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Boyd hielt den Atem an, als der Priester sich umwandte. Aber Petty zeigte kein Anzeichen von Zorn. Seine dünnen Lippen hatten sich sogar zu einem Lächeln verzogen.

„Wie ich sehe, machen Sie beste Fortschritte bei unserem Projekt“, sprach er sichtlich erfreut. „Ich habe Sie ständig beobachtet, wollte mich aber nicht einmischen, bis Sie den Schlüsseldefekt gefunden hatten. Ein wundervolles Mikroskop haben Sie da. Jenes, das ich am Seminar benutzt habe, besaß nicht dieses Auflösungsvermögen, obwohl es derart schwer war, daß ein Mensch allein es nicht zu heben vermochte.“ Plötzlich kicherte er. „Und das nächste Mal, wenn Sie Chemikalien benötigen, brauchen Sie sich um Scherereien von meiner Seite aus nicht zu sorgen. Mir obliegt es nur, ein Auge auch auf solche Kleinigkeiten zu haben.“

Boyd nickte. „Natürlich, Vater, ich …“

„Ich weiß, Sie dachten, ich sei zu beschäftigt.“ Das Gesicht des Alten strahlte. „Übrigens, ich bin schon dabei, den Bericht darüber zu schreiben. Ich hoffe, Sie haben alles genau aufgezeichnet. Einige Einzelheiten sind mir möglicherweise entfallen. Ich sollte besser daran tun, alles in den Bericht über meine Forschungsarbeit hier aufzunehmen, oder meinen Sie nicht?“ Er machte eine Pause, in der er Boyd mit einem scharfen Blick zu durchbohren schien. „Selbstverständlich, mein Sohn, beabsichtige ich, Ihren Namen im Hinblick auf die Überlassung Ihres Instruments sowie Ihrer unschätzbaren tätigen Mitwirkung ehrenvoll zu erwähnen. Sie verdienen für all Ihre Hilfe nachdrücklich großen Dank – innerhalb jener Grenzen, wo einem Laien biologische Forschungen nicht untersagt sind.“

Das war reine Erpressung. Boyd hatte nicht die geringste Ahnung, ob und inwieweit biologische Forschungstätigkeit verboten war – und er hütete sich vor der Versuchung, es genauer zu erfahren, da es ihm nur Schwierigkeiten bringen konnte. Er unterwarf sich und hielt den Schein aufrecht, als ob sein Plan schon immer der des Priesters gewesen wäre. Es hatte wenig Sinn, einen unnötigen Eiertanz aufzuführen. Also sprach er ruhig: „Vielen Dank, Vater. Ich glaube, mit etwas Nachschub könnte ich das Problem durchaus noch vor Arbeitsschluß gelöst haben.“

„Sehr gut, mein Sohn. Sie sollen alles haben, was Sie brauchen.“ Mit einem liebevollen Schultertätscheln und vergnügtem Kichern verabschiedete sich der Alte.

Er hielt Wort. Wenig später erschien Ellen mit dem gewünschten Nachschub sowie der Weisung, nur ihm zu helfen und alle ihre sonstigen Pflichten zu vergessen. Als sie Boyds Schilderung der jetzigen Lage hörte, stampfte sie empört mit dem Fuß auf.

„Hab’ ich’s Ihnen nicht gleich gesagt, daß man Priestern nicht trauen darf?“ regte sie sich auf. „Sehen Sie es jetzt nicht selbst? Sie stehlen Ihnen alles.“

Nur Firculo schien über die Entdeckung von Boyds geheimer Tätigkeit erfreut zu sein. Von seinem Standpunkt aus war es egal, wie die Arbeit vorankam. Pettys offizielle Sanktionierung machte die ganze Geschichte für ihn wesentlich erfreulicher, was Boyd dem Mann nicht einmal verübeln konnte. Und während er fortfuhr, das winzige Bündel von Kettenteilen zu manipulieren, vergaß er darüber fast, daß seine gesamten Pläne eigentlich zu nichts zerronnen waren. Vorher hatte er bloß von anderen bereits durchgeführte Experimente nachvollzogen; jetzt war er auf sich selbst gestellt.

Plötzlich war endlich der Fehler beseitigt, und die winzige tiefgefrorene kleine Zelle war vollendet. Er trug die dünne Platte zum Wärmeofen hinüber und legte sie danach in eine Nährlösung. Aufgeregt, als hätte er persönlich die Arbeit ausgeführt, kam Petty herangeeilt, um das Ergebnis zu besichtigen.

„Einen endgültigen Schlußbericht können wir natürlich nicht eher einreichen, bevor wir nicht eine Woche lang überprüft haben, ob alles stimmt“, bemerkte der über die Nährlösung gebeugte Alte. Mochte er auch ein Räuber sein, von seinem erlernten Fach verstand er jedenfalls etwas. „Wer sagt es denn, Boyd – unsere Zelle funktioniert prächtig. Sie vermehrt sich unaufhörlich, und stabil scheint sie auch zu sein. Eine sichere Hand haben Sie für solche Arbeiten – eine gute Hand. Früher hatte ich auch eine gute Hand. Aber wir Studenten mußten meistens büffeln. Gelegenheit zu Versuchen gab es kaum.“

Am nächsten Morgen stand das Ergebnis zwar fest, aber zur Absicherung waren noch ständige Beobachtungen nötig. Der Hefepilz vermehrte sich reinrassig und behielt seine phantastische Fähigkeit bei, aus Pflanzenabfall hochprozentigen Alkohol zu produzieren.

Boyd zählte seine Barschaft, um dann festzustellen, daß er mehr als erwartet ausgegeben hatte. Achselzuckend hob er sein Guthaben ab. Egal, ob er danach blank war oder nicht – er hatte die feste Absicht, seine erste selbständige Arbeit zu feiern.

„Was macht ein Mann, wenn er eine Frau zum Essen einlädt?“ fragte er Ellen.

Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu. „Er lädt sie ein, ganz einfach. Haben Sie schon eine Freundin gefunden?“

„Ich möchte Sie darum bitten. Aber ich möchte in ein Lokal, wo das Essen einigermaßen schmeckt, egal war das kostet.“

Sie hatte Einwände, natürlich wegen ihrer Kleidung. Boyd hatte sogar Verständnis dafür. Er selbst verfügte auch nur über zwei komplette Ausstattungen, die ihm eine Frau, von Buckel-Pete besorgt, abwechselnd reinigte. Sauberkeit war bei rationiertem Wasser und jeglichem Fehlen von Wasserleitungen ein echtes Problem. Verglichen mit den meisten anderen Frauen erschien sie ihm jedoch blitzsauber. Er hatte vergessen, daß er sie vor einem Monat vermutlich noch als schmutzig empfunden hätte. Schließlich willigte sie ein und wußte auch ein Lokal, wo man echten Fisch und mit etwas Glück sogar Gemüse bekam. Dennoch errötete sie über ihre Zusage. Er stellte sich die müßige Frage, was sie wohl täte, falls er sie zu küssen versuchte. Verflixt, sie war doch schon verheiratet gewesen. Welche Zimperlichkeiten erwarteten ihn noch in dieser verrückten Gesellschaft?

Zu seiner Überraschung stellte sich das Essen als besser heraus, als der äußere Eindruck des Lokals anfänglich vermuten ließ. Es befand sich in einem Kellergeschoß, und Boyd war sicher, daß die Küche niemals einer Untersuchung einer Gesundheitskommission standgehalten hätte. Er fühlte jedoch keinerlei Verlangen, es darauf ankommen zu lassen. Er lernte mehr und mehr das Wegsehen. Tatsächlich gab es dort Gemüse: Allerdings Kartoffeln und Erbsen, die bereits seit Jahren getrocknet sein mußten. Aber er entdeckte, daß nicht alle Meeresfrüchte unbedingt gleich schmeckten: Das Barschfilet rechtfertigte fast den dafür verlangten Preis.

Ellen aß wie ein kleines Mädchen, das zum erstenmal ausgeht. Ihre geschäftigen Augen huschten von einem Tisch zum andern. Diesmal jedoch lächelte sie mehr, als daß sie finster dreinblickte, was sie beinahe hübsch aussehen ließ.

Als sich ihr Blick mit seinem kreuzte, wurde sie wieder nüchtern. „Boyd, mein Halbbruder Mort möchte sich gern mit Ihnen treffen“, sagte sie. Ihr Blick senkte sich, und sie betrachtete sorgfältig den Nachtisch, von dem sie eine Gabel voll zum Mund führte. „Ich habe ihm versprochen, den Menschen vom Mars darum zu bitten. Er sagte – er meinte, vielleicht könnte ich Sie mitbringen. An diesem Samstag ist das Fest des St. Bonaforte, und er dachte, wenn Sie es sich mit mir ansehen wollen – es ist unsere höchste Feier, deshalb sollten Sie sie nicht versäumen …“

„Wenn ein Mädchen einen Mann darum bitten will, mit zu einer Feier zu kommen, fragt sie ihn einfach“, half er ihr auf die Sprünge. „Richtig? Oder lese ich aus dem, was Sie sagen, zuviel heraus?“

Sie lächelte verlegen und studierte erneut den Nachtisch. „Nun, falls Sie kommen wollen, hätte ich nichts dagegen. Ich habe nichts anderes vor. Aber Mort will sich wirklich mit Ihnen treffen. Ich weiß nicht – ich versuchte ihm zu erklären, daß es nicht ginge, aber …“

„Wird mir ein Vergnügen sein, ihm eine Monsterschau hinzulegen“, verriet er ihr. Überraschenderweise empfand er nicht einmal Bitterkeit darüber. Vielleicht brauchten die Menschen hier einfach den leichten Kitzel, der sie beim Anblick eines blonden Marsianers durchfuhr.

„Ich weiß nicht …“, begann sie.

Ein Schrei zerriß die Luft. Boyd zuckte zusammen und ruckte zurück, wobei er gegen den Stuhl des hinter ihm sitzenden Gastes prallte. Ellen schnappte matt nach Luft.

Die Frau, die den Schrei ausgestoßen hatte, schrie unentwegt weiter, und andere Stimmen gesellten sich dazu. Ausgestreckte Finger wiesen auf einen der Kellner. Im schwachen Licht der Kerzen und Glühlampen konnte Boyd nur erkennen, daß dem Mann ein feiner Blutfaden aus der Nase abwärts lief. Als dann der Kellner sich mit leichenblassem Gesicht rundum wandte, sah er dunkle, blutunterlaufende Flecken auf seiner Haut. Auch die Lippen hatten sich fast schwarz gefärbt.

„Blut – Blut!“ ertönte immer lauter das gellende Geschrei. Überall sprangen zu Tode erschrockene Gäste von ihren Sitzen hoch und jagten dem Ausgang zu. Panik breitete sich aus. Auch der Mann hinter Boyd schnellte hoch, stürzte los, stieß jemand anders um und kämpfte sich einen Weg aus dem Restaurant.

Boyd schaute wieder zu Ellen hin, die sich jedoch schon von ihrem Platz freigerauft hatte, in die Menge gestürzt war und sich auf dem Weg zur Ausgangstür befand. Die anderen Kellner hatten sich der allgemeinen Flucht angeschlossen.

Irgend jemand rempelte gegen Boyds Stuhl und lief ihn über den Haufen. Im Hochrappeln stieß er sich schmerzhaft den Kopf am Tisch. Als er endlich wieder stand, sah er sich allein mit dem erschrockenen Mann, der die ganze Geschichte in Gang gesetzt hatte.

„Nichts als Nasenbluten, nichts als Nasenbluten, und ich habe mich in die Lippe gebissen“, stammelte schluchzend der arme Tropf. Als er sich mit der Zunge die Lippen beleckte, sah Boyd, daß auch sein Zahnfleisch bluten mußte. Als er auf ihn zutrat, um ihm seine Hilfe anzubieten, wich der Mann zurück.

„Nichts als Nasenbluten! Oh, lieber Himmel, sag mir, daß es nur Nasenbluten ist!“

„Sicher, ist nur ein Nasenbluten“, beruhigte ihn Boyd. „Hatte selbst schon wesentlich schlimmeres. Ein bißchen kaltes Wasser wird die Blutung schnell zum Stillstand bringen.“

Inzwischen aber zweifelte er selbst schon an seinen Worten. Die verletzten Kapillargefäße hatten bereits überall auf der sichtbaren Haut dunkelrote Flecken gebildet. Boyd warf einen Blick auf den Hals und war keineswegs überrascht, die Lymphknoten verdickt vorzufinden. Es war wesentlich schlimmer als ein normales Nasenbluten. Entweder befand sich der Mann in einem schon fortgeschrittenen gefährlichen Stadium einer Leukämie, oder aber er litt an einer thrombotischen Fehlfunktion, bei der die Blutabwehrzellen unfähig waren, der normalen Schädigungen durch die tägliche Belastung Herr zu werden.

„Legen Sie sich erst einmal hin und beruhigen Sie sich“, empfahl er dem Mann. Falls er noch stärker in Panik verfiel, bestand wegen erhöhten Blutdrucks die Gefahr schwerer innerer Blutungen in der Lunge oder im Gehirn.

Der Kellner betupfte seine Lippen mit einem schmutzigen Taschentuch. Jetzt erst schien er richtig zu begreifen. Der bisherige Schock, der Schrecken und die Ungewißheit wurden schlagartig vom Grauen der Gewißheit verdrängt.

„Blut!“ schrie er plötzlich los. „Vorsicht! Blut!“ Mit einem mächtigen Satz war er blitzschnell an Boyd vorbei. Immerfort bei jedem Schritt „Blut!“ schreiend, stürzte er, von niemandem aufgehalten, durch die Tür nach draußen.

Boyd nahm das fallen gelassene Taschentuch auf und begab sich ebenfalls zur Tür. Er trat auf ein herabgeschleudertes Tablett, das unter seinen Füßen wegrutschte, worauf er den Halt verlor und rücklings zu Boden stürzte. Schwer schlug er mit dem Kopf auf dem Fußboden auf. Zwar nicht besinnungslos, aber einen Moment lang ziemlich benommen, taumelte er wieder hoch und sah zwei Gestalten durch den Eingang ins Lokal hereinkommen. Sie waren völlig eingehüllt in dünne Plastikfolie, durch die hindurch er einen davon als Geistlichen und den andern aufgrund der blauen Kleidung als Arzt erkannte.

„Hier ist noch jemand, der niedergeschlagen worden ist“, sagte der Arzt und wies auf Boyd. „Welche Nummer haben Sie, junger Mann?“

Boyd nannte sie ihm, worauf der Priester sofort etwas Unverständliches vor sich hinsprach. Offenbar diente die Nummer als Beweis dafür, daß Boyd nicht der Gesuchte war. Der Doktor nickte nur und hob ein kleines Funksprechgerät an seine Lippen. „Wird bestimmt nicht lange dauern, bis wir den richtigen Burschen gefunden haben“, bemerkte er.

So war es auch. Fast im selben Moment noch summte das Gerät, und er lauschte, dabei befriedigt nickend. Danach ließ er das Sprechgerät wieder an der Seite herunterhängen und wandte sich Boyd zu. „Alles klar, Sie sind ohnehin nicht der Typ, und nahe dran waren Sie sicher auch nicht. Diejenigen in der Nähe sind meistens sofort draußen. Sie sind sauber und können gehen. Wir müssen jetzt das Lokal entseuchen.“

Während Boyd schon zur Tür hinausstolperte, hatten sie bereits mit dem Versprühen eines feinen Dunsts aus einem Zerstäuber begonnen. Die vorigen Gäste hatten sich schon völlig zerstreut. Genaugenommen erlebte Boyd zum erstenmal den Anblick einer leeren Straße. Irgendwo in der Ferne sah er eben noch eine Figur verschwinden, und undeutlich glaubte er noch den Schrei „Blut!“ zu hören. Sonst war alles still.

„Boyd?“ Ellen schlüpfte aus einem Hauseingang heraus.

„Sind Sie in Ordnung?“

Er nickte. „Alles bestens. Danke, daß Sie auf mich gewartet haben. Was, um Gottes willen, ist hier passiert?“

„Kaum in dessen Willen“, erwiderte sie. „Das war ein Bluter. Hat er – hat er Sie berührt?“

Jetzt fiel ihm auf, daß sie sich in einiger Entfernung von ihm hielt. „Nein. Jedenfalls meinte der Doktor von der Entseuchungskolonne, daß ich nicht der Typ wäre – wissen Sie, was er damit sagen wollte? Und wieso muß entseucht werden?“

Entweder wollte sie nicht – oder aber sie konnte nicht darüber sprechen. Noch zögernd, dann aber all ihren Mut versammelnd, kam sie an seine Seite. Boyd ahnte, daß sie gemessen an ihrem Wissen um die Geschehnisse ungewöhnlichen Mut und Freundschaft bewiesen hatte, auf ihn zu warten. Er dachte kurz an das in seiner Tasche steckende blutige Taschentuch, vergaß es dann aber gleich wieder. Sie würde schon nicht mit ihm in Berührung kommen, falls diese ominöse Krankheit sich wirklich als ansteckend herausstellte.

„Passiert das öfters?“ erkundigte er sich.

Sie bejahte. „Sie leben in einem Getto. Manchmal sieht man welche blutend durch die Straßen ziehen. Aber lassen Sie uns nicht mehr darüber sprechen. Wollen Sie bitte so freundlich sein und mich nach Hause begleiten?“

Nirgendwo war ein Dreirad zu sehen, aber an der nächsten Ecke entdeckte er einen Rikschastand. Man hatte Boyd vor ihnen gewarnt, aber er verfügte, jetzt bei Nacht, über noch weniger Selbstvertrauen, das Mädchen sicher nach Hause zu bringen. Immerhin fühlte er sich aber reich: Das für das Essen bestimmte Geld würde offensichtlich jetzt nicht mehr kassiert werden.

Näher heran gekommen, sah ihn einer der Männer dort durchdringend an. „Hörte, drüben war’n Bluter. Stimmt’s, oder nicht?“

„Es stimmt. Es war einer da, aber es wird schon desinfiziert“, antwortete Boyd. „Ich habe Arbeit für Sie.“ Er nannte Ellens Adresse, die sie ihm zugeflüstert hatte, und dann seine eigene. „Was kostet die Hin- und Rückfahrt?“

Der Preis war niedriger als erwartet – zu niedrig, um ihn wiederum nicht argwöhnisch zu machen. Aber er mußte es darauf ankommen lassen. „In Ordnung“, sagte er schließlich. „Also, ihr fünf Fahrer hier habt heute abend bestimmt vom Restaurant drüben kein Geschäft mehr zu erwarten. Vorschlag: Macht es unter euch aus, wer uns fährt.“

Aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie – darauf hoffte er – eine rechtschaffene Wahl unter sich treffen, eine bessere jedenfalls, als wenn er blind jemanden herauspickte. Er erinnerte sich, gehört zu haben, daß die meisten Arbeiter Gauner in ihren eigenen Reihen verabscheuten.

Ohne Zögern bekam er zu hören: „Nehmen Sie Harry, den da.“ Der besagte Harry machte einen gutmütigen Eindruck. „Harry hat eben erst seine Schwester – zusammen mit ihren zwei Kindern – bei sich aufgenommen. An ’nem Abend wie heute braucht er’s besonders nötig.“

Alle waren einverstanden. Boyd half Ellen in das kleine Vehikel hinein und quetschte sich neben sie. Harry setzte sich daraufhin in einen Zuckeltrab, mit dem er mühelos mit jedem Dreirad Schritt zu halten imstande war. Außerdem saß man wesentlich bequemer. Harry hatte oben an seinem Hut eine winzige Laterne befestigt, die er aber nicht zu benötigen schien. Meist wählte er einen gut beleuchteten Weg und mied die Straßen, von deren Ecken nur schwache Laternen herableuchteten. Boyds Mut stieg, als er unterwegs einen Nachtwachentrupp freundlich die Hand heben sah – obwohl das nach allem, was er von anderen Trupps gehört hatte, nicht unbedingt als Zeichen für Sicherheit zu werten war.

Ellen saß anfänglich, auf Entfernung bedacht, in der anderen Ecke und beobachtete ihn heimlich. Jetzt aber entspannte sie sich und sah zum Himmel hoch, von dem die riesige Scheibe des Mondes auf sie herabschien. „Anders als mit zwei Monden, nicht wahr?“

„Man kann keinen der beiden Marsmonde sehen“, erklärte er. „Sie sind zu klein. Um die Wahrheit zu sagen, sehe ich diesen auch zum erstenmal. Ich muß sagen, er ist genauso, wie ihn all die Poeten beschrieben haben.“

„Alle nun auch wieder nicht“, wandte sie ein. Als er dann weiter nachforschte, um zu erfahren, was sie damit meinte, kicherte sie leise. Natürlich war der Mond oftmals bemüht worden, um alle möglichen romantischen Grillen zu erregen. Er lächelte in sich hinein. Das traf zwar nicht für Harry zu, ansonsten aber wurde das Mondlicht durchaus seinem Ruf gerecht. In seinem hellen Schein wirkten Ellens enganliegende Kleidung und ihre dunklen Augen ziemlich verführerisch auf ihn.

Als sie in eine schmale Gasse einschwenkten, rief Ellen Harry zu, hier anzuhalten. „Den Rest gehe ich zu Fuß“, sagte sie. „Ist nur noch ein halber Block. Auf diese Weise brauche ich nicht komische Fragen zu beantworten. Sie sind sehr nett gewesen, Boyd. Danke, daß Sie nicht – ich meine, daß Sie ein Gentleman geblieben sind.“

Sie beugte sich herüber und berührte seinen Mund leicht mit ihren Lippen.

Harry kicherte hinter ihr her, machte aber keinerlei Anstalten zur Weiterfahrt, bevor er sie nicht ein ziemlich heruntergekommenes Haus hatte betreten sehen. „Echt nette Frau“, sagte er zu Boyd. „Freundlich und nett. An die sollten Sie sich halten.“

Die Fahrt zu Boyds Wohnung beanspruchte weniger Zeit. Boyd kletterte heraus und langte in seine Tasche, um die vereinbarten drei Kilar zu bezahlen. Egal, dachte er dann und zog die sechs Zehn-Kilar-Noten heraus, die er ursprünglich für das Essen hätte entrichten müssen. „Ich habe heute abend Glück gehabt“, sagte er. „Hier, nehmen Sie, Harry, Sie können sicher mit Ihrer Schwester mehr damit anfangen.“

Harry starrte darauf und faßte sich dann an den Hut. „Gott sei mit Ihnen, Herr! Na klar, das wird uns helfen. Besser aber, ich teile den Rest mit meinen Kumpeln. Gute Nacht, Mister.“

Boyd ging nach oben auf sein Zimmer. Seit seiner Ankunft vom Mars hatte er sich nicht besser gefühlt. Ein rundum gelungener Abend.

Dann aber fiel ihm der arme Teufel von Kellner wieder ein, und er war aufs neue erschüttert. Auf der Erde wurde offenbar alles Gute überreichlich ausgeglichen durch etwas Schlimmes. Das blutige Taschentuch wickelte er in feuchtes Papier und legte es in eine Plastiktüte. Morgen im Labor ergab sich bestimmt eine Gelegenheit, es unter dem kleinen Normalmikroskop zu untersuchen.

Am nächsten Tag war er frühzeitig an seiner Arbeitsstätte, die Untersuchung der Blutflecken verriet ihm jedoch nichts. Das Blut war zu lange der freien Luft ausgesetzt gewesen. Er sterilisierte sorgfältig Hände und Instrumente und verbrannte das Tuch. Möglich, daß es eine ansteckende Krankheit gab, die solche Symptome hervorrief. Das mußte er später herausfinden. Menschen jedoch wie Tiere zu verjagen und sie in ein Getto einzusperren, aus dem sie nur noch zum Betteln herauskamen, war kaum der Weg, damit fertig zu werden. Seine Großmutter wäre über derartige medizinische Sitten entsetzt gewesen.

Als Ellen hereinkam, wandte er sich lächelnd zu ihr um, bis er ihr Gesicht sah.

„Wir sind alle gefeuert!“ erzählte sie. „Vater Pettys Bericht nach sind die Tests überzeugend gewesen. Man hat die gesuchte Hefepilzart gefunden, also werden wir jetzt nicht mehr gebraucht. Ich habe Ihnen ja erzählt, daß man Priestern nicht trauen darf.“

Später kam Firculo vorbei, um die Meldung zu bestätigen. Petty hatte den Schlußbericht abgegeben und den Betrieb bereits verlassen. Ohne seine Genehmigung aber durfte keinerlei weitere Forschungstätigkeit betrieben werden, obwohl Firculo den Mitarbeiterstab für ein weiteres Projekt zu behalten gehofft hatte. Jetzt war alles zunichte, und er mußte sich wieder ganz von neuem nach biologischen Forschungsarbeiten umsehen.

Boyd wurde klar, daß seine Pläne nicht nur hinsichtlich der Anerkennung seiner Verdienste gescheitert waren. Seine Arbeit hatte obendrein für die Vernichtung seines eigenen Arbeitsplatzes gesorgt. Ihm blieb nur noch eines: seine Instrumente einzusammeln und sich, den andern Laborangestellten möglichst aus dem Weg gehend, auf den Heimweg zu machen. Zwar fühlte er sich nicht persönlich für den Verlust ihrer Arbeitsplätze verantwortlich – wußte er aber, welchem merkwürdigen Ethos zufolge sie ihn vielleicht als Schuldigen ansahen? Sogar das erste selbstverdiente Geld seines Lebens vermochte ihn nicht über seine jetzige Stimmung hinwegzutrösten.