15

 

 

 

Das Römische Viertel lag zwischen einer der großen Frachtstraßen und einer gigantischen Ruinenmasse. Dort, auf einer Fläche von ungefähr vier Quadratblocks, mußte die gesamte römischkatholische Bevölkerung von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang leben und arbeiten. Dort verbrachten die Kinder und viele der Erwachsenen ihr gesamtes Leben und starrten neidvoll auf das vergleichsweise freie und luxuriöse Leben der Eklektiker für ein Leben der Häresie. Boyd konnte diese Glaubenskraft nur schwer verstehen, mit der man ein solches Leben ertragen konnte – und das schon fast zwei Jahrhunderte lang.

Er sah einen Zehnjährigen, der zurück zum Viertel rannte, verfolgt von einer Bande älterer Jungen, bis Boyd ihren Weg blockierte. Es gab keine Möglichkeit, ihnen den Schneid abzukaufen, aber er zog den Jungen an sich und ging mit ihm auf den Eingang zu. „Alles klar. Sie können dich nicht mehr kriegen.“

Der Junge bemühte sich krampfhaft, nicht zu weinen. „Sie haben mich einen dreckigen Römischen genannt. Einen dreckigen, dreckigen, dreckigen Römischen!“

„Schon gut.“ Es bedurfte keiner Erklärung, um zu sehen, daß dies der erste Ausflug des Jungen außerhalb des Gettos gewesen war. „Du bist römisch, und im Moment bist du fast so schmutzig wie sie auch. Warum willst du denn wegen der Wahrheit weinen?“

„Es war die Art, wie sie es gesagt haben“, protestierte der Junge. Dann sah er Boyd zum erstenmal genauer an. „He, Sie habe ich ja noch nie gesehen. Sind Sie römisch?“

„Nein, ich bin …“, begann Boyd, doch er bekam keine Chance, zu Ende zu sprechen.

Der Junge sprang weg von ihm, wobei er einen schrillen Schrei ausstieß. „Jiiiiiihhh! ’klektiker! Dreckiger ’klektiker!“

Es kam tatsächlich auf die Art an, wie er es sagte. Und die Tatsache, daß es nicht zutraf, machte den Vorwurf kaum weniger verletzend, als wenn er wahr gewesen wäre.

Boyd hörte neben sich ein Kichern. Er wandte sich um und sah Vater Semper, der ihn beobachtete. Noch immer lächelnd, kam der Priester auf ihn zu. „Ich wollte mich gerade um ihn kümmern, als Sie ankamen. Wie ich sehe, haben Sie Ihre erste Lektion bereits bekommen.“

„Nicht ganz. Ich bekam meine erste Lektion, als ein Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, sich um Hilfe für mich bemühte. Ich habe mich dafür noch niemals bei Ihnen bedankt, Vater Semper.“

„Wir alle müssen unseren Aufgaben nachkommen“, meinte der Priester, doch in seinen Worten lag kein Vorwurf. „Aber Sie sind auch heute nicht nur gekommen, um mir zu danken, nehme ich an. Kommen Sie. In der Kirche ist es etwas kühler und auch privater als hier draußen.“

Es war ein winziges, vollgepacktes kleines Bauwerk mit lediglich einem kleinen Fenster über dem Altar. Alles war verschlissen und alt, zu klein und zu armselig. Doch wieder einmal verspürte Boyd ein seltsames Gefühl der Ruhe und des Friedens, während sie durch das Kirchenschiff zu einem kleinen Seitenraum gingen, der kaum größer war als seine eigenen Zimmer.

Semper schob einen dreibeinigen Hocker heran und goß ein Glas jenes leicht bitteren Getränks ein, das man euphemistisch als Tee bezeichnete.

„Ich wollte gerade sagen, es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht wieder zu Diensten sein kann, aber das wäre eine Lüge. Mein Assistent ist krank, und ich mußte eine Missa Solitaria abhalten.“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Als ich noch jünger war, egal ob krank oder gesund, war ich am Altar. Doch den Jungen fehlt die Glaubensstärke ihrer Eltern. Trotzdem überleben wir. Hier, in diesem schmalen Fleckchen regiert noch immer Clemens – für das Königreich Gottes.“

„Wie können Sie beweisen, Gott auf Ihrer Seite zu haben?“ fragte Boyd.

Er hatte seine Übelkeit bis zu einem tolerablen Maß herausgeschwitzt, ganz verschwunden war sie aber noch nicht. Eine Welt, in der die Herrschenden eine Tugend aus ihrer eigenen Zeugungsunfähigkeit machten und die Massen angehalten wurden, sich zu vermehren, bis die Geburt der Beginn eines langsamen und häßlichen Todes war, war schon schlimm genug. Aber eine Welt, in der die Priester das Leben glorifizierten und im gleichen Atemzug einer Mutter das Recht auf eben dieses Leben absprachen, das war unmöglich. Er erkannte die theoretische Dichotomie seines eigenen Standpunktes – zum einen rebellierte er über die Unzahl der Lebewesen auf dieser Welt, zum anderen wollte er jedes individuelle Leben retten. Doch der Fehler in seiner Ethik lag nur in der Perversion der Welt, die andere geschaffen hatten.

Semper hatte die ganze Zeit geschwiegen, doch nun sah er auf. „Das ist eine schwere Frage, Boyd, denn Sie fragen nach einem Beweis, ohne zu glauben, und das ist ein bedeutungsloser Beweis. Aber vielleicht gelingt mir die Beweisführung. Vor langer Zeit determinierte die Kirche viele Dinge als gut oder böse, das ist Ihnen ja bekannt. Die Schöpfung ist gut – und zwar gut in einem höheren Sinne wie etwa: Gott ist die Schöpfung. Das Böse nicht. Studieren Sie einen bösen Herrscher, dann werden Sie das sehen. Das Böse kann verspotten, nachahmen oder höchstens borgen – wirklich schöpferisch sein kann es nicht. Einst erschufen wir vom wahren Glauben eine große Kultur und die Wurzeln der Zivilisation. Oh, ja, die Protestanten haben auch dazu beigetragen, doch sie taten dies, indem sie borgten und stahlen, was wir entdeckt hatten. Nun, vor zweihundert Jahren haben die Anhänger Bonafortes ihre Häresie über die Welt gebracht. Aber was haben sie geschaffen? Sie sind abgefallen von dem großen Erbe, das wir ihnen hinterließen, die Geschichte wird das beweisen. Sie können nichts erschaffen, nicht schöpferisch tätig sein, aber wir konnten es. Ist das nicht Beweis genug?“

„Klingt nicht schlecht“, gab Boyd zu. „Wenn man das Grundpostulat akzeptiert. Aber wie können wir wissen, ob die Schöpfung wirklich gut ist? Ist das gesamte Universum gut, böse oder neutral?“

Der alte Mann seufzte. „Der Stolz der Vernunft! Immerzu ist es der Stolz des Menschen, der zu richten sucht, was er nicht verstehen kann. Boyd, Sie können niemals lernen, wenn Ihr Herz verblendet ist vom Stolz und hart gegen den Glauben. Knien Sie nieder. Betrachten Sie Ihr eigenes Ich und lernen Sie die Demut. Und dann, aus diesem Gefühl der ehrenvollen Demut und dem Bewußtsein der eigenen Winzigkeit heraus – öffnen Sie Ihr Herz. Suchen Sie die Gnade, dann werden die Beweise sich von selbst einstellen. Ich weiß das. Und Sie können es auch erfahren. Aber nicht jetzt, fürchte ich. Sie hören mir zu, doch der Stolz und der Hochmut in Ihrem Herzen sagen Ihnen, daß Sie die Unwahrheit in meinen Worten durchschauen können. Sie haben keine Demut, Sie können mir nicht glauben. Nein, Boyd, ich kann nicht alles beweisen. Sie müssen die Beweise schon selbst finden.“ Er lächelte müde. „Weshalb sind Sie hergekommen? Sicher nicht wegen der Segnung. Und was können wir Ihnen sonst schon bieten?“

„Entkommen, vielleicht. Ich bin dieser Welt des elften Gebots müde, Vater Semper.“ Er stand auf und ging die paar Schritte, die die Größe des Raumes zuließ, hin und her. „Ich ertrage nicht mehr viel und ich weiß, daß es auch noch andere Welten hier geben muß. Sie sind in Kontakt mit einer davon. Sie kennen die Wege, die nach Europa führen. Bringen Sie mich dorthin.“

Der alte Mann ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortraten. „Müssen wir diese Wege kennen? Man verweigert uns Radios und Funkgeräte, also können wir keine Botschaften von Übersee hören. Und es ist nunmehr schon über zehn Jahre her, seit der letzte Bote uns von der Heiligen See erreichte. Wir können Ihnen nicht helfen. Wir wissen noch nicht einmal, was für Nationen gerade miteinander kämpfen oder ob Clemens immer noch in Rom sitzt.“

„Warten Sie einen Augenblick. Was meinen Sie damit, welche Nationen gerade miteinander kämpfen? Ich dachte der römische Glaube hätte in Europa gewonnen.“

„Als Glaube schon.“ Die Stimme von Vater Semper klang mit einmal traurig. „Doch es gibt kein Ende für den Hochmut der Menschen. Der Bischof von Rom ist nicht auch der Herrscher, so wie Bonaforte das hier ist. Das war er noch nie. Und hochmütige Männer fuhren Krieg mit anderen hochmütigen Männern, so wie das schon immer in der ganzen, bekannten Geschichte des europäischen Kontinentes der Fall war.“

Eine Minute lang blieb Boyd mit gesenktem Blick stehen. Er nickte verstehend und wandte sich zur Tür. „Vielen Dank für den Versuch, Vater Semper. Vielleicht bin ich nur gekommen, weil ich Sie mag.“

„Ich mag Sie auch“, sagte der alte Mann. Er stand lächelnd auf und streckte die Hand aus. „Das war gut gesprochen, mein Sohn, frei von Stolz und Hochmut. Sie lernen. Und wenn Sie – von sich aus – gelernt haben, den Frieden nur in Ihrem Inneren zu suchen, dann kommen Sie zurück zu uns.“

Für eine Weile war es eine nette Illusion gewesen, dachte Boyd. Die englische Geschichte hatte ihn schon immer in ihren Bann geschlagen. Er hatte ein friedliches und geeintes Europa gesehen, unter der losen Kontrolle der Römischen Kirche, das sich langsam zum Status des England des sechzehnten Jahrhunderts entwickelte. Er hatte dabei allerdings vergessen, daß es außer dem elften Gebot auch noch andere Exzesse gab und England sogar schon mit Rom Krieg geführt hatte.

Aber irgendwo mußte es doch eine Antwort geben. Kein System konnte überdauern ohne solide Grundlage. Wenn die Notwendigkeit vorüber war, dann kamen andere Kräfte auf und überwogen sie. Aber wo in dieser verrückten Welt waren diese Kräfte? Er hatte alles versucht, aber nichts hatte sich als hoffnungsvoll erwiesen.

Mort erwartete ihn, als er zu seinen Räumen zurückkehrte. Er folgte Boyd, der überhaupt nicht in Stimmung für das anstehende Gespräch über Drogen war. Aber dieses Mal, völlig überraschend, hatte Mort ganz andere Dinge im Sinn.

„Wollen Sie mitkommen zu einem Sabbat?“ fragte er. „Sie wissen doch, Hexerei und solche Sachen? Ich werd’ Sie mitnehmen, wenn Sie Ihr Maul halten und nichts von dem erzählen, was Sie sehen. Mit Ihrer Ausbildung verstehen Sie doch sicher, daß manche Dinge für andere Leute gemacht werden müssen. Nun?“

Boyd hatte die Hexerei aus seinen Gedanken verdrängt gehabt. Der Name war abstoßend, ein finsterer Sinn schwang darin mit, der keine ernsthafte Betrachtung zuließ. Doch das Wort war immer und immer wieder erwähnt worden, seit er auf der Erde war, es schien sich um eine Bewegung, eine Kraft zu handeln, die von der Kirche streng bekämpft wurde.

Morts Beweggründe lagen auf der Hand. Er wollte Boyd so sehr in seine finsteren Geschäfte hineinziehen, bis diesem keine Möglichkeit des Entkommens mehr blieb und er ihn zur Herstellung der verbotenen Drogen zwingen konnte. Aber Morts Spiel war ein wenig zu offensichtlich, vielleicht hatte er daher noch nie das große Geld gemacht, hinter dem er so wild und doch immer vergeblich herzujagen schien.

„Gut“, stimmte er zu. „Wie weit?“

„Nicht allzuweit von meinem Haus entfernt. Sehen Sie, Doktor, ich habe großes Vertrauen zu Ihnen. Ich werde Ihnen nicht einmal die Augen verbinden. Aber lassen Sie nach dem Sabbat kein Wort darüber verlauten, ich habe noch immer Beweismittel gegen Sie in der Hand. Ich verbrannte die meisten von den Dingern, aber ich habe noch immer genug, um zu beweisen, daß sie vom Mars kommen – und das bedeutet, von Ihnen.“

Boyd nickte. „Gut, daß Sie mich erinnern. Ich wollte die ganze Zeit schon einen Bericht über ein paar Gegenstände machen, die während meiner Abwesenheit aus meinen Zimmern gestohlen wurden. Nichts Besonderes, nur ein paar Kleinigkeiten, die ich sowieso wegwerfen wollte. Doch in den falschen Händen könnten sie ernste Folgen haben. Sie haben nicht zufällig jemanden herumstreunen sehen, während der Zeit, als Sie dort waren, oder doch, Mort?“

Mort betrachtete Boyd eine Minute lang mit saurer Miene. Dann öffnete sich sein breiter Mund zu einem Grinsen. Doch sein Lachen hatte einen nervösen Unterton. „Doktor, Sie sind in Ordnung. Ich mag Sie. Sie sind ein ebenso guter Lügner wie ich, als ich sagte, ich hätte noch was von dem Zeug, wo ich doch alles verbrannt habe. Wir werden ein großartiges Team abgeben, Sie mit Ihrer Ausbildung und ich mit meinem Wissen um die Verhältnisse hier. Warten Sie nur ab, wir werden’s schaffen. Kommen Sie. Es wird allmählich Zeit, und sie werden ganz schön ungeduldig werden, wenn der Alte Abe nicht da ist und sie erlöst.“

Es war dann allerdings doch noch nicht so spät, daß er Boyds Einladung zum Essen ausgeschlagen hätte. Boyd begegnete dem Mann noch immer mit gemischten Gefühlen. Trotz allem konnte er ihn nicht so verachten, wie sein erster Eindruck ihm hatte weismachen wollen. Morts Bemühungen, vollkommen schlecht zu sein, hatten schon fast etwas Pathetisches.

Mort sah von seiner Mahlzeit auf. Einen kurzen Augenblick hatte er die Augen völlig offen. „Meine Schwester hat Sie immer gemocht, Boyd. Verdammt, ich wünschte, sie wäre hier. Sie war ein gutes Mädel. Wie ihre Mutter. Meine Alte war eine richtige Furie, aber ihre war eine Lady. Eine richtige Lady. O Hölle.“

„Sie hätten Ellen verkauft, für einen Apfel und ein Ei“, sagte Boyd gehässig. Das war nicht fair – er hatte keine Beweise dafür; doch im Augenblick hatte er gerade nicht an sie gedacht, er haßte es, nun an sie erinnert zu werden.

Mort nickte. „Ja. Vielleicht haben Sie recht. Aber nur, wenn ich sie an den Richtigen hätte verkaufen können. He, wie schmeckt Ihnen eigentlich diese Schüssel voll Algen? Sie hätten ihre Mutter kennenlernen sollen. Als ich noch jünger war …“

Er grinste bei seinen Erinnerungen und begann, sein Essen hinunterzuschlingen. Boyd war froh, daß die Konversation dadurch beendet wurde.

Ihr Ziel entpuppte sich als nichts anderes als ein riesiger Betonblock, der einem früheren Brand entronnen war und neben dem nun zwei baufällige Hütten standen. Doch Mort griff zielsicher nach einem Fleck hinter zwei Büschen. Er strengte sich kurz an, wonach ein paar Bretter zur Seite glitten und eine schmale Passage freigaben. Darunter lag ein Untergeschoß, das von einigen Kerzen erleuchtet wurde. Etwa ein halbes Dutzend Leute hatte sich bereits versammelt. Zwei schlampige Frauen in mittleren Jahren zogen ihre Kleider aus und rieben sich mit einer übelriechenden Salbe ein.

„Sie müssen die Kleider beim ersten Besuch nicht ablegen“, flüsterte Mort. „Der Kodex der Lilith verlangt das erst, nachdem Sie beigetreten sind. Hier, reiben Sie sich damit ein, das ist guter Stoff, nicht das, was die dort benutzen.“

Boyd betrachtete die Salbe argwöhnisch. Er führte zwar die entsprechenden Bewegungen aus, hütete sich aber, etwas davon mit seiner Haut in Berührung zu bringen. Was war das? Eine Art Stimulans? Jemand gab ihm ein dünnes Röhrchen und hielt ihm eine Kerze hin, um es anzuzünden. Das war wohl unvermeidlich, dachte er. Er sog einen Mundvoll des eklig schmeckenden Rauches ein und erinnerte sich, daß das Kraut normalerweise bei den ersten Versuchen noch nicht voll wirkte, wenn der Benutzer nicht schon von irgendwelchen Geschichten, die er gehört hatte, voreingenommen war.

Innerhalb weniger Minuten kamen nun mehr Leute an, die durch verschiedene Eingänge eintraten. Die Luft wurde schlechter, was sowohl an dem Stoff lag, den sie verwendeten, als auch am Geruch ihrer ungewaschenen Körper. In dem trüben Licht konnte er sehen, daß die meisten schon über vierzig waren, nur wenige Ausnahmen konnte er erkennen. Eine alte Vettel assistierte Mort; wahrscheinlich hatte man sie ausgewählt, weil sie tatsächlich wie eine Hexe aussah. Mehrere Ratten waren in einen Käfig eingesperrt, eine besonders große lief frei herum, sie schien zahm zu sein. Schließlich wurden alle Kerzen bis auf eine einzige ausgeblasen. Gleichzeitig begannen Mort und die Vettel eine Art Invokation. Wahrscheinlich ergaben die Worte einen Sinn, doch Boyd konnte ihn nicht entdecken. Es klang wie eine Anhäufung sinnloser Silben. Boyd war überrascht, wie eindrucksvoll Mort sich geben konnte. Dann wurde ein Gesang angestimmt. Es war eine kindische Litanei des Trotzes gegenüber den Plagen und Mühen der Armen, vermischt mit einem heulenden Flehen nach dem Finsteren Herrn oder dem Alten Abe, sie zu befreien. Der Finstere Herr wurde offensichtlich vom Saturn erwartet, in einer fliegenden Untertasse, so groß wie die Welt.

Irgendwann im Laufe der Zeremonie nahm Mort auf einem niederen Hocker hinter dem Tisch Platz, wo er sich hinkauerte. Dann, allmählich, kehrte Ruhe ein. Mort war offensichtlich noch immer da, doch eine andere Präsenz bewegte sich hinter ihm – eine große Gestalt, die einen hohen Hut trug und einen schweren Wasserschlauch auf dem Rücken, der mit etwas gefüllt war, das Boyd als ‚Hexengebräu’ bezeichnete. Wie Mort das bewerkstelligt hatte, wurde Boyd niemals ganz klar; irgendwie war er abgelenkt gewesen, als Mort irgendeine Puppe an seine Stelle gesetzt hatte und hinter sie geschlüpft war. Vielleicht bemühte er sich, ein Hexenmeister der zweiten Generation zu werden.

Nun erhoben die Versammelten sich und erflehten die magische Hilfe des Alten Abe für ihre Probleme. Einige, die Kleider trugen, schienen ebenfalls von Freunden mitgebracht worden zu sein, doch die Nackten hatten Probleme genug, von denen sie berichten konnten. Für jene, die Probleme mit der Liebe hatten, hatte Abe ein paar Vorschläge parat, die auf einer verqueren, sympathetischen Magie zu beruhen schienen. Die anderen Bittsteller, meistens mit medizinischen Problemen, überraschten Boyd. Sie schienen tatsächlich an die Wirkung der Kräutermixturen, die sie bekamen, zu glauben. Wahrscheinlich halfen die meisten überhaupt nicht, aber einige würden wohl zumindest dazu beitragen, daß die Patienten sich besser fühlten. Später verfiel dann der Alte Abe – oder Mort – in eine mit hohler Stimme vorgetragene Lektion im Hexen, die auf einem beachtlichen Verständnis der Furcht vor dem Aberglauben beruhte. Boyd war fasziniert.

Was danach geschah, war weitaus weniger interessant. Die Angelegenheiten wurden unglaublich unwichtig, wenn die Audienz auch immer wilder wurde und ihren Haß auf die Autoritäten offen hinausschrie. Wahrscheinlich begannen die Drogen zu wirken. Wenige Minuten später begann jemand einen wilden, formlosen Tanz, in den die meisten Leute einfielen.

Plötzlich brach die Vettel in einen Schrei aus. „Segen! Opfer! Mamba, Mamba!“

Danach hackte sie die Ratten in kleine Stücke, während das zahme Tier sich an dem Gemetzel beteiligte. Boyd mochte Ratten nicht übertrieben gern, doch sein Magen revoltierte angesichts dieser sinnlosen Grausamkeit. Doch für die Gruppe war es ein ungemein anfeuerndes Ereignis; wahrscheinlich brach jede Demütigung, die diese Menschen in ihrem Leben erfahren hatten, nun aus ihnen hervor, beim Anblick des Schmerzes, der einer Kreatur zugefügt wurde, die sich nicht wehren konnte. Der Finstere Herr schien das Opfer anzunehmen, er trank davon. Dann warf er etwas in den Kelch voller Rattenblut und reichte ihn an die Menge weiter.

Innerhalb einer Minute lagen zwei Frauen auf dem Boden, sie schrien und stöhnten, andere gesellten sich zu ihnen. Männer sanken auf die Knie und krochen brüllend und keuchend auf die Frauen zu. Der Finstere Herr wartete, bis eines der jüngeren Mädchen in seine Nähe kam, dann schnappte er sie und warf sie auf den Tisch. Das war das Zeichen für die anderen. Was folgte, war eine Orgie nackter, ungezügelter Lust mit unaufhörlich wechselnden Partnern, gegen die die Zusammenkunft der Evangelisten sich ausnahm wie ein Konfirmandenausflug. Aber es war mehr pathetisch als revoltierend.

Boyd schlüpfte unbemerkt hinaus und bahnte sich seinen Weg durch den Tunnel zurück, den Mort freigelegt hatte. Hinter ihm verblaßten die Geräusche.

Wenn das tatsächlich eine Probe der Hexerei gewesen war, dann war die Amerikanische Katholische Eklektische Kirche für immer sicher davor, und das elfte Gebot würde keine Opposition im ganzen Land finden. Es schien unglaublich, daß eine absolutistische Macht ohne effektive Opposition herrschen konnte, doch genau das schien hier der Fall zu sein.