14

 

 

 

„Guten Abend, Mr. Jensen“, sagte der Mann ohne den geringsten Respekt vor dem Titel. „Ich bin Smith, Auswärtiges Amt. Ich habe Sie erwartet.“

Boyd schob sich an ihm vorbei zu seinem Bett, das er als Couch verwendete, und ließ sich darauf fallen. „Wie haben Sie mich gefunden? Und warum?“

Smith, oder wie auch immer sein wirklicher Name lauten mochte, setzte sich wieder in den Stuhl und lächelte dünn. „Sie sind nicht schwer zu finden, angesichts der Nummer, die im Radio bekanntgegeben wurde. Ich habe ein Veloziped gemietet. Der Fahrer hat Sie mittels der Zentralen Aufzeichnung gefunden. Zudem sind wir nicht vollkommen ignorant gegenüber den irdischen Gebräuchen. Und was das Warum betrifft – auch dafür können Sie die Radiosendung verantwortlich machen.“

„Sie sind in diesen paar Stunden vom Mars hierhergekommen? Das kann ich kaum glauben.“ Selbst bei enger Disposition benötigte man mindestens zwei Tage für die Reise.

„Oh, nicht vom Mars. Wir haben einen Wachposten in der alten Raumstation. Ohne unsere Korrekturmanöver wäre sie schon vor Jahren abgestürzt. Ich bin in einer kleinen Kapsel hergekommen. Niemand überwacht mehr den Luftraum.“ Seine harten Augen waren auf Boyd fixiert. „Was war die Bedeutung dieser ungewöhnlichen Ansprache heute morgen?“

„Wenn Sie so vertraut sind mit den Gebräuchen der Erde, dann finden Sie es doch selbst heraus“, schlug Boyd vor. Mit einmal wußte Boyd, warum der Mann zu ihm gekommen war. Smith konnte unerkannt bleiben – solange er der Aufmerksamkeit entging –, doch er konnte unmöglich Nachforschungen anstellen, ohne seine Fremdartigkeit zu enthüllen. Der einzige Mann, bei dem er sicher nachfragen konnte, war ein Ex-Marsianer.

Smith schien weniger selbstzufrieden, als das für einen Marsianer typisch war. „Zuerst war alles ziemlich schwammig. Wir analysierten es mit einem Computer, doch dabei kam nichts heraus. Es klang aber wie Kriegsgerede, wobei ein großer Teil dem Himmel gewidmet war. Als wir in den Computer eingaben, statt Himmel Mars zu lesen, da interpretierte er es als Aufruf, uns anzugreifen und die Sterne zu erobern. Haben Sie Gerüchte über eine Entwicklung von Sternenschiffen auf der Erde gehört? Und wer ist der Blinde Stephan?“

Ohne es zu wollen, lachte Boyd lauthals los. Er erinnerte sich an alles, was ihm noch von der Rede einfiel; es war gar nicht so unlogisch, daß Mars sie mißverstanden hatte. Dort war man schließlich nicht firm in biblischen Metaphern, Wundern und zehn Jahren der Bitterkeit über den Verlust Australiens für das Christentum. Selbst er hatte einige Teile nur unter größten Schwierigkeiten interpretieren können.

„Warum sollte ich Ihnen das erzählen?“ fragte er.

„Weil Sie ein Marsianer sind“, sagte Smith einfach. Dann, angesichts Boyds Grimasse, modifizierte er das ein wenig. „Oder ein Marsianer waren. Sie wollen doch sicherlich nicht zusehen, wie das Pack dieser Welt den einzigen Planeten angreift, der noch Hoffnung für die Zukunft der menschlichen Rasse bereithält? Oh, ohne Zweifel, wir könnten gewinnen, aber wir wollen unseren Lebensraum, den wir so mühevoll aufgebaut haben, nicht durch radioaktive Strahlung gefährden lassen. Kommen Sie schon, Dr. Jensen, sogar Sie müssen doch einsehen, was das für eine Katastrophe wäre.“

Der Mann schien seiner Sache wirklich sicher zu sein, er schien zu glauben, Boyd habe nur eine vorübergehende Verstimmung, die sich wieder legen würde, wenn er Gelegenheit hatte, zum Ruhme des Mars beizutragen. Boyd lachte wieder, aber dieses Mal über sich selbst. Er selbst hatte einst an den Herrschaftsanspruch des reinen Blutes und des Intellektes des Mars geglaubt – bis er herausgefunden hatte, daß sein eigenes Blut unrein war. „Vielen Dank für den korrekten Titel“, sagte er endlich. „Na schön, ich werde Ihnen alles erzählen – weil es verdammt überhaupt keinen Unterschied für die Erde macht, ob Sie es wissen oder nicht!“

 

 

Smith lauschte zuerst ungläubig. Doch der überlegene marsianische Intellekt war nicht nur Legende; der Stock, aus dem die gegenwärtige Population hervorgegangen war, hatte sich aus den besten Köpfen der Erde zusammengesetzt. Er stellte die richtigen Fragen und zog seine Schlüsse wie ein Computer. Endlich nickte er.

„Mit anderen Worten, die Analyse war korrekt, doch das Ziel ist Australien und nicht der Mars, während Asien den Teufel oder Drachen repräsentiert. Ja, das könnte stimmen. Mit diesen Informationen sollte der Computer eigentlich auch zu diesem Ergebnis kommen. Hmmm, ja. Das bedeutet die Möglichkeit eines Krieges zwischen Amerika und Asien. Vielleicht sogar eines Atomkrieges.“ Er hielt eine Hand hoch, als Boyd protestieren wollte. „Sie mögen vielleicht keine solchen Bomben haben, aber sie werden sie herstellen. Sie begannen einen Atomkrieg, während sie gerade beim Abrüsten waren, erinnern Sie sich? Nun, aber wir benötigen ja nicht viel von der Erde, jetzt, da die Venus sich so weit entwickelt hat.“

„Bedeutet das, daß Sie ein weiteres absolutes Embargo verhängen wollen?“ fragte Boyd.

„Aber natürlich. Wir hatten das sowieso schon für die nächsten Jahre geplant. Dies verlegt einfach das Datum ein wenig vor. Ist das nicht interessant – Sie und ich sind wahrscheinlich der letzte Kontakt zwischen Erde und Mars.“ Er stand langsam auf, lächelnd angesichts dieser Vorstellung. „Sie waren sehr hilfreich, Dr. Jensen, das weiß ich zu schätzen.“

„Sie werden mich bald noch mehr zu schätzen wissen“, versicherte Boyd ihm. „Wir werden viel Zeit haben auf der Rückreise zum Mars.“

„Was läßt Sie vermuten …?“

„Keine Vermutung. Nennen Sie es Wahrscheinlichkeit. Wenn Sie der letzte Besucher hier sind, dann muß ich entweder mit Ihnen kommen oder hierbleiben. Ich habe immer noch einen kleinen Anspruch auf Gerechtigkeit. Und ich war lange genug auf der Erde, um praktisch die Muskeln eines Einheimischen zu entwickeln. Entweder wir gehen zusammen, oder ich mache Ihnen Knoten in die Arme und sperre Sie in einen Schrank, bis Sie Ihre Meinung ändern.“

Smith blähte die Nasenflügel genüßlich, während er die Situation studierte. „Sie fangen sogar schon an, mit Erdmuskeln zu denken“, sagte er schließlich.

Er bewegte die Hand unmerklich, und etwas fiel aus seinem Ärmel. Es war eine Röhre, die leicht zischte. Ein dünner Dunststrahl traf Boyd mitten ins Gesicht. Er konnte keinen Geruch wahrnehmen, noch hatte er Zeit, den instinktiven Atemzug zurückzuhalten, der das Gas in die Lungen brachte. Er fiel bereits, als Smith sich dem Tor zuwandte, doch er war schon nicht mehr bei Bewußtsein, als er auf dem Boden aufschlug.

Er hatte das vage Gefühl, daß Stunden verstrichen sein mußten, als er wieder zu sich kam. Erde, wiederholte sein Verstand. Erde. Er hatte nicht irdisch gedacht. Marsianer trugen niemals Waffen – auf dem Mars. Er hatte marsianisch gedacht. Erde – zurückkehren zur Erde, lernen, wie ein Erdenmensch zu denken. Dann schnappte etwas in seinem Kopf ein, er erkannte, er war ein Narr gewesen, und es würde niemals eine Rückkehr geben. Der Mars war für immer verloren.

Sein Mund schmeckte metallisch und fühlte sich geschwollen an, er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Überraschenderweise berührte ein Glas Wasser seinen Mund, ein Arm hob seinen Kopf, damit er trinken konnte.

„Wird aber auch Zeit, Sie Bastard“, sagte eine heisere Stimme. „Sie liegen schon lange genug flach. Verdammter Einzeltrinker! Los doch, ich werde Sie wieder in Form bringen, damit ich Sie langsam und genüßlich töten kann und Sie auch was davon haben.“

„Mort!“ Boyd hatte es endlich geschafft, die Augen zu öffnen. Er begann, sich von der Couch zu erheben, auf die Mort ihn gelegt haben mußte. Was auch immer das Betäubungsmittel gewesen war, seine Wirkung schien ebenso rasch wieder zu vergehen, wie sie begann.

Der Mann nickte mit seinem fleckigen Schädel. „Das ist richtig, Mort. Ich. Der Bursche, den Sie reingelegt haben. Oh, das muß man Ihnen lassen, Sie haben alles schlau eingefädelt. Haben niemals deutlich gesagt, daß die Dinger auch funktionieren würden. Sie haben mich nur in dem Glauben gelassen und sie mir gegeben. Aber das kann man mit mir nicht machen. Ich habe gewartet, bis Sie zurückkamen. Jede Nacht war ich hier und habe auf Sie gewartet.“

Boyd trank den letzten Schluck Wasser. Dann schwang er seine Füße vom Bett und setzte sich aufrecht hin. Physisch fühlte er sich bereits wieder er selbst. „Von was, zum Teufel, reden Sie, Mort?“

„Von den Pflastern.“ Das häßliche Gesicht des Mannes zeigte deutliche Anzeichen des Ärgers. „Die nützen nur nichts! Zum Glück habe ich sie an einem Rattenpärchen ausprobiert, das ich extra für solche Gelegenheiten habe. Nur habe ich ein paar davon schon vor dem Experiment abgegeben, und wenn die Jungs herausfinden, daß sie nichts nützen, dann wird das nicht sehr erfreulich werden.“

Endlich fügten sich einige Teile des Bildes zusammen. Boyd grinste wieder in sich hinein. Er war tatsächlich naiv genug gewesen anzunehmen, irgendwo auf diesem Planeten könnte jemand sich des herrschenden Zustandes so bewußt sein, daß er es vermeiden wollte, Kinder zu bekommen. Er hätte es besser wissen müssen.

„Sie wollen also statt auf Verhütung auf Schwangerschaft hinaus, Mort“, meinte er. „Wenn die Fruchtbarkeit mit den alten Drogen verhindert wurde, dann folgte, wenn man sie wieder absetzte, eine Phase, in der diese Fruchtbarkeit zunahm. Das ist bei meinen Pflastern nicht der Fall, weil sie nicht auf Hormonbasis funktionieren. Sie sind hundertprozentig kontrazeptiv, mehr nicht. Ich dachte, das wäre es, was Sie wollten.“

„Quatsch. Wer würde denn schon so etwas wollen?“ Mort fuhr sich mit einer schmutzigen Hand über die Stirn, noch nicht überzeugt. „Ein Mann hat schon genug Probleme, wenn er erklären soll, weshalb er nur ein oder zwei Kinder hat oder seine Frau mit ihm unzufrieden ist. Dasselbe bei den Frauen. Daher kommen sie zu mir und bitten mich um Hilfe. Ich kann normalerweise auch helfen, aber manchmal dauert es eben länger.“

Er dachte nach, ließ sich in einen Stuhl fallen, seine Schweinsaugen leuchteten wieder. „Auf dem Mars, Doktor – da wollen Sie herumspielen, ohne in Schwierigkeiten zu kommen, daher machen sie diese Dinger, die ich von Ihnen habe. Aber wollen sie denn nicht hin und wieder auch Kinder haben und benötigen eine kleine Hilfe?“ Bei Boyds Nicken grinste er. „Also verwenden sie Hormone, nicht wahr?“

„Nicht mehr. Dort gibt es inzwischen andere Drogen, die direkt die Fruchtbarkeit stimulieren, ohne lange Warteperioden.“

„Und vielleicht weiß ein so kluger und ausgebildeter Bursche wie Sie genug, um sie herstellen zu können, he? Mein Schwesterlein hat immer gesagt, Sie wüßten in Chemie gut Bescheid.“

„Ich könnte sie wahrscheinlich herstellen – das ist einfacher, als Zellfragmente zusammenzufügen. Aber ich habe nicht vor, es zu versuchen.“ Er sah, wie der Gesichtsausdruck des anderen sich weiter verfinsterte, daher kam er direkt zu seinem eigentlichen Ziel. „Wo ist Ihre Schwester jetzt, Mort?“

Wenn hier Schauspielerei im Spiel war, dann reagierte Mort bemerkenswert rasch. Der Ärger verschwand und wurde von etwas ersetzt, das wirkliche Sorge hätte sein können. Mort drehte seinen dicken Körper um, um Boyd besser sehen zu können. „Das weiß ich nicht, Doktor, das weiß ich nicht. Sie ist nicht bei mir. Und Marian sagte, sie sei zu keinem Treffen gekommen. Sue und ich werden fast verrückt vor Sorge um sie. Zuerst dachten wir, sie könnte vielleicht hier aufkreuzen. Ich wußte, Sie würden bis heute weg sein, daher kam ich her, um nach ihr zu sehen. Sie hat uns noch nicht einmal das Geld geschickt, und das hat sie nie vergessen, als sie noch gearbeitet hat.“

Dann plötzlich, als habe die Erwähnung von Geld ihn an die ernste Seite des Gesprächs erinnert, nahm sein Gesicht wieder einen häßlichen Ausdruck an. „Sie denken besser noch mal über diese Drogen nach. Ich habe eine Organisation. Man macht nicht so leicht einen Narren aus Mort Maine.“

„Hexerei, Mort?“ fragte Boyd.

„Klar, Hexerei. Zweite Generation. Mein alter Herr wurde bei einem Überfall getötet, doch wir brachten seinen Körper weg und ließen ihn von einem Laster überfahren, damit sie’s nicht beweisen konnten. Und Sie werden auch nichts beweisen können, es sei denn, Sie sind bereit, mir Konters … Kontrazeptive … herzustellen. Wäre klüger, wenn Sie sich auf unsere Seite stellen würden. Wir könnten Ihnen zum Beispiel sagen, wann die marsianischen Schiffe ankommen oder wo man frisches Fleisch herbekommt – ’ne ganze Menge Dinge. Und wenn Sie herausfinden wollen, wo meine Schwester ist, dann wäre es nicht schlecht, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich finde sie rascher, als Sie das können. Ich habe Freunde, und ich kenne diese Stadt.“

Das war nicht von der Hand zu weisen. Außerdem wußte er mehr über Ellens Gewohnheiten als Boyd.

„Also gut, Mort“, sagte er schließlich. „Ich werde Ihre Drogen nicht herstellen – ich weiß, welche Strafe auf Alchimie steht. Aber ich werde Ihnen genug Geld geben, damit Sie die Kontrazeptive wieder von Ihren Kunden zurückkaufen können. Sagen Sie ihnen, daß Ihr Lieferant einen Fehler gemacht hat.“ Dann, als er den Starrsinn im Gesicht des anderen sah, entschied er, ein wenig aufgeschlossener zu reagieren. Mort konnte bezüglich der Drogen nur eingleisig denken. „Vielleicht können wir uns später noch einmal darüber unterhalten, wenn Sie mehr über Ellen herausgefunden haben. In Ordnung?“

Mort war noch immer widerwillig, doch schließlich ging er und nahm die von Boyd offerierte Summe mit. Boyds Guthaben wurde langsam unbehaglich schmal, doch er fühlte eine gewisse Verpflichtung gegenüber diesen armen Narren, die von Mort die falsche Droge gekauft hatten.

Nach diesem Zwischenfall verlief die restliche Woche in seltsamer, ununterbrochener Einförmigkeit. Er bekam eine halb-kompetente und – ihrer eigenen Meinung nach – wunderschöne Assistentin sowie die zwar kitzlige, aber trotzdem nicht übertrieben schwierige Routineaufgabe, die Resistenz von Spirochäten gegenüber den üblichen Antibiotika zu untersuchen. Er arbeitete daran effizient, doch ohne innere Anteilnahme. Das Ziel der Rückkehr zum Mars dauernd vor Augen und mit nichts auf der Erde, das ihm einen Anreiz zum Leben bot, schien er vollkommen die Orientierung verloren zu haben.

Bischof O’Neill ließ ihn drei Tage nach seiner Ankunft zu sich rufen. Als Boyd erschien, war das fette Gesicht zu seinem üblichen Lächeln gekräuselt, und auch die üblichen Ergüsse über die unerschöpflichen Wunder Gottes fehlten nicht, doch gleichzeitig zeigte er einigen Respekt. Er kam unverzüglich zur Sache.

„Seine Heiligkeit hat Sie unter seine Fittiche genommen, mein Junge. Oh, buchstäblich, buchstäblich. Sie wurden von unserer Jurisdiktion direkt der seinen unterstellt. Was war noch? Etwas über Urlaub? Ah, ja, ich erinnere mich. Er dachte, Sie würden vielleicht manchmal Heimweh empfinden. Vielleicht wollen Sie den Mars einmal besuchen?“

„Kaum. Ich scheine dauerhaft mit der Erde verbunden zu sein“, antwortete Boyd mit unbewegtem Gesicht. O’Neill mochte deutliche Antworten, hier hatte er eine.

„Genau das, was ich ihm auch schon gesagt habe.“ O’Neill strahlte glücklich, während seine Augen sich in diejenigen Boyds bohrten. „Trotzdem, man weiß nie. Gottes Wille, mein Junge, Gottes Wille. Wenn ich von einem Marsschiff höre, werde ich es Sie wissen lassen, für den Fall eines plötzlichen Meinungsumschwungs. Wir werden uns freuen, wenn wir mit Ihnen zusammenarbeiten können, wie ich es ihm auch schon gesagt habe.“

Boyd konnte keinerlei Anzeichen von Spott erkennen. Offensichtlich war die Erde von dem Embargo des Mars noch nicht informiert. Bonaforte hatte sich aufrichtig seiner Wünsche angenommen, ohne Abstriche und mit der Implikation, daß er vielleicht sogar zurückkehren konnte.

Er verbeugte sich vor O’Neill. „Sie sind zu gütig, und ich hoffe, Sie berichten Seiner Heiligkeit, wie dankbar ich bin“, sagte er. Es war zwecklos, sich dem Wohlwollen Bonafortes gegenüber anders zu verhalten.

 

 

Harry hatte sich mit der gesamten Rikscha-Fahrerzunft in Verbindung gesetzt, um in aller Stille nach Ellen suchen zu lassen, doch er hatte keine Neuigkeiten. Boyd wußte, er war ein Narr, es überhaupt zu versuchen. Wenn ein Mädchen in dieser Stadt verschwand, dann konnte das auf hundert verschiedene, immer unerfreuliche Arten geschehen, und das Geheimnis würde möglicherweise niemals aufgeklärt werden. Doch Ellen war in der rauhen Welt Morts aufgewachsen, sie wußte wahrscheinlich, wie sie sich am besten schützen konnte, soweit dies einer Frau möglich war.

Er befand sich in einer niedergeschlagenen Stimmung, als Harry ihn am nächsten Morgen abholte. Er war sogar so sehr in seinem finsteren Brüten gefangen, daß er nur oberflächlich von Harry Notiz nahm, der offensichtlich etwas auf dem Herzen hatte. Doch dann zwang er sich mittels reiner Willenskraft zur Konzentration. Harry hatte seine Bereitschaft zu helfen noch nie von seinen eigenen Sorgen verdrängen lassen, daher wollte Boyd dies auch nicht tun.

„Es ist wegen meiner Schwester“, gestand Harry schließlich. „Etwas ist nicht in Ordnung.“

„Sie meinen, sie hat sich wieder von ihrem Mann getrennt?“

Harry lächelte humorlos. „Dieses Mal kam ihr Mann mit ihr. Es geht ihr nicht gut, und er möchte, daß sie einen richtigen Doktor aufsucht – derjenige, zu dem sie immer gehen, ist lediglich ein Doktor auf dem Papier, und der will ihr nicht helfen.“

Boyd schnitt eine Grimasse bei diesem Ausdruck; wahrscheinlich war er selbst nur ein Doktor auf dem Papier. Aber wenn Harrys Schwester eine ernste medizinische Behandlung benötigte, dann hatten sie ein wirkliches Problem. Nur wenige qualifizierte Männer behandelten Leute aus Harrys Schicht, zudem lagen deren Honorare weit über dem, was Harry sich leisten konnte. Da gab es noch die Kliniken, doch eine solche aufzusuchen war ein riskantes Spiel, wie Boyd erfahren hatte.

„Ich werde mich nach einem guten Arzt umsehen, Harry“, versprach er. Er haßte es, zu Willmark zu gehen, doch er konnte sich keine andere Informationsquelle vorstellen.

„Die beiden haben sich schon nach einem umgesehen. Sie bitten Sie, einmal nach ihr zu sehen, nach allem, was ich ihnen erzählt habe und was sie im Radio gehört haben.“ Harry schien plötzlich doppelt so verlegen zu sein. „Doktor, ich hasse es, ein Ärgernis zu sein, aber man sollte wirklich einmal nach ihr sehen, und ich habe eine Art Versprechen gegeben.“

Boyd wollte protestieren, doch dann gab er auf. Sein Urteil war wahrscheinlich ebenso zureichend wie das jedes anderen, den er fragen konnte. Wenn er die Frau gesehen hatte, konnte er zudem vielleicht abschätzen, nach welcher Art von Spezialist er sich bei Willmark erkundigen mußte. „Na schön, Harry, Sie können mich nach der Arbeit hinfahren – vorausgesetzt, das Ganze geht über die Bühne wie diese zweite Fahrt, die Sie mir damals gewährten. Ich berechne meinen Freunden nichts für Besuche nach Dienstschluß.“

Harry hatte Verstand genug, um keine falschen Proteste von sich zu geben. „Danke, Doktor“, sagte er daher nur.

Zu Boyds Überraschung lebte Harry in einem baufälligen Gebäude hinter dem Rikschastand; die meisten Fahrer kamen aus den wirklichen Slums. Das Gebäude war in einem üblen Zustand, und die Räume waren abstoßend, doch Harry hatte zwei kleine Zimmer im Erdgeschoß, die nicht so übel waren. „Eine Art Rückversicherung für schlechtere Zeiten“, erklärte Harry, als hätte er bemerkt, daß Boyd sich fragte, wie er beide Zimmer bezahlen konnte.

Drinnen war seine Wohnung fast attraktiv. Es war sauber, und Harry hatte wahre Wunder mit Altmaterialien vollbracht, aus denen er das gesamte Mobiliar zusammengezimmert hatte. Seine Gattin war eine einfache Frau, wahrscheinlich ein paar Jahre älter als er, die sich sehr freute, Harrys Freund kennenzulernen. Da waren außerdem vier Jungen, alle über zehn Jahre alt, und zwei jüngere Kinder, die verängstigt und kränklich wirkten – die Kinder von Harrys Schwester.

May, die Schwester, war eine Überraschung. Ihr Gesicht war erstaunlich, denn es hätte außerordentlich hübsch sein können, unter entsprechenden Umständen, doch der Körper war fast ebenso erstaunlich häßlich. Kurze, deformierte Beine führten zu einem Torso, der einem gekrümmten Rückgrat folgte und der zusätzlich von schwabbeligen Fettwülsten entstellt wurde. Ein Arm war verkümmert. Neben ihr fiel die durchschnittliche Gestalt ihres Mannes kaum auf.

Mrs. Harry – wie, zum Teufel, lautete denn nur ihr Nachname, fragte Boyd sich – hatte den kleineren der beiden Räume ausgeräumt, und dort hinein dirigierte sie nun Boyd und May.

Ihm fiel auf, daß die Frau schon seit mehreren Monaten schwanger sein mußte. Ihre Haut war fleckig, sie hatte dunkle Ränder unter den Augen. Boyd öffnete die Tasche, deren Inhalt er hastig zusammengesucht hatte, und fand schließlich die Gerätschaften, um ihre Augen zu untersuchen; ohne Drogen, die die Pupillen weiteten, konnte er sich nicht sicher sein, doch die roten Äderchen erinnerten ihn nur zu sehr an ein Bild, das er in einem der Bücher seiner Großmutter gesehen hatte. Das Licht hinter ihrem Ohrläppchen enthüllte eine leichte Anämie, die allerdings kaum gefährlich sein und keinesfalls all die anderen Symptome hervorgerufen haben konnte. Dies hier war nicht sein Metier, das wußte er, doch die Intuition kam ihm wie beim Betrachten des Nukleus einer neuen Zelle zu Hilfe.

„Hatten Sie diese Symptome auch während Ihrer vorherigen Schwangerschaften?“ fragte er. „Oder wurde es mit jedem Mal schlimmer?“

„Es wurde schlimmer“, gestand sie. Ihre Stimme hätte erfreulich klingen können, ohne den Unterton der Verzweiflung darin. „Dieses Mal wird es mich umbringen, nicht wahr?“

Dann sprudelte alles in einem Rutsch aus ihr heraus. Sie hatte sich verschiedenes zusammengereimt, hatte auch das eine oder andere von Nachbarn gehört. Irgend etwas in ihrem Körper und in dem des Fötus vergiftete sie beide. Sie hatte ihr zweites Kind fast verloren, sie hatte sich von dieser Geburt nie mehr völlig erholt. Buzz, ihr Mann, fürchtete so sehr um ihr Leben, daß sie danach fast nichts mehr miteinander gehabt hatten. Das hatte zu einer ganzen Reihe von Streits und Szenen geführt, bis schließlich das Unausweichliche geschehen war. Und dabei hatte sie ihn übertölpelt, wenn man ihren eigenen Worten glauben durfte. Hinterher waren die Streitereien nur noch heftiger geworden. Er hatte in der Zwischenzeit aber nichts mehr gesagt, und sie befanden sich mittlerweile in einem Stadium, wo selbst das Streiten vergeblich war. Sie kannten nur noch die verzweifelten Bemühungen sicherzustellen, daß dem Kind nichts passierte. Sie akzeptierte ihren eigenen Tod als unausweichlich.

„Aber Sie haben sich vorsätzlich auf eine neuerliche Schwangerschaft eingelassen?“ fragte Boyd.

Sie nickte. „Ich bin eine verheiratete Frau und außerdem eine gute Christin“, antwortete sie matt.

Seine Hände zitterten, als er seine Tasche wieder schloß und hinausging. Er war nicht aufgelegt zum Streiten. Der Rikschastand war direkt draußen, Harry nahm seine Schwester, während ein anderer Fahrer Boyd und Buzz transportierte.

In den übervölkerten Städten der Erde machte ein guter Arzt meistens Überstunden. Willmark war noch immer in seinem Büro.

„Sie sagten mir, beim nächsten Mal sollte ich gleich zu Ihnen kommen“, sagte Boyd zu ihm. „Ich nehme Sie beim Wort.“

Willmark stand hinter seinem Schreibtisch auf, und Boyd erwartete eine Explosion. Doch der ältere Mann ging ganz einfach zur Tür und studierte die drei Wartenden. Als er die Tür wieder geschlossen hatte, klang seine Stimme professionell. „Erzählen Sie mir, was los ist.“

Er hörte ruhig zu, nickte bei manchen Punkten und lächelte, als Boyd schließlich zugab, daß es nicht am Rhesusfaktor liegen könne, was man hätte beseitigen können, und das sei die einzige Vermutung gewesen, die er gehabt habe. Schließlich bat er May herein und unterzog sie einer Reihe von Routinetests, wobei er ihr einige simple Fragen stellte, die völlig zusammenhanglos zu sein schienen und nichts mit dem zu tun hatten, was Boyd vermutet hatte. Als sie wieder gegangen war, klopfte Willmark mit den Knöcheln auf einem Blutdruckmesser herum.

„Ich nehme alles zurück, Dr. Jensen“, sagte er schließlich. „Sie sind kein Narr. Sie sind ein verdammtes Ärgernis, aber das ist etwas, das ich tolerieren kann. Ich weiß auch, daß Sie ein ausgezeichneter Zytologe sind. Sind Sie bereit, einen stolzen Preis zu zahlen, damit ich meinen Einfluß auf einen Kollegen geltend mache – einen guten Arzt, einen Gynäkologen, wie man keinen besseren auf der Erde findet, wo das einer der ehrenvollsten Zweige der Medizin ist?“

Plötzlich kicherte er. „Vergessen Sie’s, ich werde dafür sorgen, daß Steadman sie auch so annimmt. Und wenn Sie später eine gewisse Dankbarkeit verspüren, dann habe ich da ein paar Bücher, die ich Ihnen gerne leihen möchte. Ein Mann, der weiß, was im Innern einer Zelle passiert, sollte auch wissen, was außerhalb von ihr geschieht, und das nicht nur aus medizinisch-historischen Büchern. Aber ich kann Sie nicht zum Denken zwingen, wenn Sie lesen, daher will ich keine Versprechungen. Intuition! Zwanzig Jahre habe ich damit verbracht, sie bei allen möglichen Einfaltspinseln gesucht, und nun finde ich sie bei einem Zytologen!“

Er schickte Boyd hinaus, während er telefonierte. Was er auch immer über die Leitung sagte, es wirkte. Nach zwanzig Minuten kam ein ausgemergelter, zorniger Doktor, der ungefähr in Boyds Alter sein mochte, hereingestapft. Zwei Minuten später befahl er May zu sich, gefolgt von ihrem Mann.

Willmark brachte das Paar wenig später wieder hinaus, und er bedeutete Boyd, ebenfalls dazubleiben. Steadman kam zur Tür heraus, wirkte noch immer zornig und stapfte in die Halle hinaus, doch Boyds Augen waren auf May fixiert. Sie sah aus, als hätte sie die beste Nachricht der Welt erhalten, und Buzz lächelte, wenn auch etwas unsicher. Willmark begleitete sie hinaus, während sie ihre Dankbarkeit versicherten, und May blieb kurz stehen und küßte Boyd die Hände. Schließlich kam der Doktor wieder zurück, jetzt ohne sein väterliches Gehabe. Er deutete mit dem Daumen in Richtung seines Büros.

„Tut mir leid, daß Sie ausgeschlossen wurden, Boyd. Steadman ist ein Genie, aber er ist ein komischer Kauz und kommt lediglich mit mir einigermaßen gut aus. Natürlich wird noch eine zusätzliche Untersuchung nötig sein, aber er wird sich persönlich um sie kümmern und ist seiner Sache bereits zu 99 Prozent sicher. Hier.“

Er hatte zwei Gläser voll Whisky hervorgeholt. Mit einem prostete er Boyd zu und wartete, bis dieser dasselbe tat. „Mit einem Patienten täglich geht’s dem Doktor kläglich“, sagte er, wobei er offensichtlich ein altes Sprichwort zitierte. Dann ließ er sich in einen Stuhl fallen.

„Es gibt eine ganze Menge Fach-Chinesisch, aber die Namen werden Ihnen nicht viel sagen. Nennen wir es eine allergische Reaktion, bei der das Allergenz außer Kontrolle geriet. Mutter und Kind zeigen beide eine Überreaktion durch Streß, aber in ihrem Fall ist das kumulativ. Steadman hat versprochen, daß er das Kind retten kann. Er wird einen Kaiserschnitt machen und Vorkehrungen treffen, die eine Kontaktierung mit ihrem Gewebe vermeiden. Es kann ein paar Stunden leben, es kann auch zu einem kränklichen Erwachsenen heranwachsen, doch er schwört, er kann garantieren, daß es die Taufe bekommen kann. Die Mutter wird sterben – bis zu dem Zeitpunkt der Entbindung wird es Steadmans ganzes Fingerspitzengefühl benötigen, sie am Leben zu erhalten, doch den Streß der Geburt wird sie nicht überstehen.“

„Aber das bedeutet, daß ihr Leben jetzt noch gerettet werden kann!“

„Das ist richtig. Wie ich schon sagte, ihr Leben, nicht ihre Seele. Boyd, Sie können diese Lektion auch jetzt lernen. Die Kirche, der Staat und die Mutter selbst würden Sie in kleine Stücke zerreißen, wenn Sie versuchen würden, die Schwangerschaft abzubrechen. Auf dem Mars kommen die Mütter zuerst. Hier ist es, wegen des katholischen Blickwinkels, genau umgekehrt.“

Natürlich hatte Boyd sich schon so etwas gedacht. „Das ist barbarischer Mord.“

„Ach was. Tut mir leid, aber das ist es nicht, sonst wären wir in der Lage, es zu ändern. Aus hiesiger Sicht ist das vollkommen humanitär und rational. Ein Kind, das vor der Taufe stirbt, kommt nach Limbo, in die Vorhölle – limbus infantum. Das ist zwar nicht ganz so schlimm wie die kindliche Verdammnis, die die Protestanten einst akzeptierten. Limbo ist ein freundlicher Ort. Aber dort wird dem Kind auf ewig verboten, die Vision Gottes sehen zu dürfen! Und eine Mutter, die die unsterbliche Seele ihres Kindes riskiert, wird nur schwerlich in einem Status der Gnade sterben. Retten Sie die Mutter, so verlieren Sie zwei Seelen. Auf der anderen Seite – stirbt sie in einem Status der Gnade und das Kind lebt und wird getauft, können beide die Segnung erringen. Sie können dagegen nicht logisch argumentieren, versuchen Sie es erst gar nicht.“

Boyd saß einfach da und erinnerte sich an die Dankbarkeit des Paares, sein Handrücken brannte, wo sie ihn geküßt hatte. Er griff nach der Whiskyflasche.

Harry war zurück und wartete auf ihn, als er ging.

„Großer Gott, sind Sie denn nicht müde genug, um zu Bett zu gehen?“ fragte Boyd zornig.

Harry schüttelte bestimmt den Kopf. „Nicht für Sie, Doktor. Von nun an niemals mehr!“

Seit fünfzehn Jahren hatte Boyd nicht mehr geweint. Nun brach es unbändig aus ihm heraus.