13

 

 

 

Am nächsten Morgen hatte Boyd einen leichten Brummschädel, verbunden mit einer eher konfusen Erinnerung an sein Gespräch mit Epstein. Seine Kopfschmerzen bekämpfte er mit einem Pulver, und sein Magen hatte sich nach dem Frühstück von ganz allein wieder beruhigt. Während der Fahrt zum Flughafen fühlte er sich bereits wieder relativ normal.

Larkin war noch mit den üblichen Vorbereitungen eines Piloten beschäftigt. Er überprüfte die Beleuchtung, zündete eine Kerze an und sprach ein Gebet vor dem Flug, doch das Flugzeug war unverschlossen, und die Diensttuenden erkannten Boyd. Er setzte sich hinein und sah zu seiner Überraschung, daß jemand ein Radio im Kontrollraum angebracht hatte.

Larkin ließ sich in den Pilotensitz fallen, während Boyd noch immer den Antennendraht betrachtete. „Der Kerl, der das hier eingebaut hat, hat geschworen, man würde damit landesweit Signale empfangen können“, sagte der Pilot. „Um nichts in der Welt möchte ich mir die Rede des Blinden Stephan entgehen lassen. Bei Ihnen alles klar, Doktor?“

Boyd war bereit, doch mit dem Flugzeug war das wieder eine ganz andere Sache. Als Larkin endlich alles überprüft hatte und der Motor warmgelaufen war, war eine halbe Stunde vergangen. Dann endlich hoben sie ab. Es wurde dunkel, Boyd erkannte, daß er nun wieder nicht die Berge sehen würde. Doch darüber war er fast glücklich; er hatte schon mehrmals Bilder von ihnen gesehen, aus den alten Zeiten, und er bezweifelte, ob die kahlen, terrassenartig angelegten Berge seinem Bild entsprechen würden. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und versuchte zu schlafen, während das Flugzeug monoton ostwärts dröhnte. In Topeka erwartete sie eine Mahlzeit – Bohnen und Haferflocken, dazu ein bißchen Krill. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um die erwartete Radiosendung; offensichtlich erregte alles außerhalb des üblichen Programms des Regierungssenders die Aufmerksamkeit der Leute. Manche murrten zwar über das Ausfallen der üblichen Sendungen, jener moralisierenden, einfältigen Schmierenkomödien, in denen Priester, Mönche und Nonnen immerzu alle Probleme lösten, doch die meisten schienen sich mehr für die Rede zu interessieren. Boyd begann darüber zu spekulieren, wie der Blinde Stephan wohl diese nationale Übertragung anpacken würde.

Sie befanden sich bereits wieder in der Luft, als die Sendung begann, und das Radio übertrug sie perfekt. Doch die Eröffnung spielte sich ganz anders ab, als Boyd das erwartet hatte. Der Blinde Stephan begann mit voller Stimme zu sprechen, sein Singsang schien aus den Lautsprechern zu dröhnen und zu hämmern.

„Ihr sollt hören von Krieg und Gerüchten über Kriege. Nation wird sich gegen Nation erheben, Königreich gegen Königreich. Dann werden sie großen Kummer über euch bringen und euch töten. Und dann werden viele gekränkt und beleidigt werden und werden einander betrügen und einander hassen. Und da die Ungerechtigkeit regieren wird, wird die Liebe von vielen enden. Doch derjenige, der gläubig ist bis zum Ende, der soll gerettet werden.

Lasset die Schwachen und die Halbherzigen ruhig ihre Köpfe verbergen. Laßt es zu, daß sie weder gen Westen noch gen Osten blicken. Laßt sie getrost das uralte Erbe vergessen und sich nicht erinnern an die Verheißung des Herrn, der schwor, die Saat der Erwählten über die ganze Erde zu verbreiten, selbst über die Sterne des Himmels. Doch zu der Saat Adams, welcher die Herrschaft über alles auf Erden haben soll, rufe ich aus der Finsternis: Gürtet euch mit eurem Schwerte und ziehet in den Krieg, zur Vergeltung Gottes!

Bereits im Himmel kannte man den Krieg – selbst im Himmel war er bekannt. Und der große Drache, der gelbe Drache, der seine Schwingen der Dunkelheit und seinen feurigen Atem der Ungerechtigkeit über der Erde ausbreitete, jene alte Schlange, wurde vertrieben. Sie überwanden sie durch das Blut des Lamms und durch das Wort ihres Zeugnisses; sie hingen nicht an ihren Leben und opferten sich bereitwillig. Deshalb seid gepriesen, Ihr Himmel und Ihr, die Ihr dort weilet. Wehe den Bewohnern der Erde und der See! Denn der Teufel ist gekommen und weilt unter euch, er hat große Eile, denn er weiß, seine Zeit ist knapp.“

Dieses Mal konnte sogar Boyd erkennen, daß es sich lediglich um eine wilde Ansammlung von Zitaten und Gemeinplätzen handelte, die vorgetragen wurden, um vertraute Phrasen einsickern zu lassen, damit die Zuhörer die Botschaft langsam aufnehmen konnten. Stephan predigte von seinem Kreuzzug als einem heiligen Krieg. Er bettelte nicht um Nachfolger. Er predigte zu der gesamten Bevölkerung, als gehörte jedermann bereits zu seiner Gefolgschaft und zu seinen informierten Legionen. Nach dem oberflächlichen, übersimplifizierten Schmant, den die Menschen normalerweise in ihren Radios zu hören bekamen, war das schon ganz schön harter Stoff. Und so, wie es begonnen hatte, ging es weitere zwanzig Minuten lang, bis Boyd fühlte, wie die Muskeln seiner Arme und Schenkel im mitreißenden Takt der Stimme zu zucken begannen.

Dann, so subtil, daß fast kein Übergang zu bemerken war, wurde die Botschaft sanfter und versprach Hoffnung und Zuversicht. Wunder konnten geschehen. Die Hand des Gottes der Vergeltung war gleichzeitig die Hand des Gottes der Liebe.

„Eine große Pest hatte den Ozean erfüllt, die Grundsubstanz unseres Lebens war in Gefahr. Ihr wißt davon nichts, ich aber sage euch, so verhielt es sich. Der Schatten des Untergangs lag in der Nacht über euch allen, doch ihr habt seinen Atem nicht gespürt. Ein Instrument der Gnade errettete uns, noch bevor wir wußten, daß die Notwendigkeit dazu bestand. Aus der kalten und höllischen Einöde Satans kam die Bedrohung über uns, zu böse und bedrohlich für die Abgründe der Hölle selbst. Denn Unser Herr kann selbst solche Waffen gegen das Böse einsetzen, die uns verderben würden. Boyd Allen Jensen, MX491 – der vierhunderteinundneunzigste Verbannte des Mars – wurde entsandt von der seelosen Einöde des Mars, um das Leben in unseren Seen zu erretten. Und mit meinen eigenen Augen sah ich sein Instrument der Gnade kämpfen gegen die Mächte der Finsternis. Und euch wurde die Rettung zuteil. Der Vater im Himmel kennt weder Grenzen noch ein Ende Seines zärtlichen Schutzes Seiner Kinder.“

Das rüttelte Boyd aus seinem Halbschlaf und ließ ihn leise fluchen. Vielleicht war es aber auch gar nicht so schlecht. Sein Ärger ließ ihn kritischer werden, als der Blinde Stephan zum Crescendo seiner Rede kam, einem gewaltigen Bild der Glorreichen, die ihre Saat über den gesamten Planeten und schließlich bis an die Grenzen des Universums verbreiten sollten. Selbst die abschließende Rückkehr zu einer kaum verhüllten Botschaft des Krieges ließ ihn kalt.

Die Worte endeten so abrupt, wie sie begonnen hatten, eine volle Minute der Stille folgte. Benommen schaltete Larkin das Radiogerät ab. „Mein Gott!“ sagte er. „Mein Gott! Ich frage mich, ob er Piloten benötigt?“

In dieser ganzen Stunde hatte er keinen wirklichen Sinn in die Worte bringen können. Kein vernünftiger Mensch hätte ein so desorganisiertes, zielloses und bedeutungsloses Geschwafel vortragen und dann noch auf ansehnliche Resultate hoffen können. Trotzdem hatte es funktioniert.

 

 

Larkin war noch immer in seinen inneren Visionen gefangen, als sie am frühen Nachmittag in New City landeten. Boyd sah mit Erleichterung, wie sie auf dem Landefeld aufsetzten und dem Dreirad zustrebten, das ihn zum Laboratorium bringen sollte.

Das Tosen der Stadt schlug wieder über ihm zusammen. Schon seit Wochen war er diesem Trubel fern gewesen, seine Erinnerung daran war verblaßt. Noch niemals war ihm aufgefallen, wie sehr er alles akzeptierte, vom ersten Tag an bis heute, da er alles wieder frisch vor sich sah. Der Geruch war noch immer da, die überfüllten Straßen, der Lärm, die mißgestalteten Krüppel und die Kinder, die sich um die Abfälle stritten. Sie rannten an seiner eigenen Straße vorüber, in die er entsetzt hineinstarrte. Es schien unglaublich, daß er im Zentrum eines solchen Schmelztiegels von Menschen gelebt haben konnte, ohne jemals einen Blick auf seine Umgebung zu werfen. Dann, als er an dem Haus von Buckel-Pete vorüberging, schien alles wieder einzurasten, wurde vertraut und fast normal. Darin lag der tatsächliche Schrecken – in der Tatsache, daß er so langsam zu einem integrierten Bestandteil der Milliarden Menschen der Erde wurde.

In dem alten, vertrauten Labor der Kathedrale ertönte ein Schrei bei seinem Eintritt. Alle drängten sich um ihn, hießen ihn willkommen und beglückwünschten ihn. Er fühlte, wie sein Gesicht sich unter dem Ansturm warmherziger Gefühle, die in ihm aufkeimten, rötete, seine Kehle war wie zugeschnürt. Als sie sich wieder zerstreuten und er endlich in sein eigenes Labor zurückkehren konnte, zitterten seine Hände ungemein, und er konnte kaum die gröbsten Werkzeuge handhaben.

Während er wartete, verschwand das Hochgefühl und hinterließ nur einen schalen Nachgeschmack. Eine Stunde verging, bevor er sich den wahren Grund seines Zorns eingestand. Dann verfluchte er sowohl sie als auch sich selbst. Zum Teufel mit ihr! Sie hätte zumindest unter der Gruppe sein und ihm zunicken oder an seiner Tür vorübergehen und ihm eine, wenn auch nur kalte und formale, Gratulation aussprechen können! Ihre Arbeit für Morrow konnte sie gar nicht so sehr beschäftigen! Und wenn doch, dann war das nicht seine Sache, er würde ganz bestimmt nicht nach ihr suchen!

Ben kam später zu ihm, er setzte sich und beobachtete Boyd, der versuchte, wieder in die Routine seiner Arbeit hineinzukommen. Schließlich seufzte der Priester und schloß die Tür.

„Sie ist nicht hier, Boyd“, sagte er. „Sie ist seit über einer Woche nicht mehr hier. Sie hat einfach gekündigt und ist gegangen, eines Tages, niemand weiß, weshalb und wohin sie gegangen ist. Ich habe bereits Nachforschungen angestellt.“

Boyd fühlte heiße Worte der Verneinung in sich aufsteigen, doch er schluckte sie herunter. Er ließ sich in den Laborstuhl fallen und bemühte sich, Ordnung in die Mischung aus Verzweiflung und wildester Spekulation in seinem Kopf zu bringen. „Danke, Ben“, sagte er schließlich. „Sie können mir aber ruhig alles sagen. Lag es an Morrow?“

„Nein. Ich habe ihn bereits gefragt, er war ebenso verwirrt wie ich.“ Ben grinste trocken. „Oh, natürlich hat er einen Versuch bei ihr gestartet. Sie war freundlich, aber kühl, und sagte ihm, fürs erste hätte sie genug von allen Männern. Komisch – Morrow scheint ihr geglaubt zu haben, und so zweifelnd an seinem Charme kenne ich ihn gar nicht. Aber er ließ sie in Ruhe; sie war eine zu gute Hilfe, er wollte sie nicht verlieren. Zehn Tage später oder so ging sie, mitten in ihrer Arbeit, er untersuchte gerade den Ausbruch eines neuartigen Ausschlags bei Kindern. Sie sagte, sie wäre am Ende, aber sie sagte nicht, weshalb. Und dann ging sie, Schluß.“

Er wartete noch eine Sekunde, dann schlug er Boyd leicht auf die Schulter. „Wie ich gesehen habe, wartet Ihr Rikschafahrer bereits draußen auf Sie. Sie gehen wohl besser nach Hause und fangen morgen noch einmal von vorne an.“

Das war ein vernünftiger Vorschlag, den Boyd gerne annahm. Doch zuvor stattete er Morrows Labor noch einen kurzen Besuch ab. Der Mann war verwirrt, leicht defensiv, aber im großen und ganzen freundlich. Er wiederholte die Geschichte, die Ben ihm bereits erzählt hatte, wobei er allerdings stärker auf Ellens Arbeit einging. Das war eine ermüdende Liste von Fallstudien, gesammelt von Leuten, denen jedes Geschick für eine solche Arbeit fehlte, in denen ein gemeinsamer Faktor gefunden werden mußte. „Nr. NC73-HM&L21-817-23-8906, männlich, 2 Jhr. Domizil St. Wanja, S. Angelika, Aufnahme. Große, rote Flecken, so groß wie eine Münze. Weinte die ganze Nacht. Unangenehmer Geruch, als die Flecken am nächsten Tag aufbrachen. Schorfbildung. Geheilt. Dann erneuter Ausbruch, am ganzen Körper …“

Da waren Hunderte solcher Karten, die offensichtlich alle keinen Hinweis ergaben. Boyd stieß sie angeekelt von sich.

„Sie hätten sie heiraten sollen“, sagte Morrow plötzlich. „Ich meine …“

Boyd nickte. „Diese Idee hatte ich auch schon – aber da war es bereits zu spät.“

„Unsinn. Sie war verrückt nach Ihnen.“

„Hat sie Ihnen das gesagt?“ fragte Boyd scharf.

Morrow schüttelte den Kopf. „Nein. Aber sie blieb meistens noch lange, nachdem wir hier fertig waren, und erledigte die Arbeit, die Sie liegengelassen hatten. Sie hat sogar Ihr Labor jeden Tag abgestaubt.“

Boyd grunzte. Das entsprach genau ihrer Art. Er murmelte Morrow seinen Dank zu und ging.

Harry wartete geduldig. Er lächelte und salutierte halb zum Gruß. „Hörte, Sie sind wieder zurück, Doktor. Wir haben Sie vermißt.“

„Ich habe Sie auch vermißt, Harry“, antwortete Boyd, und es stimmte. Doch dann kehrten seine Sorgen zurück. „Ich möchte gerne zum Haus von Mrs. Serkin.“

Harry wirkte plötzlich ernüchtert, er runzelte die Stirn. „Wird keinen Zweck haben. Dieser große Priester in ihrem Labor und ich selbst haben es beide schon versucht. Sie war nicht mehr dort, und ihr Zimmer wurde an einen Mann vermietet. Doktor, eigentlich geht es mich ja nichts an – aber hatten Sie und die Lady einen Krach?“

„So könnte man es nennen“, gab Boyd zu. Wenn Ben bereits ergebnislos geforscht hatte …

Harry grunzte unglücklich. „Ja, dachte ich mir schon. Sie benahm sich so seltsam, wie meine Schwester, als sie Krach mit ihrem Mann hatte. War schon komisch, als ich sie das letzte Mal sah. So wie sie aussah – dachte schon, sie hätte gehört, Ihnen wäre etwas Schlimmes zugestoßen, aber sie wollte nicht antworten. Sie rannte einfach in ihr Zimmer und kurz darauf wieder heraus. Schätze, da hat sie gekündigt. Und immerzu murmelte sie mit sich selbst. ‚Verdammt, verdammt, zum Teufel mit ihnen’, so klang es. Sie wissen selbst, sie geriet nicht so leicht aus der Fassung. Ich ließ sie nicht gerne gehen.“

„Wo?“ fragte Boyd. „Dort, wo Sie sie zuerst hingebracht haben?“

Harry schüttelte den Kopf. „Nee. Nicht in die Nähe der Wohnung ihres Bruders. Das war in einer alten Fabriksektion, jene Sektion, die sie Diakonissenwinkel nennen. Ich wartete auf sie, nachdem sie gegangen war. Aber dann bekam ich eine Fahrt, Doktor. Ich hätte ihn abgewimmelt, aber es war ein Priester, und die Gesetze sind in dieser Beziehung streng. Daher mußte ich sie verlassen. Wenn ihr irgend etwas zugestoßen ist …“

„Sie hatte Freunde dort“, versuchte Boyd ihn zu beruhigen. Ein Versuch, seine Schuld mit Harry zu teilen, würde nichts Gutes einbringen. Und in gewisser Weise hatte er die Wahrheit gesagt; der Diakonissenwinkel enthielt unter anderem jene Halle, in der das Evangelistentreffen stattgefunden hatte.

Harry wirkte erleichtert. „Schätze, dann ist es in Ordnung. Vielleicht erwartet Sie schon ein Brief von ihr, he?“

Boyd bemühte sich, daran zu glauben. Einen Augenblick, kurz nachdem er den Hausgang betreten hatte, glaubte er auch tatsächlich daran. Doch der Brief war an einen anderen Bewohner adressiert. Er verfluchte sich erneut und ging auf sein Zimmer.

Die Tür stand einen Spalt weit offen. Als Boyd sie ganz aufstieß, erhob sich ein Mann langsam von einem Stuhl.

Er war nicht größer als einen Meter siebzig und in jenen grauen Stoff gekleidet, der von Laienbrüdern getragen wurde, die einigermaßen wohlhabend waren, sein Haar und seine Haut waren leicht getönt worden. Doch diese Verkleidung war sinnlos bei einem Mann mit Boyds Hintergrundwissen. Der Fremde war ganz offensichtlich ein Marsianer!