch gelang es ihr, diese ohne eine große Annäherung zu überreichen.
Wenige Minuten später hob der Priester einen kostbaren Pokal und zitierte etwas in lateinischer Sprache. „Trinkt von den Früchten der fruchtbaren Erde“, befahl er und hob seinen eigenen Pokal wieder. Er schien leer zu sein.
Boyd hob die Tasse an seine Lippen und nippte daran. Es war eine Art Wein, doch er mochte das Aroma nicht, und es gelang ihm, den größten Teil unbemerkt wieder auszuspucken. Er wandte sich um. Ellen leerte mit verzerrtem Gesicht ihre Tasse.
Es folgten noch einige vernünftig vorgetragene Erläuterungen von seiten des Priesters sowie eine schmeichelnde Bitte um Spenden, damit die Wohltaten des ersten Gebotes auch anderen begreiflich gemacht werden konnten. Die Kollekte würde sie sicher nicht reich machen, doch mochte sie schon ganz beachtlich ausfallen, betrachtete man die Größe der Versammlung.
Der letzte Psalm klang schon wesentlich besser. Die Stimmen klangen voller und inniger. Boyd wartete, bis das Lied zu Ende war, wonach er sich gerade erheben wollte.
Die Lichter gingen aus, die Stimme des Priesters klang sanft in der Dunkelheit. „Gott segne euch, meine Kinder.“
Suchende Arme umschlangen ihn, und er spürte einen sanften, zärtlichen Atem in seinem Nacken. Automatisch schloß er seine eigenen Arme, und Ellens Lippen preßten sich gegen die seinen – dieses Mal nicht kalt, sondern offen, suchend und fordernd.
Zum Teufel mit dem Priester, dachte er. Diese Kerzen hatten eine Art stimulierendes Aroma enthalten, und in dem Wein war offenbar ein Aphrodisiakum enthalten gewesen. Er durfte die Situation nicht einfach ausnützen.
Er schüttelte Ellen sanft und versuchte sie zur Vernunft zu bringen. Sie stöhnte leise und rückte näher, dann entfernte sie sich wieder und glitt von dem Stoffballen herab, auf dem sie gesessen hatte. Boyd vergaß seine guten Vorsätze. Sein ganzer Körper stand in Flammen, als er sich zu ihr hinuntersinken ließ.
Die Umklammerung ihrer Gliedmaßen löste sich langsam, das Stöhnen in ihrer Kehle erstarb zu einem sanften Seufzen. Als er sich widerstrebend zurückzog, folgte ihr Kopf ihm, und er spürte einen letzten, sanften Kuß. Dann war sie verschwunden. Er hörte noch andere Bewegungen um sich herum in der Dunkelheit, während er nach seinen Kleidern suchte und sich anzog. Dann tastete er sich taumelnd den Korridor entlang, und gelegentlich stolperte er über einen Stoffballen. Auch andere Leute tappten umher, wenn auch nicht durch den Korridor. Scheinbar waren nicht alle restlos von ihren ersten Partnern befriedigt worden. Schließlich fand er eine Tür mit einem Vorhang, hob diesen an und schlüpfte ins Freie, wobei er gleichzeitig die dünne Stoffmaske von seinem Gesicht riß. Kühle Nachtluft wehte ihm ins Antlitz.
Ellen erwartete ihn, und er fühlte, wie ihm eine heiße Röte in die Wangen stieg und wandte den Blick von ihr ab. Doch sie kam völlig ungezwungen auf ihn zu. Nur die dunklen, feucht schimmernden Tiefen ihrer Augen und ihre vollen Lippen zeugten davon, daß sie ein Teil der Dunkelheit dort drinnen gewesen war. Lächelnd nahm sie ihn bei der Hand und wandte sich mit ihm der erleuchteten Straße zu, die sie zurück zu ihren Zimmern fuhren würde.
„Nach einem solchen Treffen steigt die Zahl der Beichten sicher sprunghaft an“, meinte er.
Sie lächelte ihn schalkhaft an. „Was nicht sündig ist, darüber muß man auch nicht beichten, oder, Boyd? Und vergiß nicht, alles war Teil einer religiösen Zeremonie.“
„Gewiß. Und wenn du jemals eine solche Zeremonie ohne mich besuchst, dann …“
Dieses Mal war ihr Lächeln spitzbübisch. „Dann? Was könntest du tun, wenn ich es machen würde? Ich könnte jede Woche hingehen.“
„Ich werde dir dort, wo dein Kleid am engsten ist, solche Schwellungen verpassen, daß du ganz bestimmt nicht hingehen kannst!“ sagte er ihr, und er bemühte sich erst gar nicht, spaßig zu klingen.
„Ich bin nicht dein Eigentum, Boyd Jensen“, erinnerte sie ihn. „Ich kann tun, was ich will. Ich muß dich nirgendwohin mitnehmen!“
Das war nur zu wahr, wenn er es auch schon fast vergessen hatte. Er murmelte etwas vor sich hin, bemüht, mit seinen Gedanken ins reine zu kommen. Das Hochgefühl, das er kurz nach der Zeremonie verspürt hatte, war verschwunden. Er dachte an all die anderen Gelegenheiten, bei denen sie schon dort gewesen war. Wie oft? Und hatte sie einen Partner mitgenommen, oder hatte sie einfach blindlings auf ihr Glück vertraut? Aber eigentlich ging ihn das gar nichts an.
„Tut mir leid“, sagte er schließlich.
Sie ließ es zu, daß er wieder ihre Hand nahm, und schon nach wenigen Minuten lachte sie wieder fröhlich.
Sie kamen an einem Stand vorüber, der immer noch geöffnet war. Dort wurden ein heißes Getränk und Kekse verkauft. Einen halben Block weiter blieb sie stehen. „Ich bin hungrig, Boyd, und es ist noch früh am Tag. Gehen wir essen.“
„In Ordnung“, stimmte er zu. Plötzlich war auch er hungrig. „Kaufen wir von allem etwas und gehen in meine Wohnung; dort können wir …“
Das Geräusch ihres Atems ließ ihn sie ansehen, und als er den Ausdruck ihres Gesichtes sah, verstummte er mitten im Satz. Sie stand wie erstarrt, die Linien ihres Gesichtes traten im Scheinwerferlicht hart hervor. Ihr gespannter Kiefer zeigte deutlich die Muskelstränge.
Sie faßte sich wieder etwas und öffnete zögernd den Mund. „Ja, Dr. Jensen?“ fragte sie undeutlich. „Was können wir dort? Nun können Sie auch ganz mit der Sprache herausrücken.“
Er wollte gerade antworten, er habe nur vorgeschlagen, in allem Komfort zu essen, doch sie ließ ihn nicht zu Worte kommen. Eiskalte Wut schüttelte sie, als sie einen Schritt auf ihn zukam. Er hatte noch nie eine menschliche Stimme einen ganzen Satz zischen hören, doch sie schaffte es irgendwie, zischend zu sprechen.
„Ich bin nicht diese Art von Frau, Doktor Jensen! Es gibt Grenzen, die auch ich nicht überschreiten werde! Wenn Sie so eine Frau wollen, warum nehmen Sie sich dann nicht eine von den Lizenznutten? Vielleicht gefällt Ihnen so etwas. Sie könnten dabei glänzen. Bei diesen Schlampen könnten Sie sich wie ein Held fühlen und müßten noch nicht einmal freundlich zu ihnen sein. O ja, ich glaube, das würde Ihnen sehr gefallen, Dr. Jensen.“
„Hör auf!“ fuhr er sie an. Auch er begann langsam die Beherrschung zu verlieren, doch noch hatte er sein Temperament unter Kontrolle. „Na schön, ich habe einen Fehler gemacht. Trotzdem sollten wir daraus kein öffentliches Spektakel machen!“
„Oh, nein – kein öffentliches Spektakel. Sie mögen lieber kleine, private Spektakel, nicht wahr? Sie lieben die private Abgeschiedenheit, aber öffentliche Szenen wollen Sie nicht! Ich habe schon genug von euch Marsianern gehört. Mort hat mir einiges über eure privaten Spektakel erzählt, über schamlose Kreaturen, die sogar im Beisein anderer die Kleider ablegen! Nehmen Sie sich doch eine Prostituierte! Sie wird ihnen wahrscheinlich ebenso schnell wie ich ein Kind schenken, aber vielleicht kommt es Ihnen darauf gar nicht an. Gehen Sie. Ihr Freund Pete kann Ihnen eine Adresse geben!“
Er packte sie und erstickte ihr Schreien mit seinen Händen. Sie biß nach ihm, doch dann brach sie in Tränen aus.
„Hör auf!“ sagte er. Sein eigener Zorn ließ ihn unbeherrscht werden, verdrängte seinen klaren Verstand. „Hör auf! Wenn es dir so verdammt leid tut, mich mitgenommen zu haben, dann war das schließlich nicht meine Schuld; du wolltest doch, daß ich mitkomme. Es hat wenig Sinn, nun über die Konsequenzen zu jammern. Und deine Chancen, schwanger zu werden, sind im Moment wesentlich geringer als die deiner verdammten Prostituierten. Hier, sieh dir das mal an!“
Er entblößte seinen Hals und zeigte ihr den weißen Verband. Ihre Augen hatten weggesehen, als er seinen Nacken freigemacht hatte, doch nun schienen sie sich fast an dem weißen Fleck festzusaugen.
„Das bietet Schutz für einen ganzen Monat. Wenn ich es auflege, bin ich steril“, erklärte er ihr.
In diesem Moment erlosch die Flamme seines Zorns, er wurde sich bewußt, daß er auf der Erde war. Was er getan hatte, war ein Fehler gewesen. Er ließ sie los und versuchte verzweifelt, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen.
Sie beugte sich zur Straße hinunter, und ihre Hand suchte nach einer Stelle, an der das Pflaster lose war. Mit einem Schwung ihres Armes erhob sie sich wieder und schleuderte einen Stein nach ihm. Er hatte noch niemals nackte Mordlust im Gesicht eines Menschen gesehen, schon gar nicht aus großer Nähe, doch nun sah er sie. Mit von der Verzweiflung verlangsamten Reflexen warf er sich zur Seite. Der Stein verfehlte sein Gesicht nur um Millimeter. Danach fiel er ihr in den Arm, und er benötigte beide Hände, um ihr den zweiten Stein zu entwinden.
Sie ließ ihn los und stürzte direkt auf ihn zu, mit Zähnen und Nägeln. Dann ließ sie die Arme sinken und begann zu lachen, leise zuerst, dann tief in ihrer Kehle. Sie kämpfte dagegen an, doch die Hysterie übermannte sie endgültig, als sie die Menge sah, die sich inzwischen um sie herum versammelt hatte.
Sie feuerten sie an, riefen ihr aufmunternde Worte zu, immer bemüht, sie noch mehr aufzuhetzen. Sie waren alle auf ihrer Seite, und sie wollten Blut sehen. Es gab nichts Besseres als einen guten Kampf zwischen einem Mann und seiner Frau, und ihren Rufen nach zu urteilen, schienen sie sie für ein streitendes Paar zu halten.
Ellen holte Atem und schwang sich blindlings weg von Boyd. Die Menge teilte sich, um sie durchzulassen, schloß sich hinter ihr aber sofort wieder und wirkte bedrohlich.
Es hatte keinen Zweck zu versuchen, ihr zu folgen, dachte er. Benommen wandte er sich seiner eigenen Behausung zu, und er fragte sich, ob sie ihn wohl gehen lassen würden. Sie murmelten zwar, doch sie ließen ihn gehen. Darüber verspürte er große Erleichterung, doch seine Beine zitterten noch immer unsicher unter ihm und die Kratzer in seinem Gesicht brannten höllisch.
Es spielte jedoch keine Rolle. Er verspürte einen weitaus größeren Schmerz in seiner Brust, und der Verlust all seiner Pläne hinterließ eine tiefe Leere in ihm.
Er hatte den Augenblick ausgenützt, das war richtig, doch er war sich über seine Pläne im klaren gewesen, als er sie zu sich gebeten hatte. Er hatte einen privaten Ort aufsuchen wollen, um sie zu bitten, seine Frau zu werden.