Nach seinen Erinnerungen hatte er eine vage Vorstellung von der Lage der Halle der Aufzeichnungen, doch das half ihm nicht viel. Als er das oberste Stockwerk erreicht hatte, hatte er vollkommen die Orientierung verloren. Die Fenster zeigten, daß es draußen noch immer Nacht war, doch er erhielt nicht den geringsten Fingerzeig, in welcher Richtung was lag. Er schlich einige Korridore entlang, in denen er nur wenige Menschen sah, die ihm keinerlei Aufmerksamkeit schenkten.
Eine Gruppe von Statuen vermittelte ihm schließlich eine Vorstellung davon, wo er sich befand. Er hatte sie schon einmal bei einem Besuch von Bonafortes Quartier gesehen. Nun identifizierte er die Richtung, aus der er gekommen war, und konnte somit sein Ziel grob lokalisieren. Es lag hinter ihm. Er wandte sich um. Die Türen waren hier nicht mehr gekennzeichnet, doch konnte er den Eingang durch Öffnen aller Türen relativ risikolos herausfinden. Niemand war konditioniert, gegenüber einem Bischof mißtrauisch zu sein.
Er probierte es ergebnislos bei einigen Türen. Zwar waren sie alle vollgestopft mit Aktenschränken, doch waren alle unverschlossen; und selbst hier würden die wirklichen Geheimnisse wahrscheinlich unter Verschluß gehalten werden. Er konnte sich auch nicht die Zeit nehmen, alle Schränke zu durchsuchen.
Die nächste Tür war anders. Sie wies alle Merkmale häufiger Benutzung auf, was sie automatisch von den anderen abhob. Boyd bewegte sich nun vorsichtiger; er hatte sich bereits versichert, daß niemand sonst sich in dem Korridor aufhielt. Er schritt vorwärts, wobei er sich so geräuschlos wie möglich bewegte. Er drehte den Knopf und öffnete lautlos die Tür. Rasch, aber leise trat er ein und schloß sie wieder hinter sich. Es war ein Mann in dem Raum, was ihm sofort auffiel. Er beugte sich über einen Gegenstand an einem Tisch, ein Bildschirm leuchtete vor ihm. Der Raum erinnerte an ein kleines Laboratorium.
Er stöhnte leise, als seine Augen sich erneut der Gestalt zuwandten. Es war Bonaforte!
Nun wandte sich der Erzbischof ihm zu. Er zeigte keinerlei Anzeichen von Überraschung. Gemächlich wandte er seinen Blick von dem Bildschirm ab und betrachtete Boyd. Seine Augen glitten über das Gesicht des jungen Mannes, dann zu seinen Händen und wieder zurück.
„Sie sind kein Bluter“, sagte er. „Ohne einen Bruch in der Sigma-Kette können Sie das gar nicht sein. Es sei denn …“
Er wandte sich wieder ab und griff nach den Kontrollen des Schirmprojektors. Alles war zu normal, viel zu wenig hektisch. Boyd schnellte vorwärts, er schwang die Waffe, um jedes Signal abzubrechen, das der Erzbischof vielleicht senden wollte. Er schlug kräftig mit dem Griff der Pistole zu, wobei er auf den Hinterkopf des alten Mannes zielte.
Doch in letzter Sekunde mußte Bonaforte die Bewegung wahrgenommen haben. Die Waffe traf, doch der Erzbischof hatte sich weggebeugt, trotzdem wurde seine Gestalt schlaff, und er fiel. Er blieb bewegungslos liegen. Boyd beugte sich argwöhnisch über ihn. Der Mann war durch den Schlag ein wenig benommen, aber bei Bewußtsein. Er schien fast nichts zu wiegen, als Boyd ihn aufhob und auf eine lange Couch legte.
Boyd suchte den Raum nach etwas ab, mit dem er Bonaforte fesseln und knebeln konnte. Auf dem Labortisch lag eine Kordel, er ging hinüber, die Pistole bereit, falls der andere irgendwelche Aktionen unternehmen wollte. Die Kordel lag genau unter dem Bildschirm. Ungewollt hob er den Blick und betrachtete die Projektion. Offensichtlich handelte es sich um eine schematische Darstellung einer menschlichen Zelle, das Genmuster war daneben ausgedruckt, das Bild glich denen, die er auf dem Mars studiert hatte. Er hatte auf dem Mars schon solche Projektionen gesehen, doch damals hatte er sie noch nicht deuten können. Nun begann er automatisch die salienten Charakteristiken zu dekodieren. In manchen der Ketten waren wilde Unregelmäßigkeiten, die nur bedeuten konnten, daß das betreffende Wesen eine Abnormität war.
Er wandte seinen Blick wieder ab und suchte nach der Kordel. Dabei glitten seine Augen über den Rand der Projektion. Er erstarrte. Der Name des Betreffenden stand dort in sauberen, marsianischen Schnörkeln geschrieben Boyd Allen Jensen.
Das war unmöglich – es mußte ein Irrtum sein. Er konnte keine Genmuster wie diese haben! Er hatte sein Genschema vor langer Zeit gesehen, aber damals war er erst ein Student im zweiten Jahr gewesen, außerstande, auch nur mehr als die gröbsten Daten der einfachsten Zelle zu entziffern. Der Genkode eines Menschen aber war verteufelt komplex und schwierig.
Doch diese Offensichtlichkeiten standen jeglicher Hoffnung seinerseits entgegen. Die Beschaffenheit der Zelle wies sie eindeutig als marsianisch aus, die Projektion war gekennzeichnet mit einer marsianischen Ablagenummer. Ungeachtet seines Wunsches, die Realität zu verleugnen, mußte er einsehen, daß dies tatsächlich seine eigene Zelle war, die man zusammen mit seinen Unterlagen hierher übermittelt hatte.
Er erstarrte vor dem Schirm und bemühte sich krampfhaft, das Bild zu interpretieren. Niemand kann jemals seine eigenen Motive klar interpretieren oder seinen eigenen Genkode mit wahrer Einsicht entschlüsseln. Doch seine Zelle wies Merkmale auf, die er nicht übersehen oder wegdenken konnte. Da waren zahllose rezessive Schäden, Mutationen, deren Effekte er nicht einmal annähernd schätzen konnte. Die offensichtlichsten Details waren falsch. Er hatte gelbes Haar, aber ohne die normale blonde Determinante – doch da war ein vollkommen neues Muster, das er noch niemals zuvor gesehen hatte; er verstand nun zwar, wie das zu gelbem Haar fuhren konnte, doch es war nicht die normale Art, wie eine Zelle auszusehen hatte.
Kein Wunder, daß der Mars ihn verbannt hatte. Mit diesem explosiven Potential, das in ihm schlummerte, wäre es verrückt gewesen, das Risiko einer Verbreitung seines Erbgutes unter der gesunden Marsbevölkerung einzugehen!
Das Klingeln des Telefons unterbrach seine finsteren Gedankengänge. Er schnellte herum und sah, wie Bonaforte nach dem Instrument griff. Der Erzbischof saß aufrecht, er verzog schmerzlich das Gesicht, während er sich den Nacken rieb. Er nickte schwach, als Boyd mit der Pistole winkte. „Bonaforte“, beantwortete er den Anruf. „Ja, das hätte offensichtlich sein sollen … Warum? Um die Frau zu retten, natürlich. Er zeigt Anzeichen eines exzessiven Romantizismus in dieser ganzen Affäre … Nun gut, Muller, überprüfen sie seine früheren Kollegen und Bekannten; er wird Hilfe benötigen. Und informieren Sie mich weiter.“
Er hing ruhig ein. „Bis man mich von Ihrem Entkommen unterrichtete – und auch von Ihrer Einweisung in den Kerker –, das war vor etwa zehn Minuten, hatte man nie bezweifelt, daß Sie wirklich die Voigtsche Krankheit haben. Dr. Jensen, würde es Ihnen etwas ausmachen, meine Genschemata zu untersuchen und mit den Ihren zu vergleichen? Wenn Sie das tun wollen, finden Sie alles Nötige in der zweiten Schublade dieses Schreibtischs.“
Boyd zögerte. Der Mann war zu ruhig, sein Schauspiel am Telefon war zu fehlerlos gewesen. Dann, als er seine Augen wieder dem Schirm zuwandte, fällte er seine Entscheidung gegen seine Zweifel. Nach dem Schock der Erkenntnis über das, was in seinem eigenen Genkode lag, konnte er kaum mehr rational denken.
Er fand das kleine Dia und schob es in den Projektor. Die Kontrollen waren für ihn fremd und unhandlich, doch es gelang ihm, die Schärfe zu regeln, bis er etwas erkennen konnte. Als letztes regulierte er noch die Vergrößerung.
Es war unglaublich. Eine solche Verzerrung und Abweichung vom genetischen Kode war unmöglich – das konnte es einfach nicht geben. Bonaforte konnte – nach allem, was er hier sah – kaum mehr menschlich genannt werden. Dieses Chaos an Zellmutationen hätte fatal sein müssen. Es war aber ganz sicherlich ausreichend, um ihn vollkommen steril zu machen, daran konnte es keinen Zweifel geben. Einige der Faktoren, die zu einer Mißbildung seines Gehirns und seiner Nieren geführt hatten, waren offensichtlich, aber irgendwie schien überhaupt nichts zu stimmen. Wie die meisten Mutationen waren auch diese hier subtile Dinge ohne große Effekte auf Körper und Geist, doch die Gesamtheit war einfach ungeheuerlich.
„Meine Erbsünde, könnte man sagen“, sagte Bonaforte. Es waren weder Scham noch Stolz in seiner Stimme. „Ich lebe schon vierzig Jahre mit diesem Wissen. Und auch Sie können mit dem, was Sie eben erfahren haben, leben. Glauben Sie mir.“
Er stand auf, ging langsam auf den Aktenschrank zu und zog wahllos ein paar Dias heraus. Als Boyd benommen zurückwich, schob er eines nach dem anderen in den Projektor und stellte rasch die Fokussierung ein. Keine Zelle war so übel deformiert wie die Bonafortes, aber alle waren schlimmer als die Boyds. Einige der Deformationen schienen sich zu wiederholen, so als ob die Veränderung vor langer Zeit erfolgt wäre und sich im Laufe der Zeit über ganze Generationen ausgebreitet hätte, doch Boyd hatte zuwenig Zeit, um diesen Verdacht näher eingrenzen zu können.
„Haben Sie denn keine normalen Zellen in diesem Schrank hier?“ fragte er.
Bonaforte schaltete den Projektor aus und kam zurück zu der Couch. Er lächelte inzwischen, doch das Lächeln wurde von einer gehörigen Portion Bitterkeit getrübt. „Das waren Zellen von Leuten, die wir als unsere normalen, gesunden Menschen ansehen, Boyd“, antwortete er. „Beginnen Sie nun zu verstehen?“
Boyd erinnerte sich an alle verkrüppelten, deformierten und kranken Menschen, die er gesehen hatte. Die Bluter – Willmark hatte gesagt, daß dabei eine rezessive Mutation im Spiel war – und all die Opfer neuer Krankheiten. Harrys Schwester, deren Überreaktion gegenüber dem Geburtsstreß sie umbringen würde. Er hatte die meisten dieser Dinge den schlechten Bedingungen zugeschrieben. Nun aber boten die Deformierungen der Genkodes, die er gesehen hatte, eine bessere Erklärung. Die meisten Mutationen erzeugten keine sichtbare Veränderung am Körper. Nur ein geringer Prozentsatz brachte jene Monster und Freaks hervor, die sich der Welt präsentierten. Aber eine Mutation, die sich nicht deutlich zeigte, konnte in mancher Hinsicht viel gefährlicher sein. Die meisten dieser Mutationen waren krankhaft, nur eine verschwindend geringe Menge verstärkte positive Anlagen.
Boyd betrachtete seine Waffe. Er wußte, alles, was Bonaforte sagte, konnte sich als Hinhaltetaktik erweisen, bis die Wachen kamen. Der Mann war offensichtlich ein beachtlicher Schauspieler. Er sollte Bonaforte nun als Geisel benutzen und seine ursprünglichen Pläne verwirklichen, aber nach allem, was er gesehen hatte, schienen diese Pläne plötzlich keinerlei Wichtigkeit mehr zu haben.
Mit einer Geste des Abscheus legte er die Pistole auf den Tisch und sank in den Stuhl neben dem Tisch. „Nein“, sagte er bitter. „Nein, ich verstehe Ihre Welt überhaupt nicht – ich weiß nur, daß sie so etwas wie die Hölle sein muß.“
„Zu diesem Ergebnis sind auch schon andere gekommen“, meinte Bonaforte. „Vielleicht ist das in einem gewissen Sinne sogar die Wahrheit. Aber wenn dies so ist, dann ist es eine Hölle, die vor zweihundert Jahren durch einen Unfall entstanden ist. Heute ist es eine Welt, in der die Menschheit nach einer Möglichkeit des Überlebens suchen muß.“
Er ging zu dem Bücherregal an der einen Wand hinüber und zog ein Buch heraus. Es war alt und zerlesen, doch das Papier, auf dem es gedruckt war, wirkte noch immer kräftig. Als Copyright-Vermerk war das Jahr 2011 angegeben, und es war angefüllt mit Karten und Tabellen. Die Seite, die Bonaforte aufgeschlagen hatte, enthielt den durchschnittlichen Strahlungspegel für jeden Kontinent, nach Jahren abgestuft, beginnend mit dem Holocaust, bis zum Datum der Publikation. Boyd starrte die Tabelle entsetzt an. Manche Zahlen spiegelten die letale Dosis wider.
Dann erkannte er, daß dies ja nur Durchschnittswerte waren. Einige Gebiete hatten mehr abbekommen, andere weniger – was genügt hatte, um dem Leben eine Chance zu geben. Zudem war es ziemlich unterschiedlich, welches Ausmaß an Strahlung der individuelle Körper ertragen konnte. Wahrscheinlich waren mehr Leute in den Jahren nach der Bombe gestorben, an den Spätfolgen, als bei der Katastrophe selbst, aber offensichtlich hatten genügend viele überlebt, um die Welt im Verlauf von nur zwei Jahrhunderten wieder völlig zu Übervölkern.
Plötzlich fuhr er in die Höhe, als die wahre Bedeutung dessen seinen Verstand erreichte. Es waren Männer und Frauen übriggeblieben, die sich wieder vermehrt hatten – aber sie konnten nicht immer normale Kinder gezeugt haben. Mit diesem Strahlungspegel um sie herum mußten die genetischen Schäden grauenvoll gewesen sein. Jedes Kind, das nach dem Bombardement geboren worden war, mußte ein Mutant gewesen sein!
„Die Erde hat sich niemals wieder ganz erholt“, sagte Bonaforte. „Der größte Teil der radioaktiven Materie ist natürlich inzwischen verschwunden, aber viele der Auswirkungen auf das genetische Material unserer Tiere, Pflanzen und natürlich der Menschen werden erst heute sichtbar.“
Natürlich, das mußte zwangsläufig so sein. Die schlimmsten Mutationen wurden durch jene getötet, die sie hervorgebracht hatten. Aber dann gab es noch immer die rezessiven Mutationen – die Veränderungen, die nicht sichtbar waren, die aber in der Zellsubstanz warteten, bis sie in kommenden Generationen wieder zum Vorschein kommen konnten, etwa bei der Verbindung mit einem weiteren Rezessiven. Dazu kam die Kombination von Mutationen. In einer Welt, in der jedes Wesen mit individuellen Mutationen geschlagen war, würde jedes Kind eine noch größere Anzahl von Mutationen bekommen als seine Elternteile, die zudem noch durch eine eventuelle Reststrahlung forciert wurden. Der Schaden würde zunehmen und sich über Generationen hinweg ausbreiten, bis alle möglichen Kombinationen durchprobiert waren und sich ein neues Gleichgewicht einstellte.
Die Resultate bei Individuen, die besonders schlimm dran waren, würden zum Tode führen, vielleicht bevor es zur Zeugung von Kindern kam. Die schwächenden Einflüsse würden dazu tendieren, sich im Laufe der Zeit selbst auszumerzen. Aber das würde schon viel Zeit erfordern; der Preis, den die Menschen zahlen mußten, war sehr hoch.
„Das ist die Rache für die Sünden der Väter an den Kindern, bis in die dritte und vierte Generation“, sagte Bonaforte. „Nur wird es in unserem Falle wahrscheinlich die dreißigste oder vierzigste Generation sein.“
Boyd erinnerte sich an seinen Fall. Sein Großvater war wahrscheinlich einer der letzten Betroffenen gewesen. Er war eben noch in der Lage gewesen, den mehr als harten Einreisebestimmungen des Mars zu genügen. Und nun, nach drei Generationen, begannen die ersten Mutationen sich in Boyds Zellen zu zeigen.
„Demnach müßten sehr viele Monstren geboren werden“, meinte er.
Bonaforte nickte langsam. „Monstren, wie Sie sie nennen, und potentielle Monster. Diese werden ihren Müttern weggenommen und in speziellen Domizilen verwahrt.“ Er sah, wie Boyd erschauerte, sein Blick wurde stechend. „Was bedeutet Ihnen dies persönlich?“ fragte er.
Er hörte zu, wie Boyd Ellens Besuch im Domizil schilderte. Die Frage, weshalb dieser Punkt nicht in ihrer Anklage aufgetaucht war, beschäftigte ihn noch immer, daher beendete er seinen Bericht mit dieser Frage.
„Ich fürchte, dies geschah, um die Verfehlung eines unserer Priester zu verbergen“, antwortete Bonaforte. Er lächelte schmerzlich. „Das sind auch nur Menschen, müssen Sie wissen, und wenn sie sich eine Verfehlung zuschulden kommen lassen, dann versuchen sie manchmal, sie zu verbergen. Ihre Ellen hätte eigentlich ordnungsgemäß informiert werden müssen, weshalb man ihr Kind weggenommen hat. Vielleicht war der Priester zu beschäftigt oder zu sorglos. Daher kann niemand ihr einen Vorwurf machen für das, was sie getan hat. Ihre einzige Sünde war, daß ihr die Glaubenskraft fehlte, ihr Problem dem richtigen Mann zu offenbaren – und das ist eine weitverbreitete Sünde, fürchte ich.“ Wieder lächelte er bitter und sah Boyd an. „Eine Sünde, die man den Erdbewohnern verzeihen sollte. Die Kirche existiert, um zu helfen und zu informieren, nicht nur, um zu regieren.“
Das hörte sich so wunderbar vernünftig an. Aber jede verdrehte und monströse Ideologie seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte hatte einen vernünftigen Grundgedanken gehabt. Boyd schüttelte den Kopf, als er darüber nachdachte.
„Das paßt nicht zusammen. Was Sie mir da erzählen, ist wahrscheinlich alles wahr – aber es erklärt nicht alles. Es erklärt nicht Ihr wohlgehütetes elftes Gebot. Sie könnten die Deformationen einschränken, indem Sie das Geburtsrecht auf relativ gesunde Menschen beschränken, und Sie könnten die Bevölkerungszahl so niedrig halten, daß jeder das Beste aus seinem Leben machen kann. Aber anstatt das zu tun, forcieren Sie Ihren Vermehrungskult nur noch und zwingen ihn jedem menschlichen Wesen auf, das in der Lage ist, Kinder zu bekommen. Mit Ausnahme Ihrer eigenen Gruppe natürlich!“
Bonaforte versteifte sich, sein Gesichtsausdruck wurde kalt. Dann seufzte er leise und entspannte sich wieder. „Ich nehme an, die Gründe der Religion allein werden Sie nicht zufriedenstellen. Dann nehmen Sie die wissenschaftlichen Gründe, Dr. Jensen. Die Priesterschaft und die meisten derjenigen, die der Kirche dienen, werden unter den Sterilen ausgewählt, wie auch ich. Wir können es uns noch nicht einmal zum Nutzen der Kirche leisten, wertvolles Erbgut zu verlieren. Und was unser Beharren auf größtmöglicher Vermehrung aller angeht, im Gegensatz zu dem selektiven Recht der Vermehrung, das Sie vorschlagen, möchte ich sagen, daß kein Mensch weiß, wen er von seiner eigenen Rasse zum Nutzen der Zukunft auserwählen soll. Wir glauben, daß man nur Gott eine Entscheidung von solcher Tragweite zutrauen kann; und die Asiaten, die nicht an Gott glauben, trauen eine solche Entscheidung nur dem Zufall und der natürlichen Auslese zu. Können Sie mir sagen, welche Typen von den uns zur Verfügung stehenden unsicheren Strängen wir erwählen sollten – und wie viele vonnöten sein werden, um ein Überleben der menschlichen Rasse in den dunklen Tagen sicherzustellen, wenn zehn weitere Generationen die Mutationen über die ganze Rasse verbreitet haben werden?“
Er schwieg kurz, und als er fortfuhr, klang seine Stimme sanfter. „Es gibt viele in der Kirche, die den ersten Bonaforte für einen Fanatiker halten und nicht für einen von Gott Erwählten, wie dies andere tun. Aber das spielt keine Rolle, denn seine Botschaft entsprach der Wahrheit. In den kommenden Generationen werden die Schwächen und die Deformationen, die bereits vorhanden sind, sich noch weiter ausbreiten und immer gefährlicher für uns werden. Nur eine maximale Population mit einem Maximum an verschiedenen Typen kann sicherstellen, daß wir genügend viele finden, die den Fortbestand der Rasse sichern können. Der Mensch muß fruchtbar sein und sich vermehren, wenn er die Erde in einer Form erhalten will, die sein Überleben sichert. Und wenn es damit auch Schrecken gibt, so müssen wir sie ertragen; vielleicht erscheinen sie uns auf lange Sicht als eine Gnade, da sie eine natürlichen Testbasis für unsere Kinder bilden, um die schwächeren Stränge auszumerzen und unsere Stärken zu entwickeln. Deckt sich denn das nicht im Grunde genommen auch mit den wissenschaftlichen Lehren des Mars?“
Boyd hatte im Moment keine Antwort parat. Er griff nach dem Dia, auf dem sein genetischer Kode aufgezeichnet war, und schob es in den Projektor, um es noch einmal zu betrachten. Da waren Hunderte, wahrscheinlich sogar Tausende winziger Abweichungen von der Norm. Konnte er etwas davon auswählen und sagen, dies wäre einer Erhaltung wert und jenes andere nicht? Und konnte er sicher sein, daß da nicht irgend etwas war, das in Verbindung mit anderen Genen erst seine wahre Gefährlichkeit zeigen würde? Er wußte natürlich, daß er dazu außerstande war.
Das elfte Gebot war kein Aberglaube, die Kirche hatte recht. Kein Wunder, daß es hier keine Revolution gab, da die Notwendigkeit dieser Doktrin wahrscheinlich von allen eingesehen wurde, die intelligent genug waren, um eine Opposition gegen sie bilden zu können.
Fakten und der Glaube waren einander kongruent.
Ganz sanft drang Bonafortes Stimme in seine Gedanken ein. „Akzeptieren Sie nun die Autorität der Kirche, Boyd Jensen?“
Das war keine Frage mehr. „Ja, Vater“, sagte er. „Das tue ich. Rufen Sie Ihre Wachen, ich werde keinen Widerstand leisten.“ Er senkte den Kopf.
Er fühlte die Hand des Erzbischofs auf seiner Schulter und sah auf, das gütige Gesicht lächelte auf ihn herab.
„Sie haben vieles getan, das falsch war, und auch viel Böses“, sagte Bonaforte, doch in seiner Stimme lag kein Vorwurf. „Man hätte Sie wegen wesentlich geringerer Verstöße hinrichten können, und vielleicht hätte man das auch tun sollen. Aber glauben Sie wirklich, ich hätte mir all die Mühe mit Ihnen gemacht, um Sie nun aufzugeben?“
Er zog seine linke Hand aus dem schweren Ärmel, wobei er ein Objekt mit einigen Knöpfen und einem dünnen Draht, der in der Robe verschwand, enthüllte. „Die Wachen umgaben Sie die ganze Zeit, Boyd. Es sind alles trainierte Männer, die Ihnen Ihre Pistole noch vor Ihrem ersten Schuß aus der Hand hätten schlagen können. Nur ein hastiges Signal damit bewahrte Sie davor, von Kugeln durchbohrt zu werden, als Sie mich angriffen. Nein, es war nicht einfach, Sie zu überzeugen und zu retten. Aber ich kann auch störrisch sein. Die Kirche begleicht ihre Schulden. Wir können gnädig zu jemandem sein, der uns gedient hat und unsere Gnade verdient, wie das bei Ihnen der Fall ist. Und ich habe genug Macht, um sogar Ihre Sünden zu vergeben.“ Er kicherte leise. „Zudem würde der Blinde Stephan zu einem Kreuzzug gegen mich aufrufen, wenn ich eine Strafe gegen Sie verhängen würde. Sie sind frei – oder werden es sein, sobald Sie mir Zeit geben, die nötigen Formalitäten zu erledigen.“
„Und Ellen?“ fragte Boyd.
„Und Ellen auch, natürlich. Wir können es uns nicht leisten, Erbgut, das so stark und so gesund wie Ihres ist, zu vergeuden.“ Bonaforte schickte sich an, eine Hand zu heben. Dann hielt er inne und grinste erneut. „Sagen Sie lediglich einem der Männer im Nebenzimmer, wo Sie den armen Bischof Mendez gelassen haben, und geben Sie ihm seine Robe zurück. Er muß inzwischen halb erfroren sein, und Ihnen steht sie sowieso nicht.“