Es bestand sicher kein Widersinn darin, daß er mit einer Anklageerhebung oder ähnlichen Schwierigkeiten zu rechnen hatte. Bestimmt würde er nicht zivilrechtlich, sondern kirchenrechtlich angeklagt werden. Das war Boyd klar, während man ihn einfach in die tiefergelegenen Stockwerke unter der Kathedrale abführte, immer weiter hinab, um ihn schließlich in eine enge, mit Gittertüren abgeteilte Zelle hineinzuschieben. Die Tür schnappte fest hinter ihm zu, und die beiden Priester in schwarzer Robe verschwanden. Sie ließen ihn im dämmrigen Schein einer winzigen Petroleumlampe zurück.
Ihm gegenüber, außerhalb jeglicher Verständigungsdistanz, waren andere Gefangene eingesperrt, deren Stimmen er vernahm. Er hatte auf seiner Seite den gesamten Zellenblock für sich allein und für die ihn bedrängenden Fragen. Ihm wäre es lieber gewesen, er hätte seine Gedanken draußen lassen können. Sie stürmten um so stärker auf ihn ein, je länger sich die Stunden hinzogen, die nur eine Unterbrechung durch die Essensausgabe seitens einer schweigsamen Wache erfuhren. Zu seiner Überraschung entsprach das Essen dem hohen Niveau der Verpflegungsstelle der Kathedralenmitarbeiter. Er verspürte jedoch nicht den geringsten Appetit.
Irgendwann öffnete sich die Haupteingangstür, um zwei Gestalten in schwarzer Robe mit einem neuen Gefangenen einzulassen, einen hochgewachsenen, glattrasierten Alten mit hageren Gesichtszügen. Auffallend war der seltsame Schnitt seiner Kleidung: weite Hosenbeine unter einem wunderlichen Jackett, alles in Schwarz gehalten. Selbst das Hemd war schwarz, von dem sich in scharfem Kontrast trotz des dämmrigen Lichts ein hell aufleuchtender weißer Streifen um den Hals abhob. Wenige Minuten später empfing er ein Tablett mit Gefängnisessen, welches er, nicht ohne zuvor den Kopf zu einem Dankgebet gesenkt zu haben, mit offensichtlichem Behagen verspeiste. Danach schob er die geleerten Näpfe beiseite und nahm Boyd mit interessiertem Blick in Augenschein.
„Wessen beschuldigt man Sie, mein Sohn?“ erkundigte er sich.
Boyd bemühte sich, seine Unschuld zu beteuern. Der alte Mann nickte nur. „Verbotene Medikamente, klar. Eine schwerwiegende Beschuldigung. Sie zu gebrauchen, ist schon schlimm genug, sie zu verkaufen, ist schlimmer. Alchimie hingegen – so lautet wohl die offizielle Bezeichnung – wird äußerst scharf geahndet. Obwohl ich noch nie von dem von Ihnen genannten Medikament gehört habe.“
„Weswegen sind Sie eigentlich hier?“ wollte Boyd wissen. Momentan kümmerte ihn das eigentlich herzlich wenig, aber die Haft setzte ihm zu, und jede Unterhaltung war ihm recht.
Der Alte seufzte tief. „Ich bin ein echter Katholik – ein römischer Katholik, oder, wie man zu sagen pflegt, ein Römischer. Grund genug, mich zu verfolgen. Wollen Sie mehr hören?“
„Ja bitte, warum nicht? Mich beispielsweise hat man vom Mars abgeschoben, und ich gelte hier bei allen als Heide. Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß man alle Menschen anderen Glaubens einsperrt?“
So einfach war es bestimmt nicht. Boyd erhielt stückweise eine Geschichtslektion, verbunden mit einer Erklärung der Übel, die Ketzern zu eigen waren. Für Vater Semper, so lautete der Name des Alten, der sich als Priester herausstellte, waren dies natürlich die Amerikanischen Katholiken. Der Grund, warum man ihn eingesperrt hatte, war der, daß eines der Kinder seiner Gemeinde aus ihrem Viertel weggelaufen war und er das Risiko eingegangen war, sich auf die Suche nach ihm zu machen, bevor es von den Kindern der „Amerikanischen Häretiker“ erkannt und angegriffen werden konnte. Er hatte auch Erfolg gehabt, war aber von der Dunkelheit überrascht und von den Nachtwachen außerhalb des römischen Viertels aufgegriffen worden. Da dies bereits sein dritter Verstoß in diesem Jahr war, befand er sich hier. Womöglich würde er auch eine ganze Weile hierbleiben oder aber auch vielleicht die Rückkehr in seinen Pfarrbezirk untersagt bekommen und in eine andere Stadt ausgewiesen werden.
„Das Kind jedoch ließen sie nach Hause gehen“, sagte er mit offensichtlicher Befriedigung.
„Sie sprachen von einem römischen Viertel“, erkundigte sich Boyd. „Bedeutet das etwa, daß Sie dort wie in einem Getto leben?“
Der alte Mann nickte. „Ganz recht. Ich sehe, Sie haben sich mit der Geschichte beschäftigt. Genauso ist es, Boyd, genauso. Es ist exakt ein Getto. Allen römischen Gläubigen ist es bei Strafe auferlegt, sich dort vom Einbruch der Dunkelheit an bis zum Tagesanbruch aufzuhalten. Es ist zu deren eigenem Schutz, will man den Eklektikern glauben, und so ist es auch in der Tat – Schutz gegen den uns gegenüber sich entladenden Haß, den sie selbst erst unter ihre Gefolgschaft gesät haben! Man klagt uns des Versuchs an, die Welt in die Katastrophe gestürzt zu haben, obwohl doch jeder, der die Geschichte ernsthaft studiert, weiß, daß niemand anders als ihr verwünschter Bonaforte der Kriegstreiber und Clemens, Ehre seinem Namen, der Mann des Friedens war. Aber wir werden überleben, Boyd, das ist gewiß. Seit jeher hat es Ketzertum gegeben, und am Ende hat immer der wahre Glaube triumphiert. So wie er bereits überall in Europa triumphiert hat. Jawohl!“ Trotz Boyds Befremden nickte er begeistert. „Das hat man Ihnen nicht erzählt, nicht wahr? Inzwischen wird in ganz Europa die Autorität Papst Clemens XVII. uneingeschränkt akzeptiert. Wir sind ein Außenposten in einem Land der Sünde, aber wir werden überleben!“
Boyd gestand sich ein, den alten Mann zu mögen, ja dessen besonnenen Mut zu bewundern, obwohl es ihm zeitweise Mühe bereitet hatte, der Unterhaltung zu folgen. Die Schwierigkeiten steigerten sich noch, als er zu ergründen suchte, in welchen Einzelheiten sich Vater Sempers Glauben von dem hier vorherrschenden unterschied.
„Für uns ist der Bischof von Rom oberster Herr. In seine Hände hat der Erlöser die Aufsicht über die Schlüsselgewalt des Reiches Gottes gegeben. Ihm allein ist als einzigem Sterblichen Unfehlbarkeit verliehen worden.“ Vater Semper machte den Eindruck, als käme diesem Punkt besondere Bedeutung zu. „Das ist die Grundlage allen Glaubens, und an ihr läßt sich der Wert jeder Glaubensgemeinschaft messen.“
Seiner Darstellung nach stellte Bonafortes Wahl durch die amerikanischen Kardinäle eine Abscheulichkeit dar. Zugegeben, von der Zahl her entsprach das damals in Amerika zusammengetretene Kardinalskollegium genau jenem im völlig zerstörten Italien. Bonaforte aber hatte einfach diejenigen, die zur rechtmäßigen Synode fahren wollten, gefangengesetzt, weshalb deren Wahlstimmen nicht gezählt werden dürften. Bonaforte war nichts anderes als ein Betrüger, wenn nicht gar der Antichrist in Person.
Der feineren Unterschiede gab es offensichtlich mehrere, allerdings solcher Art, an deren Verständnis es Boyd wegen gründlicher Kenntnisse in Religionsphilosophie mangelte. Außerdem begriff er nicht, wieso der Akzeptierung einer bestimmten Bibelübersetzung eine derartige Bedeutung zukam, auch dann nicht, als Vater Semper beteuerte, die Fassung von King James sei von Ketzern eigens zum Zweck der Verherrlichung ihres Ketzertums abgefaßt worden. Beide Parteien benutzten immerhin offiziell die Vulgata.
„Wie steht’s mit diesem elften Gebot?“ fragte er. „Ich nehme an, daß ihr das ablehnt, oder?“
Der alte Mann blickte nachdenklich. „Als Gebot sicherlich. Doch es steckt Wahrheit in ihm, wie überhaupt oft in so mancher Verirrung von Ketzern Wahrheit enthalten ist. Gottes Wille tat sich Adam mittels des Auftrags, fruchtbar zu sein, kund. Aber man muß darin eine Aussage des Naturgesetzes des Überlebens sehen, weniger ein einzuhaltendes Gebot für jeden einzelnen. Nein, Boyd, wir sind in dieser Hinsicht keine Fanatiker, wie die Eklektiker es sind. Wir haben stets die Enthaltsamkeit als ein Recht und eine Tugend gepredigt. Tugendhafte Enthaltsamkeit, Boyd – nicht zügellose Praxis der Empfängnisverhütung, wie sie meines Wissens auf dem Mars existiert. Sie sollten in unsere Bibelstunden kommen. Bei Ihrem forschendem Geist würden Sie an den ideenreichen Werken unserer Philosophie, die wir bewahrt haben, Freude haben.“
Das brachte Boyd seine Probleme wieder in Erinnerung. „Falls wir jemals wieder hier herauskommen, ohne auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.“
„Keine Sorge, heutzutage werden keine Menschen mehr verbrannt, nicht einmal wegen Hexerei“, beruhigte Semper ihn. „Gottlosigkeit ist oft mit vielem Guten übertüncht. Aber die Menschen müssen lernen, über die Gefahr hinweg zu unsterblichen Seelen zu gelangen. Haben Sie keine Freunde, die Fürsprache für Sie einlegen können?“
Boyd ließ im stillen die Menschen Revue passieren, die er kannte. Da waren Harry und Ellen – und vielleicht noch Buckel-Pete. Aber keiner von ihnen konnte etwas für ihn tun. „Bischof O’Neill, ja, der schien mir freundlich gesonnen zu sein. Und ein Priester namens Gordini.“
„O’Neill lächelt nach außen hin, aber inwendig ist er aus Stahl“, sagte Semper. „Aber Gordini? Priester dieses Namens gibt es nur einen – oder besser, er spielt einen einfachen Priester. Sie können nur den Sohn von Senator Gordini, zugleich Neffe des Kardinals, meinen. Glauben Sie, er wird Ihnen helfen?“
Boyd hatte seine Zweifel. Er hatte zwar etwas von Hilfe gesagt, aber genau erinnern konnte er sich nicht. Während er sich noch die genauen Worte ins Gedächtnis zurückzurufen versuchte, rasselte es an der Eingangstür, und herein kamen Wachen, die zu Sempers Zelle gingen.
„Der Bischof läßt Sie frei, Semper“, sagte einer von ihnen.
„Aber dies ist das letzte Mal. Kommen Sie, wir werden Sie in Ihr Viertel zurückeskortieren.“
Sie trieben ihn nach draußen und ließen Boyd erneut allein zurück. Auch die Häftlinge auf der anderen Seite hatten zu reden aufgehört und schienen zu schlafen. Boyd streckte sich ebenfalls auf seiner Pritsche aus und versuchte zu schlafen. Mehrere Stunden lag er dumpf brütend wach, bevor sich sein Geist zur Ruhe legte. Zu träumen blieb ihm jedoch versagt. Am Morgen war er hungrig genug, um das Essen zu verzehren. Danach gewann das Problem, die Zeit totzuschlagen, die größte Bedeutung. Eine einzige Stunde, in der es nichts zu tun gab und kein neuer Gedanke in seinem Kopf auftauchen wollte, kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Fast so willkommen wie ein Besucher hieß er das Klappern der Tür und das ihm folgende geschäftige Treiben der Wachen, die zum Saubermachen gekommen waren.
Als sich aber das nächste Mal die Tür öffnete, hatte er wirklich einen Besucher.
„Hm, mein lieber Boyd“, sagte Gordini, „kann man nicht mal eben zu einer Beratung nach außerhalb reisen, ohne daß danach ein Römischer kommt und mich benachrichtigen muß, daß Sie in Schwierigkeiten stecken?“
„Sie meinen, Semper hat Ihnen Bescheid gegeben – und Sie sind dennoch gekommen?“ Boyd konnte sein Erstaunen über die Kombination dieser beiden Umstände nicht verbergen.
„Jemand gab mir Bescheid, und hier bin ich, wie man sieht.“ Sein vergnügt lächelndes Gesicht glich dem eines übergroßen pausbäckigen Cherubs. „Kann nicht schaden, dachte ich mir, von dem von Ihnen produzierten Zeug eine chemische Analyse machen zu lassen – um zu entdecken, daß es bloß gewöhnliches Kochsalz war. Diesen Scherz mit dem Mann an der Ausgabe hätten Sie sich sparen können. Schließlich nimmt ihn die Kontrolle der Arzneien und die Verantwortung für verbotene Chemikalien schon genug in Anspruch. Hier, ich habe Ihnen eine frische Robe mitgebracht.“
Nun zeigten sich die Wachen ehrerbietig. Sie überließen Boyd ein Zimmer, wo er sich umziehen und frischmachen konnte. Einmal allein gelassen, wurde Gordini ernst.
Boyds Dank tat er ab. „Nichts von Bedeutung. Ein Ausrutscher, den ich übersehen haben will. Sie sind ein Narr, aber ich bin es nicht minder, da ich für Sie gebürgt habe – obwohl es dem Anschein nach sich ausgezahlt hat. Nun gut. Jetzt wollen Sie bitte mitkommen. Ihnen steht noch ein strenges Verhör bevor.“
Dieses Wort weckte bei Boyd unliebsame Erinnerungen an Verhältnisse früherer Zeiten. Der Schreck stand ihm im Gesicht geschrieben, bei dessen Anblick Gordini plötzlich loslachte.
„Wir werden nur mit Willmark zu Mittag essen. Ich habe die Geschichte weitgehend geheimhalten können. Im Labor weiß niemand davon, so daß Sie dorthin zurückkehren können. Willmark aber hat davon Wind bekommen, und er steht mir an Neugier in nichts nach. Was, um alles in der Welt, hat Sie nur bewogen, das zu tun? Sie sind doch nicht so dumm, zu einem Zeitpunkt, da Sie Geld nicht mehr so nötig hatten, unerlaubte Drogen herzustellen. Für den Ärger, den ich mit Ihnen hatte, müssen Sie sich schon eine gute Geschichte einfallen lassen.“
Die Cafeteria verfügte über ein kleines privates Hinterzimmer, in dem Willmark auf sie wartete. Während sie aßen, mußte Boyd seine Geschichte erzählen. Gordini empfand sie größtenteils als komisch – besonders die Leichtigkeit, mit der Boyd die synthetische Herstellung eines Hormons gelungen war, bevor es dem Mann aus der Ausgabe einfiel, die bischöflichen Offiziale zu warnen. Willmark hingegen schien weniger amüsiert zu sein: Er sah den Vorfall als schwerwiegend an.
Gordini erhob sich vom Tisch. „Ha, dieser Morgen war wirklich unterhaltsam. O’Neill brauchte ohnehin einen Dämpfer, damit er wieder auf den Teppich zurückkam. Er hatte es sich zu sehr als Verdienst angerechnet, Sie zuzulassen. Sie hätten sein Gesicht sehen sollen, als die chemische Analyse hereinkam. Er wußte nicht, ob er es glauben sollte oder nicht. Kommen Sie jetzt, Doktor?“
„Ich habe noch nicht aufgegessen“, sagte Willmark. „Und Jensen ebenfalls noch nicht.“
Boyd war zwar fertig, blieb aber ruhig sitzen, während Gordini, der sich immer noch nicht beruhigen konnte, fortging. Er fragte sich, wieviel Hilfe er wohl erhalten hätte, wenn Gordini nicht in allem eine Gelegenheit gewittert hätte, seinem nominellen Vorgesetzten eins auszuwischen. Dann wandte er sich Willmark zu.
Der Doktor goß beiden noch eine Tasse koffeinhaltigen Getränks nach und nahm für sich Zucker. „Sie sind ein Narr“, sagte er ruhig. „Ein Narr mit einem geradezu unglaublichen Glück. Ich wünschte dennoch, ich hätte die Möglichkeit, aus Ihnen einen richtigen Arzt zu machen. Das Material, das ich heutzutage erhalte, ist jämmerlich. Sollte Sie demnächst wieder einmal eine dieser hirnverbrannten Ideen heimsuchen, schlage ich vor, daß Sie vorher zu mir kommen, um zu erfahren, wieviel wir bereits wissen. Beispielsweise ergibt dieser Fall, wie ich selbst nachprüfte, eine neue Behandlungsmethode – allerdings mit einem verbotenen Kortikosteroid, was bedeutet, daß wir es nicht anwenden können. Wir kennen seit fünfzig Jahren Methoden, um Voigts Thrombozytose – so lautet der Name für diese Art von Bluterkrankheit – zu behandeln. Sie ist nebenbei gesagt ansteckend; das ist kein Aberglaube. Und sie wird von einem infektiösen Virus verursacht, der Antikörper im Blut hervorruft, die wiederum die kleinen Körperchen attackieren. Nur Männer holen sich die Krankheit, obendrein nur erblich Rezessive. Die armen Teufel überleben manchmal bis zu zwei Jahren, gewöhnlich sterben sie aber früher.“
Er trank aus und goß nach. „Etwa zehn Millionen Fälle haben wir davon pro Jahr. Die Kosten für so viel Kortison könnte sich unsere Gesellschaft in keinem Fall leisten. Ich weiß, der Ihnen bekannte Herstellungsprozeß wird das Mittel zur Genüge verbilligen. Das tut nichts zur Sache. Wichtig ist, daß Kortison in starken Dosen als sexuelles Beruhigungsmittel wirkt – was beinahe so schlimm wie Empfängnisverhütung wäre.“
„Aber es geht doch darum, Leben zu retten!“ protestierte Boyd.
„Genau. Leben, nicht Seelen. Bleiben Sie der Medizin fern, oder Sie verwandeln sich in das, was ich geworden bin.“ Willmark erhob sich abrupt. „Schön. Ich muß jetzt weg zur Vorlesung. Guten Tag, Dr. Jensen.“
Niemand sah auf, als Boyd das Laboratorium betrat. In der Arzneimittelausgabe hatte ein neuer Angestellter den Dienst übernommen. Vielleicht war Boyd auch noch zu neu, als daß sein Kommen und Gehen von irgend jemandem beachtet wurde. Im übrigen war es die Zeit, zu der normalerweise die meisten vom Mittagessen zurückkehrten. Eingetroffen war auch Ellen, die er über ein Tischchen in der der Tür gegenüberliegenden Ecke gebeugt erblickte. Bei seinem Eintritt fuhr sie auf.
„Wo waren Sie, Boyd? Ich kam heute morgen hier an, und alles, was ich sah, waren überall Priester. Ich habe mich ernstlich um Sie gesorgt.“
„Ich war in einer Besprechung über das Berufsethos“, berichtete er verbittert. „Ich habe allerhand hinzugelernt. Na, wie gefällt Ihnen die neue Arbeit?“
„Ganz gut, denke ich“, antwortete sie. Übermäßig begeistert klang das nicht gerade. Dann wurde sie lebhaft. „Wenigstens wird es mir jetzt möglich, Mort und Sue nicht länger zur Last zu fallen und mir ein eigenes Zimmer zu nehmen. Vielleicht fällt auch noch neue Kleidung ab. Ich wollte immer schon gern einen roten Nylonanzug haben.“
Unwillkürlich mußte er lachen. „Nur zu, schaffen Sie sich einen dieser hochmodernen Nylonanzüge an und besorgen Sie sich ein eigenes Zimmer! Das wird bestimmt eine Kettenreaktion auslösen!“
Errötend, aber erkennbar nicht aus Ärger, schaute sie sich unauffällig nach allen Seiten hin um. „Pscht! Sagen Sie nicht so was! Überall hier sind doch Priester.“ Danach wurde sie wieder ernst.
Den Nachmittag über bemerkte er, daß sie jedesmal, wenn Benjamin Muller oder sonst ein Priesterwissenschaftler hereinkam, in Aufregung geriet. Ihre Augen verfolgten sie bis weit in den Flur hinein. Anfangs dachte er, daß vielleicht Ehrfurcht Schuld daran sei. Ellen war im gleichen Maße religiös, wie ihr Bruder das genaue Gegenteil davon war. Nach den Maßstäben ihrer Zivilisation war sie zwar nicht abergläubisch, aber diese Maßstäbe waren ziemlich barbarisch. Dann war er wieder weniger sicher. Ihre Miene, sobald ein Priester vorbeikam, drückte keine Verehrung aus. Sie verriet Furcht und eine Art Widerwillen. Er erinnerte sich ihrer Warnungen während der gemeinsamen Arbeit bei Firculo, niemals Priestern zu vertrauen.
Später, auf dem Heimweg mit ihr, versuchte er für ihr Verhalten eine Erklärung zu erhalten. Zu Anfang wollte sie nicht so recht mit der Sprache heraus.
„Die Priester sind für uns Gottes Fürsprecher“, sagte sie schließlich. „Die Priesterweihe ist eine heilige Pflicht, und sie zu empfangen, muß wundervoll sein. Natürlich liebe ich Priester, wenn sie vorn am Altar stehen.“
„Und wie ist es mit denjenigen, die keine Messe abhalten?“ stieß Boyd nach.
Sie bekam schmale Lippen. „Lassen Sie mich in Frieden mit solchen Fragen, Boyd Jensen! Dazu bin ich nicht mitgegangen, obwohl ich weiß Gott stärkere Gründe hätte, diese Fragen zu stellen.“
Das war deutlich genug, wie er zugeben mußte. Eine Weile ging er schweigend weiter neben ihr her und überdachte all das, was er bisher erlebt hatte. Die Summe seiner Gedanken lief darauf hinaus, ein Gefühl des Ekels gegenüber diesem ganzen heuchlerischen System, welches diesen unglaublich reichen Planeten verdarb, zu empfinden.
„Sie gefallen sich darin, ständig von Barmherzigkeit und der Heiligkeit des Lebens zu reden“, sagte er. „Darin sind sie gut, und schön hört sich’s obendrein an. Andererseits läßt man einfach zehn Millionen Menschen ungerührt an einer schrecklichen Krankheit verrecken, die geheilt werden könnte. Unter den Lebensumständen, zu denen man sie zwingt, können diese Armen auch keine Kinder haben. Was also würde man verlieren, wenn man sie rettete?“
„Ich will nicht wissen, wovon Sie reden“, wies sie ihn erneut zurecht.
„Ich rede von Ihrer geheiligten Priesterschaft, angefangen von Bonaforte bis hinab zum gewöhnlichen Novizen. Zwar habe ich noch nicht viel gesehen, aber was ich gesehen habe, das reicht. Eine feine Welt! Eine Unmenge unverheirateter Priester sowie unverheirateter Mönche und Nonnen, die ihr Zölibat eine Tugend nennen. Im nächsten Satz jedoch reden sie vom elften Gebot. Männer und Frauen, die nicht ihrem erlesenen Kreis angehören und dennoch nicht fortwährend wie allzeit brünstige Tiere kopulieren, werden zu Sündern abgestempelt. Brunst und Fleischeslust, oder man verliert seine Seele. Das ist das Motto dieser Amerikanischen Katholischen Eklektischen Kirche. Für die Priester selbst jedoch gilt dies nicht. Sie wollen ihre Kinder nicht in dieser verderbten Unordnung bekommen, die sie selbst auf Erden anrichten!“
„Nicht so laut, Boyd“, sprach sie leise. Sanft griff sie nach seiner Hand, um seinen schneller gewordenen Schritt zu verlangsamen. Dann seufzte sie unglücklich. „Ich verstehe nicht alles, wovon Sie reden. Vielleicht haben Sie aber recht. Ich weiß nur, daß die Priester Ungeheuer sind. Schreckliche Ungeheuer.“
Überrascht blieb er stehen. Zustimmung von ihrer Seite war das Letzte, was er erwartet hätte. Ernst und in sich gekehrt sah sie ihn an.
„Sie haben mir mein Baby weggenommen“, sagte sie so, als ob sie zu jemand anders spräche. „Sie kamen an, als es gerade drei Tage alt war – Vater Herlos von meiner Pfarrei mit zwei andern –, und nahmen mir mein Baby weg. Ich durfte es nicht wiedersehen. Man sperrte es in ein kirchliches Kinderheim, wo man mir sogar den Zutritt verwehrte. Ungeheuer sind sie – kinderstehlende Ungeheuer. Priester, Mönche und Nonnen zusammen.“
Die Geschichte klang wenig plausibel. Die Nonnen- und Mönchsklöster mit ihrem ausreichenden Schutzangebot hatten es wohl kaum nötig, armen Leuten die Babys zu stehlen, um Nachwuchs zu rekrutieren. Das klang wie psychotischer Wahn, obwohl er, was sie betraf, bisher keinerlei Anzeichen einer Psychose bemerkt hatte. Für den Augenblick zog er es jedoch vor, ihrem Kummer nicht weiter auf den Grund zu gehen.
„Bliebe als einzige Antwort übrig, ein Heide zu werden, wie ich es einer bin“, behauptete er so leichthin, wie es ihm möglich war.
Daraufhin schüttelte sie heftig den Kopf. „Man darf sich nicht gegen unseren Herrn und Gott oder die Muttergottes wenden, einfach nur deswegen, weil die Leute, die ihnen dienen, verderbt sind. Ich liebe die Muttergottes wirklich, Boyd! Man muß sich nur Mühe geben, um Priester zu finden, die gütig, fromm und verständnisvoll sind. So wie es einige davon vielleicht bei den Evangelisten gibt.“
„Was sind die Evangelisten?“
Ablehnend schüttelte sie den Kopf, zu keinem weiteren Wort bereit, bis er das Thema gewechselt hatte. Ihr Verhalten gab ihm zu denken. Falls es eine zur herrschenden Kirche oppositionelle Bewegung gab, war er neugierig auf sie. Die Geschichte bewies, daß ein System, in dem die Tyrannei überhandnahm und das sich gegen die Besten in der Bevölkerung richtete, ziemlich rasch durch eine Untergrundbewegung ins Wanken geraten konnte, die kurz zuvor noch recht bedeutungslos erschienen war. Diese Kirche hier war tyrannisch genug. Falls es Kräfte gab, die entschlossen waren, sie zu stürzen, verspürte Boyd das Bedürfnis, alles über sie zu wissen.