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Die Erde hatte weder eine Blaskapelle noch eine jubelnde Menge entsandt, um Boyd Jensen anläßlich seiner Rückkehr auf die Welt seiner Vorfahren willkommen zu heißen. Zwar predigte jetzt im Jahr 2190 die Amerikanische Katholische Eklektische Kirche immer noch das Gleichnis vom verlorenen Sohn, aber dumme Schäfchen gab es kaum mehr, und Festlichkeiten waren allein der Stärkung der Frommen vorbehalten. Obendrein war dem Laienstand normalerweise das Betreten des unkrautüberwucherten Landefelds verboten. Demgemäß hatten lediglich zwei verschreckte Mönche und ein Priester das ruhige Absinken des kleinen, ferngesteuerten Raumfahrzeugs beobachtet.

Nachdem sich die Ladeluke geöffnet hatte, tauschten die beiden in grobe Arbeitsroben gekleideten Mönche ängstlich Kisten und Säcke zwischen dem Schiff und einem kleinen, flachachsigen Motorladekarren aus. Unterdessen blätterte der Priester in elegant taillierter Robe von pastoralem Grün eine Aktenmappe mit Zollerklärungen und Dokumenten durch, die mit dem Schiff gekommen war. Nur ab und an glitt sein Blick hinüber zur Hauptluftschleuse. Offenbar schien er nur schwaches Interesse hinsichtlich der Tatsache eines Passagiers aufzubringen.

Boyd Jensen drinnen im Schiff schloß den bodenlangen Umhang, den man ihm zu tragen geraten hatte, hob den schmalen Koffer mit seinen Habseligkeiten auf und kletterte über eine Leiter in die Luftschleuse hinab. Mit einer Körpergröße von knapp einem Meter achtzig war er für einen auf dem Mars aufgewachsenen Menschen von kleiner Statur, was durch eine leicht gebeugte Haltung noch verstärkt wurde. Mager und schlaksig von Gestalt, wirkte er wie ein Jüngling im schwierigen Pubertätsstadium, dessen Hände und Füße im Vergleich zum übrigen Körper viel zu groß wirkten. Das Gesicht jedoch zeigte die Reife seiner dreißig Lebensjahre. Das kurzgeschnittene blonde Haar, die blauen Augen und die festen Züge mochten alle vom selben Wikingerahnen abstammen, der auch für seinen Namen verantwortlich gezeichnet hatte. Es war ein intelligentes und hübsches Gesicht, obwohl schwerlich ein glückliches.

Kurz zögerte er, bevor er das Schleusenventil betätigte. Als die Doppeltüren beiseite glitten, fing Boyd einen ersten Blick auf den Himmel ein – den unglaublichen Erdenhimmel, rundum in prächtigem Blau, von großflächigen, grauweiß getönten Flecken überzogen, die Wolken sein mußten. Die poetischen Beschreibungen und altertümlichen Farbfotos waren für sich allein schon interessant genug gewesen. Die Wirklichkeit jedoch war atemberaubend. Jetzt erst wurde Boyd völlig klar, daß dort draußen, jenseits der Luftschleuse, die Erde lag.

Er nahm seinen Mut zusammen, faßte den Koffer mit festem Griff, trat nach draußen auf den grasbewachsenen Boden hinaus und nahm einen tiefen Atemzug von der legendären Atmosphäre. Gleich darauf fiel ihm der Koffer aus der Hand, sein Körper krümmte sich nach vorn, geschüttelt von würgendem Brechreiz. Tränen schossen ihm in die Augen, während er es nur mit großer Mühe schaffte, Magen und Kehle unter Kontrolle zu bringen.

Der Planet stank! Die Luft war beißend und übelriechend, voll vom Gestank allen nur erdenklichen Unrats und von Fäulnis.

Kaum hatte er sich wieder in der Gewalt, als der Priester in der grünen Robe die Aktenmappe zuklappte und auf ihn zukam.

„Guten Tag, mein Sohn. Ich heiße Vater Gordini. Was ist mit Ihnen? Fühlen Sie sich nicht wohl?“ Äußerlich klang seine Stimme zwar besorgt, auf dem blasierten jungen Gesicht zeigte sich aber keine wahre Anteilnahme.

Boyd hatte seine Kehle wieder soweit unter Kontrolle, um eine Antwort hervorzukeuchen. „Nein, schon gut. Es ist nur dieser – dieser Geruch … Er kam zu unerwartet für mich.“

„Ach, meinen Sie?“ Feine aristokratische Nasenlöcher sogen schnüffelnd die Luft ein. Unschlüssig schüttelte der Priester dann leicht seinen Lockenkopf. „Nun ja, mag sein, daß die Gärsilos heute ein wenig streng riechen. Ja, ich glaube, Sie haben recht. Aber keine Sorge, daran haben Sie sich bald gewöhnt. Erst recht, wenn der Wind wieder seewärts weht … Wollen Sie jetzt bitte Ihr Gepäck aufnehmen und zurücktreten …“

Inzwischen war der Laderaum von marsianischen Produkten geleert und mit irdischen Gütern aufgefüllt worden. Die beiden Mönche hatten vorn auf dem beladenen Motorkarren auf einer Sitzbank Platz genommen. Aufmerksam den Blick auf Vater Gordini gerichtet, hielten sie beide ein Kruzifix hocherhoben in den Händen, dessen Arme seitwärts hochgebogen waren, so daß sie einen stumpfen Dreizack bildeten. Als Boyd zurücktrat, bemerkte er auch in den Händen des Priesters ein Kruzifix, welches auf das Schiff gerichtet war.

In diesem Moment schloß auf ein zeitlich festgelegtes Signal von innen die Automatik die Luftschleuse und die Ladeluke. Vater Gordini begann irgendwelche Beschwörungsformeln zu murmeln, die in einen leiernden Singsang übergingen, und dabei das Kreuz hin und her zu wedeln. Boyd konnte wegen des Studiums der lateinischen Ursprünge dieser Religion einige Worte identifizieren, der Sinn des Rituals blieb ihm aber ein Rätsel. Mit hochgereckten Armen und unbeweglich dastehend, beendete Gordini den Gesang.

Die Abstimmung war perfekt. Im gleichen Moment rührte sich das Schiff und hob sich lautlos auf seinem raumkrümmenden Feldgeneratorenantrieb. Erst von mehreren Kilometern Höhe an, wo es nur noch ein Punkt am Himmel war, entwickelte es seine volle Kraft und schien sich von einem Augenblick zum andern aufzulösen. Mit ihm ging Boyds letzter Kontakt zu jener Welt, auf der drei Generationen von Jensens geboren wurden.

Furchtsam bekreuzigten sich die beiden Mönche, als das Schiff verschwand. Vater Gordini beugte einen Augenblick lang seinen Kopf, fuhr dann aber fort zu beten. Von irgendwo im Innern seiner Robe zog er ein kleines Fläschchen heraus und sprengte den Inhalt rundum dort auf dem Boden aus, wo das Schiff gestanden hatte.

„Exorzismus und Reinigung des Bodens“, erläuterte er bei seiner Rückkehr zu Boyd. „Sicher, ein abergläubischer, aber harmloser Brauch – und ein notwendiger für die Brüder, denen es an unserem rationalen Blick auf Dinge ermangelt, welche die Himmelsmächte profanieren. Alles klar, Bruder Roger, wir können jetzt abfahren.“

Der ältere der beiden Mönche rutschte hinter das Steuerrad und betätigte eine Anzahl von Hebeln und Schaltern. Brennstoff zischte gegen die Kolben, und ein starker Geruch verbrannten Sprits machte sich breit. Holpernd setzte sich der Karren über den unebenen Boden hinweg in Bewegung, nur gefedert von der Elastizität der Plastikspeichen in den vollgummibereiften Rädern. Vater Gordini folgte mit flottem Schritt hinterdrein und winkte Boyd auffordernd zu, ebenfalls zu folgen.

Boyd runzelte die Stirn, als er seinen Koffer hochhob. Nachdem die Regierung seine Bewerbung für die Venuskolonie abgelehnt und ihm den Bescheid erteilt hatte, er werde statt dessen als Austauschstudent zur Erde geschickt, hatte er manche Stunde zwecks Stärkung seiner Muskulatur in der Zentrifuge zugebracht. Bis jetzt schien er die höhere Schwerkraft gut zu verkraften, aber er bezweifelte, daß er fähig war, auch nur eine kurze Strecke mit dem Koffer zurücklegen zu können.

„Ist es sehr weit?“ erkundigte er sich, bemüht, nicht beunruhigt zu erscheinen.

Gordini warf einen Blick auf seinen Koffer und lächelte leicht. „Weit genug, Boyd, aber kaum zu Fuß. Ich habe ein Dreirad besorgt, das draußen auf uns wartet. Bei knapp dreißig Stundenkilometern kann man mit diesen Kraftwagen unmöglich fahren. Sie werden das Dreirad besser finden.“

Sie langten an der Eingangshalle des Landefelds an. Während der Ladekarren davontuckerte, schloß der Priester ein schweres Tor auf und entfernte ein daran befestigtes, kunstvoll verziertes Verbotsschild. Innerhalb des Gebäudes, welches einstmals die Rezeption gewesen sein mußte, versuchte Boyd, das Dunkel mit seinen Blicken zu durchdringen. Das Dach war eingefallen, und überall lagen Schutt und Trümmer herum. Dann erspähte er das Dreirad, das irgendwie einem überdimensionierten Kinderdreirad, komplett mit Sattel und Kettenantrieb, ähnelte. Zwischen den beiden Hinterrädern befand sich eine gepolsterte Sitzfläche, breit genug für zwei Personen, und dahinter ein Kofferraum. Auf Gordinis leises Pfeifen hin tauchte hinter einem Pfeiler aus Mauerwerk ein untersetzter, massiger Mann hervor. Bei Boyds Anblick verfinsterte sich seine Miene, und mit zwei Fingern einer Hand ein merkwürdiges Zeichen vollführend, wich er zurück.

„Laß es gut sein, Jem!“ beruhigte ihn der Priester mit leichter Belustigung in der Stimme. „Boyd hat keinen bösen Blick. Er ist so menschlich wie ich, mein Wort darauf. Sei so lieb und nimm bitte seinen Koffer!“

Der Mann leistete der Bitte Folge, obwohl mit sichtlichem Widerstreben. Sobald Boyd neben Gordini auf der Sitzbank Platz genommen hatte, bestieg Jem den Sattel. Seine wuchtigen, dunkelgekleideten Beine legten sich in die Pedale, und das Dreirad fuhr mitten durch die Trümmer hindurch in einen langen Tunnel hinein. Kurze Zeit später befanden sie sich auf den Straßen von New City.

Diesmal waren alle Sinne Boyds gleichzeitig schockiert. Der Gestank hier war buchstäblich stark genug, um geschmeckt zu werden, weit schlimmer als draußen auf dem Landefeld. Der überall herumliegende Unrat und Müll bewiesen, daß er keineswegs von jenen mysteriösen Gärsilos herrührte. Seine Augen dagegen verzeichneten den Anblick von Menschen – wilde Horden kleingewachsener, dunkelhäutiger Menschen, die überall herumwimmelten, drängelten, umherirrten und jeden freien Platz zu besetzen schienen. Seine Arme stießen gegen sie, während das Dreirad sich einen Weg hindurchbahnte, und seine Haut begann zu kribbeln. Der stärkste Eindruck jedoch entsprach der Wirkung eines Tollhauses aus lauten Schreien und niemals enden wollendem Stimmengewirr.

Die Straße war kaum breiter als eine Gasse. Vor langer Zeit mußten hier Geschäftshäuser, eine weitaus breitere Verkehrsader begrenzend, gestanden haben. Davon war kaum noch etwas zu erkennen, denn Feuer und Verfall hatten die meisten der ursprünglich vorhandenen Gebäude verwüstet. Hastig waren aus den Bergetrümmern zwei- oder dreistöckige rohe Bauten wiedererrichtet worden. Inzwischen waren viele davon bereits dem Zusammenbruch nahe. Kein Platz aber war vergeudet worden. Die Materialien der Zerstörung waren gebraucht und wieder gebraucht worden, um die seltsamsten Schuppen zu bauen. Der Straßenrand war von den erbarmungswürdigsten Bauten gesäumt, die sich wiederum standfesterer Gebäude als Halt bedienten, alles gedeckt mit Stücken und Fetzen aus Abfallmaterialien. Wahllos dazwischengemischt waren Verkaufsstände, die als Läden fungierten, deren Lebensmittel und sonstige Güter schutzlos Fliegen und Straßenstaub ausgesetzt waren. Wo immer Löcher den Blick ins Innere dieser Wohnbauten freigaben, erblickte Boyd Dutzende von Bewohnern der winzigen Räume.

Die Straße selbst schien als Treffpunkt für alle zu dienen. Inmitten des Abfalls spielten schmutzige, magere Kinder, oder sie durchstöberten sorgfältig die Müllkörbe nahe den Verkaufsständen, von älteren Gesichtern mit hungrigen Augen beobachtet. Boyd gab es auf, die Deformierten, Krüppel und entstellten Figuren, die er überall sah, zu zählen. Aus allen Ecken und Winkeln schrien Bettler um Almosen, aber ihr Klagen verlor sich fast völlig im Lärm der Menge.

Irgendwie gelang es dennoch dem Dreirad, sich einen Weg durch das Gewimmel und Gewirr aus Karren und Rikschas zu bahnen. In aller Regel wurde demjenigen mit der größten Lungenkraft die grollend gewährte Vorfahrt gegeben. Jem drängelte sich schreiend und schubsend hindurch, von einem Wirbel von Flüchen und drohend geschüttelten Fäusten verfolgt. Selbst der Priester als Fahrgast schien die Menge nicht zur Zurückhaltung zu bewegen, und nur Boyds blonder Haarschopf zog staunende Blicke auf sich. Offenbar waren keine echten Blondhaarigen auf der Erde verblieben, und es gab nur wenige Menschen, deren Körpergröße mehr als einen Meter sechzig betrug.

Plötzlich schossen aus einem Winkel etliche zerlumpte Bengel hervor, die ein kleines, felliges, laut quiekendes Etwas jagten. Einer der Jungen geriet unversehens im Eifer der Jagd mitten in die Bahn des Dreirads. Ein Rad schleuderte ihn zu Boden und rollte über ihn hinweg, so daß er betäubt liegenblieb. Als Boyd zurückblickte, sah er ihn aufspringen, als sei nichts geschehen, und, lauter als zuvor schreiend, seinen Freunden hinterherrennen.

Mit lässigen Bewegungen verscheuchte Gordini die Fliegen und sah Boyd an. Er schien amüsiert über dessen Reaktion zu sein. Beim nächsten Halt vor einer Wagenstauung lehnte er sich herüber.

„Ziemlicher Unterschied zum Mars, nehme ich an, nicht wahr?“

Boyd schüttelte schwach den Kopf. „Sieht es in der ganzen Stadt so aus wie hier?“

„Mal besser, mal schlechter. Gewissermaßen entsprechen die örtlichen Bedingungen der jeweiligen Sektion. In dieser alten Fabrikgegend beispielsweise leben schätzungsweise um die vier bis fünf Millionen Menschen.“

„Vier bis fünf Millionen Menschen?“ Boyd hatte Mühe, sich die gehörte Zahl zu vergegenwärtigen. „Wie hoch, Vater Gordini, ist denn dann die Gesamtbevölkerungszahl?“

Der Priester zuckte die Achseln. „Das weiß niemand genau. In New City vielleicht dreißig Millionen – ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung von Long Island. Falls Sie die Gesamtzahl für Nordamerika meinen: Die gegenwärtige Schätzung liegt bei etwa vier Milliarden, und in Südamerika kommt eine weitere Milliarde hinzu. Wir haben gute Arbeit geleistet. Wir können – als Resultat der Befolgung des elften Gebots – ziemlich sicher sein, daß heute einer von drei Erdenmenschen ein Amerikanischer Katholik ist.“ Beiläufig klatschte er nach einem dicken Brummer und schüttelte in milder Verärgerung den Kopf. „Manchmal glaube ich, die Fliegen schlüpfen jedes Frühjahr früher aus. Ich hätte besser eine Klatsche mitnehmen sollen.“

Dreißig Millionen in New City – das übertraf allein schon die Gesamtbevölkerungszahl vom Mars! Und Long Island für sich hatte fast so viele Einwohner wie anderthalb Jahrhunderte zuvor der gesamte Kontinent, als Boyds Urgroßvater Aufnahme auf dem Mars fand.

Auf der linken Straßenseite endete mit einmal das Gebäudegewirr ganz abrupt, abgelöst von einer großen Fläche unbebauten Landes. Bestanden von dünnen Grasbüscheln, wies es kein Zeichen menschlicher Besiedlung auf, wodurch die gegenüberliegende Straßenseite um so bevölkerter erschien.

„Warum ist das Gelände dort unbebaut?“ erkundigte sich Boyd. „Oder lieben diese Menschen es, sich zusammenzudrängen?“

Nur dünn maskierte Überraschung zeigte sich auf dem Gesicht des Priesters. „Keineswegs, Boyd, nur darf hier niemand bauen. Die Kirche benötigt den Platz. Er ist reserviert für die künftige Kathedrale der reichgesegneten Mutter. Aber ich vergaß – Sie sind ja Heide, nicht wahr?“

„Ich gehöre keiner organisierten Glaubensgemeinschaft an“, erwiderte Boyd wachsam.

„Ganz recht. Na ja, immerhin sind Sie nicht römisch oder sonst irgendeine Art von Ketzer. Wir waren uns darüber im klaren, daß jedermann vom Mars in den Zuständigkeitsbereich der Kongregation De Propaganda Fide fällt, weswegen ich auch beauftragt wurde, mich Ihrer anzunehmen. Ich bin das, was Sie einen Missionar nennen würden, obwohl unser Amt eigentlich keine missionarische Betätigung mehr kennt. Wir haben alle Hände voll zu tun, den Rundfunk und die Erziehung zu organisieren. Aha, die Kathedralenallee – wir sind da.“

Ihr Slalom durch ein Labyrinth von engen Straßen und Gassen hatte sie auf eine fast vierzig Meter breite Verkehrsader geführt, die sich durch das Fehlen des Wirrwarrs von Ständen und Schuppen entlang der Seiten von den bisherigen Straßen unterschied.

Zwar machten auch hier die Gebäude einen immer noch bemitleidenswert schäbigen Eindruck, aber es gab wenigstens unter ihnen keine Ruinen, und die Läden in den Erdgeschossen waren verglast. Die geringere Zahl von Menschen unterschied sich auch durch ihre Sauberkeit und durch geringeren Lärm. Lebhafter Verkehr, der sich hauptsächlich aus den Dreirädern, Zweirädern und Handkarren zusammensetzte, ergänzt von zahlreichen, munter vorbeituckernden Kraftwagen, füllte die Straße.

Vom Ausleger eines Laternenpfahls baumelten zwei Leichen herab, deren Zustand anzeigte, daß sie dort bereits seit Tagen hängen mußten.

„Gauner oder Diebe, wer weiß“, beantwortete Gordini Boyds Frage gelassen. „Hin und wieder erhält die Nachtwache einen Tip. Ich habe keine Ahnung, da es sich um eine rein zivile Sache handelt. Voraus erkennen Sie die Abteikathedrale der Barmherzigen Mutter. Ein hervorragendes Beispiel typischer Architektur des Amerikanischen Katholizismus. Sie ist natürlich kleiner als St. Bonaforte, aber eindrucksvoll genug. Von überallher kommen Pilger, um sie zu sehen und um die Reliquien zu besichtigen. Vielleicht werden Sie einige von ihnen sehen, wie sie bis zum Schluß des Abendgottesdienstes auf dem Platz warten.“

Der wuchtige Bau, der die umgebenden Bauten um mehr als vierzig Meter an Höhe übertraf, ragte vor ihnen empor. Seine Grundfläche betrug schätzungsweise zweihundertfünfzig Meter im Geviert, die im Grundriß ein Kreuz bildete, von dem aus die massiven Mauern steil emporstiegen. Nach auswärts schlossen sich in allen Richtungen reihenweise Treppen mit endlosen Stufen an, die in unzähligen Ausgängen endeten. Im Näherkommen sah Boyd, daß die Kathedrale ein gutes Stück von der Allee zurücklag, von ihr durch einen säulenumstandenen, quadratischen freien Platz getrennt. Wie der Priester gesagt hatte, stand dort eine mit Fahnen und Plakaten bestückte, zur Prozession aufgereihte wartende Menge. Das Dreirad passierte den quadratischen freien Platz und bog an seinem Ende in eine an der Rückseite der Kathedrale liegende Straße ab. Abseits der Hauptverkehrsstraße trat erneut der augenfällige Kontrast zutage. Tatsächlich schien die Verwahrlosung hier noch größer zu sein als draußen am Landefeld, obwohl hier die Bevölkerungszahl geringer war. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch die zur Linken sauber und leuchtend aufragende riesige Gestalt der Kathedrale.

Das Dreirad bog nach rechts in eine zwischen zwei Treppenläufen liegende Durchfahrt ein. Es rollte eine Rampe aufwärts und bremste unterhalb des Erdgeschosses. Gordini stieg aus und reckte sich. Boyd konnte ein Humpeln nicht unterdrücken; sein Sitzfleisch hatte sein infolge der höheren Erdgravitation größeres Gewicht sehr ungnädig aufgenommen. Erleichtert sah er, daß Jem sich seinen Koffer griff und ihnen folgte.

Der unterirdische Teil der Kathedrale stellte sich als ein Labyrinth von Hallengängen heraus, in denen geschäftiger Verkehr hastender Priester, Mönche und dunkelgekleideter Laienpriester herrschte. Schließlich betraten sie einen Empfangsraum, wo Boyd zu warten hatte, während Gordini mit dem dort sitzenden Mönch sprach. Der Mann bedachte Boyd mit einem abschätzenden Blick, nickte und verschwand irgendwohin. Gordini führte Boyd nun in ein kleines Büro, wo Jem den Koffer absetzte und sich dann verdrückte. Gordini sank auf einen Stuhl hinter einem Schreibtisch und bot Boyd eine weitere Sitzgelegenheit an.

„Also, mein lieber Boyd, ich schlage vor, wir sollten jetzt die Formalitäten hinter uns bringen. Ihre Personaldaten können wir später Ihrem Dossier entnehmen, das hat noch Zeit. Wie wäre es, wenn Sie Ihren Koffer öffneten, damit ich ihn auf mögliche Schmuggelware untersuchen kann?“

Sorgfältig untersuchte der Priester den Kofferinhalt, wobei er dem Feldwellenmiskroskop samt Zubehör, welches den größten Teil des Inhalts ausmachte, keine Beachtung schenkte. Verschiedene Kleidungsstücke legte er beiseite, durchblätterte die paar dünnen Bücher und wandte sich dem übrigen kleinen Stapel zu. „Diese Kleidungsstücke dort werden Sie nicht benötigen, weil wir neue an Sie ausgeben werden. Eigentlich dürfte ich es nicht, aber ich will Ihnen mal diesen Plunder gegen eine komplette Ausstattung gutschreiben.“ Gordini öffnete eine kleine Kiste und starrte, etwas geringschätzig lächelnd, auf die darin befindlichen Heftpflasterstreifen. „So primitiv, daß sie die mitbringen mußten, Boyd, sind wir nun auch wieder nicht. Wenn ich Sie daran erinnern darf, waren Drogen und Antibiotika längst auf der Erde bekannt, bevor der Mars kolonialisiert wurde. Irgendwelche Hormone dabei?“

Diese Frage enthielt eine überraschende Schärfe. Boyd überlegte sorgsam, schüttelte dann aber verneinend den Kopf. „Nein. Nur etwas Enthaarungsmittel, um den Bart zu entfernen – möglich, daß in ihm Hormone enthalten sind.“

„Das ist nicht verboten – ich selbst benutze auch ein derartiges Mittel.“ Mit diesen Worten knallte der junge Priester den kleinen Koffer wieder zu und begab sich wieder hinter seinen Schreibtisch, wo er die Unterlagen zu studieren begann. „Übrigens, was ist bitte ein Zytologe?“

„Ein spezialisierter Nuklearbiologe, heutzutage wohl ein Zelleningenieur. Während meines Hauptstudiums habe ich mich mit Problemen beschäftigt, die die Art und Weise, wie sich die Kettenmoleküle des Zellkerns der lebenden Zellen zusammensetzen, zum Inhalt hatten.“

„Soso, hm. Wie ich sehe, haben Sie den Magistergrad, aber noch nicht die Doktorwürde erlangt.“

Boyd nickte. Inzwischen hatte sich die Bitterkeit über die lange Krankheit gelegt, die ihn gezwungen hatte, sein Studium zu unterbrechen. Die Ärzte waren ratlos gewesen, bis er schließlich aus der rätselhaften Krankheit herauszuwachsen schien. Mit dreißig war er für die marsianischen Universitäten zu alt gewesen, so daß er es aufgegeben hatte, einen Doktorgrad zu erreichen. Schließlich hatte sich ihm die Chance geboten, zur Erde zu gehen, wo die reichere Lebensvielfalt ihm eine neue, ungewöhnliche Gelegenheit verschaffte.

Aus einer Schublade seines Schreibtischs zog der Priester ein Buch hervor, das sich als Telefonbuch erwies. Der Telefonapparat selbst war weder mit einer Wählscheibe noch mit einer Tastatur ausgestattet. Als Gordini in die Sprechmuschel einige Worte hineinmurmelte, dachte Boyd zuerst, es reagierte auf Stimmenansprache. Als er jedoch die geflüsterte Antwort vernahm, stellte er fest, daß man statt mit einer automatischen Relaisstation noch mit menschlichen Vermittlern arbeitete, was ihm unglaublich primitiv erschien. Angesichts einer derart hohen Bevölkerungszahl waren menschliche Arbeitskräfte offenbar im Überfluß vorhanden.

Gordini legte mit leicht gerunzelter Stirn auf. „Ich habe gerade mit der Registratur gesprochen. Man hat eine Berechnung des Warenwertes vorgenommen, die der Mars auf Ihren Namen verschifft hat. Ich werde Ihnen dafür eine Empfangsbestätigung sowie Zahlungsbescheinigungen aushändigen. Man behauptet, die Waren seien nicht mehr als zweitausend Kilar wert gewesen, was ungefähr eintausend Ihrer altmodischen Dollars entspricht. Das reicht eben, daß Sie davon ein halbes Jahr leben können. Stimmt diese Summe?“

„Schon möglich“, räumte Boyd ein. Aufgrund seiner langen Krankheit war seiner Großmutter wenig Geld verblieben. Nach ihrem Tod hatte er, während er auf seinen außerplanetarisqhen Einsatz wartete, den größten Teil davon, der noch in Geld umzuwandeln war, verbraucht. „Aber was soll’s. Ich nehme an, daß mein Lebensunterhalt als Austauschstudent von irdischer Seite übernommen wird. Jedenfalls war das bisher immer die Regel.“

„Austauschstudent?“ Gordinis Miene zeigte offene Belustigung. „Haben Ihnen das etwa, mein lieber Boyd, die marsianischen Behörden erzählt? Hat man Sie allen Ernstes damit überredet fortzugehen?“

Irgend etwas im Blick des Priesters veranlaßte Boyd, eine erste automatische Antwort zurückzuhalten. Er überlegte scharf: War dieser Begriff wirklich je benutzt worden? Zwar hatte sein Studienberater die Vergangenheit angeführt, in der Austauschstudenten zwischen verschiedenen Regierungen einen Beitrag zur Völkerverständigung leisteten, und er hatte auch die Möglichkeit hervorgehoben, auf einem anderen Planeten zu lernen, auf dem das Leben in vielfältigen Formen existierte, aber …

„Es gibt keine Austauschstudenten mehr“, erklärte Gordini rundheraus. „Der Mars erlaubt heute unter keinen Umständen einem Erdenmenschen das Betreten seines Bodens. Dieser Brauch verschwand bereits vor mehr als hundert Jahren. Außerdem gibt es für Sie hier keine Möglichkeit eines Studiums – weil alle biologischen Studien heutzutage unter kirchlicher Aufsicht stattfinden. Sie würden ganz neu anfangen müssen, sonst würde keine Universität Sie aufnehmen.“ Er beugte sich über die Unterlagen, fischte ein Papier heraus und sah Boyd an. „Mein lieber Boyd, wie ich sehe, bin ich gezwungen, Ihre Vorstellungen von den feinen Verträgen auf dem Mars zu zerstören. Leider sehe ich keine Möglichkeit, es Ihnen zu erleichtern. Hier bitte.“

Er reichte ihm das Papier hinüber, das vom Regierungspräsidenten des Mars unterzeichnet war. In kühlen juristischen Formulierungen informierte es die irdischen Behörden, daß Boyd Allen Jensen in sein Abstammungsland ausgewiesen werde und daß ihm, zum Wohle der Zukunft des Mars, alle marsianischen Bürgerrechte entzogen worden seien.

„Aber sie können doch nicht …“, begann er hitzig. Dann brach er ab, als er sich der Unsinnigkeit seiner Worte bewußt wurde. Sie hatten es einfach getan – ja, ihn sogar übertölpelt, indem sie ihn glauben machten, er gehe aus freiem Willen.