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Er schnitt das Thema später verschiedentlich neu an, stieß bei ihr jedoch einfach auf Ablehnung, es überhaupt zu diskutieren, oder sie speiste ihn mit nichtssagenden Antworten ab. Schließlich fragte er Ben Muller. Der Mann war offensichtlich weit stärker an seinem riesigen, altmodischen Mikroskop-Bildschirm als an theologischen Fragen interessiert, obgleich er, um Priester zu werden, wesentlich mehr Wissen über Kirchenfragen besitzen mußte, als Boyd es sich angeeignet hatte.

„Evangelisten?“ Ben schüttelte den Kopf. „Ja, hab’ schon von ihnen gehört, aber man hört mehr über das Wiederaufleben der Hexerei als über sie. Machen Sie sich wegen denen keine Gedanken. Sie sind lediglich eine unbedeutende Minderheitengruppe. Manchmal nennen sie sich selbst die Kirche des Ersten Gebotes.“

„Auch kranke Zellen sind zu Anfang Minderheitengruppen, Ben. Aber manchmal können sie den alten Zelltyp eines Organismus völlig verdrängen.“

„Die Evolution ist logisch, die Kirche dagegen nicht. Da wird sogar die Kirche selbst zustimmen. Man muß die Religion als gegeben nehmen, man kann sie nicht durch die herkömmlichen Sinne testen. Nein, es ist nicht viel los mit den Evangelisten. Sie repräsentieren lediglich ein paar fanatische Geistliche, die zwar einige sinnvolle Bräuche pflegen, um die sich allerdings kaum jemand kümmert. Die Kirche blinzelt ihnen gelegentlich zu, und die meisten von ihnen wachsen dann später zu guten Kirchengetreuen heran. Es ist eine bedauerliche Sünde, zu ihnen zu gehören, aber keinesfalls eine Todsünde, noch nicht einmal eine läßliche Sünde, je nachdem, wie man sich bei ihren Treffen verhält. Vergessen Sie sie am besten wieder.“

Ben kam erst einige Stunden später zurück und hockte sich auf den Tisch, während Boyd gerade seine Arbeit beendete, er markierte einen DNS-Strang in einer Hefezelle. Ellen befand sich in der Dunkelkammer, sie entwickelte einige Filme, die er gemacht hatte; so langsam wurde sie zu einer richtigen Spezialistin, was die Arbeit in der Dunkelkammer anbetraf.

„Spaßeshalber könnten Sie mich eigentlich mal nach der Religion fragen“, schlug er vor. „Hat man Ihnen noch nicht gesagt, daß ich der übelste Ketzer hier im Umkreis bin? Nein? Nun, das hätte man eigentlich tun sollen. Meine Eltern waren römisch, und ich wurde ebenfalls in dieser Konfession aufgezogen. Keine Chance für einen Jungen, es so zu etwas zu bringen, und nachdem ich das erst einmal herausgefunden hatte, konvertierte ich. Sie waren so gierig, mich zu bekommen, daß sie mir alle meine Wünsche erfüllten – besonders den nach einem freien Schulbesuch anstelle irgendeiner Arbeit, bei der ich mich hätte abrackern müssen und bei der ich nachts eingesperrt worden wäre wie ein Schwerverbrecher. Ich bin eine ganze Menge eklektischer als die Kirche, Boyd, und das wissen sie auch, wenn mein Vorgesetzter vielleicht auch das langsame Durchsickern einer gnädigeren Haltung erwartet. Fragen Sie mich nach der Kirchengeschichte, ich werde Ihnen alle Fragen beantworten. Aber wahren Sie das Dogma, sonst bekommen Sie nur die Antworten, die auf Examinationspapieren erwartet werden, es ist nämlich eine ganze Menge mehr dran an dieser Sache.“

Boyd beendete seine Markierungsarbeiten und trug seine Arbeiten in die Gen-Kontrollkarten ein. „Na schön, Ben. Wie ist es zu alldem gekommen? Ich dachte immer, Amerika hätte als antikatholisches Territorium begonnen. Wie kam es zu dem Wechsel?“

„Sie meinen Teile der Vereinigten Staaten – das alte Gebiet“, korrigierte Ben ihn. „Doch schon damals machte sich in Maryland und auch in einigen anderen Staaten ein zunehmender Katholizismus breit. Aber im großen und ganzen haben Sie recht. Die Mitte der Vereinigten Staaten und der Nordosten waren Hochburgen antikatholischer Ressentiments während des ersten Jahrhunderts oder so. Komisch. Niemand hatte eigentlich Freude an der Religion. In Europa, da war die Religion fest in den Seelen der Menschen verankert, und sie hatten sowohl am Leben als auch an der Religion Freude. Aber hier bei uns, da nahmen einige Leute ihren Glauben so ernst, daß der einzige Spaß, den sie sich in ihrem Leben gönnten, sich in der Gründung verrückter evangelistischer Bewegungen ausdrückte. Wie selbstverständlich entwickelte sich das bei ihnen zu Fanatismus.

Doch dann schlug die Woge um. Im zwanzigsten Jahrhundert begannen die Protestanten an Boden zu verlieren. Sie begannen katholische Präsidenten zu wählen. Die Katholiken setzten ihre Vorstellungen in den Stadträten und bald auch in der staatlichen Gesetzgebung durch. Die Protestanten manövrierten sich selbst in immer gemäßigtere Positionen, ihr altes Feuer erlosch, wenn man von einigen neueren evangelischen Bewegungen absieht.

Zu der Zeit, als der Bombenhagel begann, war dies ein katholisches Land. Und die Katastrophe konsolidierte nur noch, was sich bereits entwickelt hatte. Tatsächlich wurden wir zu dem katholischen Land überhaupt. Hinter dem Katholizismus stehen zwei Jahrtausende gutdurchdachter Philosophie, die verhindern, daß die Leute den Halt verlieren, und auf diese konnte man vorbehaltlos zurückgreifen. Daher haben sie gewonnen.

Doch einiges von dem Fanatismus, der Amerika regierte, griff auch auf die Katholiken über. Und dann kam Bonaforte mit seinen phantastischen Ideen und allen Verlockungen des Evangelismus daher. Und da haben wir es auch schon.“

Er sprang von dem Tisch herunter. Nach einer solchen Lektion wären die meisten Männer wohl verlegen und kleinlaut gewesen, nicht so Ben. Er ging einfach darüber hinweg.

„Kommen Sie mit zum Essen, Boyd. Sie machen sich viel zuviel ernste Gedanken über Dinge, an denen Sie doch nichts ändern können. Wenn die Evangelisten Ihnen noch immer zu schaffen machen, dann gehen Sie doch zu einem ihrer Treffen und überzeugen Sie sich selbst.“

Das wäre eine gar nicht so schlechte Idee gewesen, hätte Boyd auch nur die leiseste Ahnung gehabt, wie er mit den Evangelisten in Kontakt hätte treten können.

Doch die Arbeit ging gut vonstatten, sein Arrest zeigte keinerlei Folgen. Er hatte eine durchaus erfreuliche Position in den Laboratorien inne; zwar hatte er mit niemandem einen wirklich engen Kontakt, doch er wurde akzeptiert. Noch immer hatte er viel mit den Hefezellen zu tun, doch langsam bezweifelte er, ob man die Ergebnisse auch auf andere Zellen würde anwenden können. Doch es gab ihm die Möglichkeit, seine eigene Arbeit zu erledigen, anstatt den Experimenten anderer beiwohnen zu müssen. Und endlich, so fühlte er, begann er die dichtgepackten Informationen über die Zellen von Menschen und Säugetieren, die er in seinen Büchern studiert hatte, zu verstehen.

Eines Nachts war er gerade in seine Bücher vertieft, als Mrs. Branahan klopfte. Er hatte seit über einer Woche nichts mehr von ihr gehört, die Kinder weinten dagegen öfter und lautstark, was er immer mitbekam. Nun zögerte sie auf der Schwelle, ihre Hände zupften nervös die Falten ihres Kleides gerade. Sie schien zu glauben, die Tür zwischen ihren Zimmern sei noch immer vorhanden, vielleicht in einem unbegreiflichen, unsichtbaren Zustand.

Er fand noch einige Süßigkeiten, die er sich als kleine Zwischenmahlzeiten für seine nächtlichen Studien gekauft hatte, und verteilte sie unter den Kindern, die diese nahmen und sie ruhig und mit feierlichen Gesichtern verspeisten. Doch sie blieb noch immer linkisch unter der Türfüllung stehen. Als sie endlich sprach, tat sie dies in jenem Ton, den er schon allzuoft von armen Leuten gehört hatte, die zu jemandem in gehobener Stellung sprachen.

„Bitte um Vergebung, Doktor, doch ich frage mich schon die ganze Zeit … ich weiß, Sie haben Bedarf … ob Sie mir nicht etwas zahlen wollen, damit ich ausziehe und Ihnen beide Räume überlasse? Das würde eine hübsche, kleine Wohnung ergeben.“

„Ich möchte Sie nicht enteignen, Mrs. Branahan“, protestierte er. Doch dann sah er an ihrem Gesichtsausdruck, daß er ihr die falsche Antwort gegeben hatte. „Wenn Sie jedoch vorhaben auszuziehen, so bin ich gerne bereit, das Zimmer zu übernehmen, bevor jemand anders das tut. Wieviel?“

„Sagen wir – drei Monatsmieten?“ fragte sie. „Damit würden Sie mir einen großen Gefallen tun. Wissen Sie, ich habe wundervolle Nachrichten. Ich war guter Hoffnung, als mein Mann starb, wenn wir es auch beide noch nicht wußten. Ich werde also noch ein Kind bekommen. Aber ich werde nicht mehr arbeiten können. Ich habe meinem Onkel in Albany geschrieben, und er wird uns alle bei sich aufnehmen; wir müssen nur die Überfahrt selbst bezahlen.“

Das war mehr Geld, als er bisher verdient hatte, doch noch hatte er Rücklagen, und nun konnte er sich auch einige Extravaganzen leisten. Er füllte ihr eine Bankanweisung aus, nachdem sie ihm versichert hatte, sie könne das Geld abheben.

„Sie sind ein Engel, Doktor“, sagte sie ihm. „Ich werde das Zimmer so sauber zurücklassen, daß Sie es nicht glauben werden.“

Er ging zu seinem Buch zurück, doch es interessierte ihn kaum mehr. Zum Teufel mit dem elften Gebot und den Männern, die es den Gehirnen einer ganzen Hemisphäre eingebleut hatten. Wie konnte denn eine Frau, die vor kurzem zur Witwe geworden war und die kaum das Existenzminimum für sich und ihre Brut aufbringen konnte, sich angesichts der Geburt eines weiteren Kindes aufführen, als wäre das ein Anlaß zur Freude?

Er sah sie nicht wieder, doch sie ließ das Zimmer tatsächlich so sauber zurück, wie sie es versprochen hatte. Er fand, die Verdopplung seines Lebensraumes hatte das Gefühl, ein Zuhause zu haben, noch verstärkt. Pete machte ihm sofort Vorwürfe, dafür gezahlt zu haben, denn sobald sie ausgezogen war, hätte er sowieso das Erstmietrecht an dem Zimmer gehabt. Doch er bedauerte nicht, der Frau Geld gegeben zu haben.

Er legte sich nun auch noch einige andere Gepflogenheiten zu, die seine Lebenshaltungskosten in die Höhe trieben, doch alles bewegte sich noch immer in dem Rahmen, den er sich leisten konnte. Wie er herausfand, lag Ellens Block nicht allzuweit von seinem eigenen entfernt, und er arrangierte sich mit Harry, der sie von nun an beide regelmäßig von und zur Arbeit fuhr. Bei der wöchentlichen Rate, die Harry verlangte, schien es das mehr als wert zu sein, und Harry freute sich über diese regelmäßigen Einkünfte. Seine Schwester hatte sich von ihrem Ehemann getrennt und war wieder bei ihm.

Harry selbst bezahlte direkt und indirekt für das Gebot, dem die Priester selbst nicht folgten. Direkt war es die Bürde, Geld für Nahrung zu verdienen; indirekt mußte Harry eine Rikscha ziehen, obwohl sein Charakter und seine Intelligenz zu Höherem hätten führen müssen. Harry schien es nichts auszumachen, doch Boyds Ärger vermehrte sich dadurch nur noch.

Er hatte sich selbst in eine üble Stimmung gebracht, forciert durch die Tatsache, daß Ellen ausgegangen war, um ihren Halbbruder zu besuchen. Daher unternahm er einen Spaziergang, um seine Wut wieder loszuwerden. Er achtete kaum darauf, wohin ihn seine Füße trugen, schließlich sah er auf und fand sich zu seiner Überraschung hinter der Kathedrale. Die Macht der Gewohnheit war tatsächlich sehr stark. Achselzuckend wandte er sich wieder um, als Ben Muller auf ihn zukam. Abgesehen von der Verpflichtung, regelmäßig zu den Messen zu erscheinen, schien die Kirche kaum Anforderungen an ihre Priester zu stellen.

Ben schritt neben Boyd her. „Irgendein besonderes Ziel?“ fragte er. Nach Boyds verneinender Geste wandte er sich in eine der Seitenstraßen. „Dann könnten Sie eigentlich mit mir kommen, Boyd. Da ist ein lokales Spektakel, das ich gerne sehen würde. Ein Mann, der immer eine Riesenmenge mobilisiert – man nennt ihn den Blinden Stephan. Schon von ihm gehört?“

Boyd kam der Name irgendwie bekannt vor, doch er wußte nicht, wann er ihn schon einmal gehört hatte. Aber das spielte keine Rolle, im Moment war ihm alles, was seine Gedanken von dem üblichen Einerlei ablenken konnte, willkommen.

Ben erzählte ihm noch einige Einzelheiten. „Ich möchte Ihnen nichts über den Blinden Stephan erzählen“, sagte er. „Es wird genügen, wenn Sie ihn sehen. Doch einiges von dem Hintergrund ist allgemein bekannt, daher sehe ich nicht ein, warum Sie nicht auch Bescheid wissen sollten.“

Dieses Mal bekam er weitgehend eine geographische Lektion. Europa war größtenteils von Rußland wiederbevölkert worden, war aber weitgehend römisch-katholisch geworden. Die Bevölkerungszahl war hoch, das Leben hart, doch der Zuwachs reichte bei weitem nicht an den Amerikas heran. Afrika war an die Moslems gefallen und von Negern und Arabern bewohnt, nur spärlich besiedelt zwar, doch war das Land nun so geplagt von neuen Tropenkrankheiten, daß es kaum von irgendwelchem Nutzen war. Asien schien lokale Aberglauben zu pflegen, aber keine wirkliche Religion zu haben; dort war die Bevölkerungszahl schon immer hoch gewesen, nun war sie um etwa fünfzig Prozent höher als die Amerikas, eine wesentlich geringere prozentuale Zunahme. Südamerika war unter die Kontrolle des Nordkontinents gefallen.

„Was bleibt noch?“ fuhr Ben fort. „Richtig, Australien und Neuseeland könnte man noch anführen. Christliches Territorium, wenn auch nur teilweise dem amerikanischen Katholizismus vergleichbar. Aber vor etwa zehn Jahren hatten sie dort eine fürchterliche Pest. Und wenn ich fürchterlich sage, dann meine ich das auch. Fast die gesamte Bevölkerung starb, bis auf etwa ein Prozent, und diese Überlebenden starben in der Hauptsache bei dem Versuch, an den Küsten anderer Länder zu landen. Natürlich schafften einige die Landung und schleppten die Pest ein, doch wir hatten genug Zeit, um ein Serum zu entwickeln, das bei zwei Dritteln der betroffenen Fälle funktionierte. Damit und mit einer strengen Quarantäne wurden wir der Epidemie Herr. Seit jener Zeit ist Australien praktisch unbewohnt, doch einige Siedler berichteten, daß die Pest dort noch immer wütet. Wir haben kaum etwas dagegen unternommen. Die Asiaten wollen nun einen Plan entwickelt haben, um den Kontinent zu übernehmen.“ Er grinste. „Dabei ist es christliches Territorium.“

„Sie meinen, es besteht die Gefahr eines Krieges zwischen Amerika und Asien?“ fragte Boyd.

„Pah! Woher denn! Womit, vor allem? Kein Land kann es sich leisten, durch die Entwicklung von Fusionsbomben das Maximum der tolerierbaren Strahlung zu überschreiten. Und man kann eben keine Fusionsbombe ohne einen Uranauslöser bauen. Sicher, wir beziehen Energie aus Fusionskraftwerken, um Mineralien hinauf- und Luft in das Meer hinabzupumpen, und dabei bleibt genug übrig, um einige Küstenstädte mit Energie zu versorgen. Aber damit kann man keine Waffen bauen. Die Länder haben kaum etwas miteinander zu schaffen, sie können überhaupt keinen Krieg mehr führen. Das ist heutzutage eine lokale Angelegenheit geworden, für kleine Bubis mit Waffen, die man in Kurzwarenläden kaufen kann, Pfeil und Bogen und so. In dieser Hinsicht sind wir wieder auf der Stufe des alten Griechenland angelangt. Nein, nein, keine Kriegsgefahr.“

Inzwischen hatten sie die Ausläufer einer großen Menschenmenge erreicht. Ben drängte sich durch, wobei er sein Priestergewand benutzte, um sich und Boyd Durchgang zu verschaffen. Sie befanden sich auf einem großen Platz, wo sicher eines Tages eine weitere Kathedrale stehen würde. Man hatte eine große Bühne aufgebaut, Lautsprecher wiesen in jede Richtung. Auf der Bühne stand ein Mikrofon, doch hatte man auf jegliche Verzierungen und Ausschmückungen verzichtet. Die Menge wartete gespannt.

Plötzlich entstand eine Unruhe, und ein massiger Mann in mittlerem Alter bewegte sich auf die Plattform zu. Er war in eine grobe Kattunrobe gekleidet, die von einer Art Strick in der Mitte gehalten wurde, und er trug einen großen Schäferstab. Sein kahler Kopf glänzte, doch die untere Hälfte seines Gesichtes wurde von einem struppigen Bart verdeckt. Langsam und vorsichtig ertastete er sich den Weg die Stufen hoch und erklomm die Bühne. Seine Augen waren geschlossen, doch er bahnte sich mit sicherem Schritt den Weg zum Mikrofon und wandte sich der Menge zu. Dann öffnete er die Arme und hob seinen Stab. Ohne Einführung begann er zu sprechen.

„Ich bin gekommen, um den Tod über euch zu bringen. Ich bin gekommen, um Krankheit und Elend zu prophezeien. Ich bin gekommen, euch alles abzuverlangen, und verspreche doch nichts als Belohnung dafür. Ich bin gekommen, die alte Erbschaft von euch zu nehmen und die orientalischen Hunde zurückzutreiben, die auf uns und unseren Gott speien! Ich bin gekommen, die wahren Männer von denen zu scheiden, die nur aufrecht gehende Memmen sind, die Tapferen von denen, die die Übergriffe und die Geringschätzung der Asiaten widerstandslos hinnehmen.“

Die Worte bedeuteten nichts. Die Stimme dagegen war alles – die Stimme und das langsame konstante Dröhnen, das aus den Lautsprechern drang und die Worte des Mannes begleitete. Er wandte sein Antlitz dem Himmel zu, und es schien zu leuchten, als würde ein inneres Feuer die Luft um ihn herum erhellen.

„Großer Gott der Heerscharen, erhebe Dich, Du Richter dieser unserer Erde. Wie lange noch sollen die Gottlosen und die Heiden triumphieren? Sie verspotten Dein Volk und besudeln Dein Erbe. Sie sagen, es gibt keinen Gott und keine, welche bestehen können vor dem Herrn. Sie rotten sich zusammen gegen die Rechtschaffenen, sie verdammen die Gottesfürchtigen und die Unschuldigen. Sie verlachen Dein heiliges Tabernakel. Ich flehe zu Dir aus meiner Not. Wie lange, o Herr, willst Du den Heerscharen Babylons erlauben, zu gedeihen wie die grünen Bäume des Waldes? Du bist gerecht, o Herr, Du bist weise. Wer will sich erheben mit mir, den Bösen zu trotzen? Wer will sich erheben mit mir, den Übeltätern zu begegnen? Laß Deine Gnade leuchten über uns, mein Gott, und laß uns nicht verzagen. Denn Du bist der Gott der Rache und der Gerechtigkeit, und Dein Wille geschehe.“

„Psalm vierundneunzig und ein wenig Hokuspokus“, flüsterte Ben. „Hat überhaupt keine Bedeutung. Aber sehen Sie sich die Menge an.“

Boyd mußte seine gesamte Willenskraft aufbringen, um sein Gesicht von dem Mann auf der Bühne abwenden zu können. Er hatte gar nicht versucht, die Worte zu verstehen – einen Augenblick lang hatte es den Anschein gehabt, das Verstehen sei überflüssig. Nun aber, als der Mann seine Botschaft mit trauriger, leiser, eindringlicher Stimme fortsetzte, bemühte Boyd sich, auf den Sinn seiner Worte zu achten. Zuerst fiel ihm das sehr schwer. Vieles von dem, was der Blinde Stephan der Menge erzählte, war lediglich eine emotional übersteuerte Version der Tatsachen, die Ben ihm kurz zuvor mitgeteilt hatte. Dann aber, so subtil, daß es Boyd gar nicht auffiel, steigerten sich Sprachfluß und Tonfall, bis er wieder völlig von dem Redner gefesselt war. Boyd besann sich und schüttelte den Kopf. Neben ihm drehte Ben sich um und schickte sich an, das Gelände zu verlassen. Dieses Mal war es nicht so einfach, durch die Menge zu gelangen – alle schienen dem Redner an den Lippen zu hängen.

„Er predigt einen Kreuzzug“, meinte Boyd. „Er ruft die Leute auf, sich zusammenzuschließen und nach Australien zu gehen, sich dort niederzulassen, auch mit dem Risiko, die Pest zu bekommen, und die Gelben – die Asiaten – zu vertreiben.“

Ben stimmte zu. „Das tut er schon eine ganze Weile, und er macht es sehr geschickt. Es ist Ihnen wohl aufgefallen, wie sogar Sie selbst begannen, in seinen Rassenbegriffen zu denken. Er bietet den Menschen absolut nichts, er sagt ihnen nur, was sie ohnehin schon wissen, und doch fesselt er sie.“

„Aber werden sie mit ihm kommen, wenn er bereit ist?“

„Eine gute Frage. Ich glaube, er wird mehr Freiwillige haben, als er brauchen kann. Und das wird eine ganze Menge sein, denn er hat bereits den Einsatz der gesamten amerikanischen Planktonfischereiflotte angekündigt, um sie alle zu transportieren. Zudem erhält er finanzielle Beihilfe und Vorräte aller Art. Ich hörte, er soll einen Auftrag über fünf Millionen Aluminiumschwerter aufgegeben haben, und er bekommt sogar einige Gewehre.“

„Das hört sich an, als wäre die Kirche nicht gegen ihn eingestellt“, meinte Boyd.

„Himmel, sie sind solidarisch mit ihm! Er verdient sich seinen Lebensunterhalt hauptsächlich durch den Verkauf von Nachlässen, mit denen hierzulande die Sünden getilgt werden.“

Das paßte nicht zu dem Bild, das Boyd sich gemacht hatte. Er hatte geglaubt, nun endlich einem Evangelistentreffen beiwohnen zu können. Ben lachte, als er ihm das sagte.

„Ich nehme an, das ist Ihnen auch gelungen – das war Evangelismus einer Art, die man seit Petrus, dem Einsiedler, nicht mehr gehört hat. Doch haben wir es hier mit einem halboffiziellen Kreuzzug zu tun. Stephan war Weihbischof von Toledo, das ist nun zehn Jahre her – der jüngste Bischof im ganzen Land. Dann verschwand er. Als er vor zwei Jahren wieder auftauchte, war er blind und verfügte über seine faszinierende Rednergabe. Niemand weiß, wo er war. Manche sagen, in Australien – dann lacht er und behauptet, er sei auf der Halbinsel Sinai gewesen.“

Sie waren nun ganz in der Nähe der Kathedrale, Ben wandte sich ostwärts, während Boyd wieder seiner Wohnung zustrebte. Sinai? Er dachte eine Weile darüber nach, bis ihm aufging, daß das der Ort war, wo Moses mit Gott gesprochen hatte und mit einem seltsamen Leuchten seines Gesichtes zurückgekehrt war. Er erschauerte und verfluchte sich selbst. Wenn er noch eine Weile hier lebte, würde er genauso abergläubisch werden wie alle anderen auch.

 

 

Er rief hinauf zu Ellen, als er unter ihrer Wohnung vorbeikam, und sie kam sofort heruntergerannt. Sie hatte diesen roten Nylonanzug noch nicht gekauft – und würde das auch nicht tun, wenn er es verhindern konnte –, doch sie hatte ein neues Kleid an und sah ungewöhnlich hübsch aus. Das sagte er ihr auch. „Etwas Besonderes?“

Sie nickte. Sie war mit irgend etwas beschäftigt, das sah er sofort, was bedeutete, er würde mit ihrer Stimmung wahrscheinlich nicht zu Rande kommen, bis sie mit der Sprache herausrückte.

Doch sie überraschte ihn. „Ich gehe zu einem Evangelistentreffen, wenn du es unbedingt wissen willst.“

„Ich dachte, du wolltest heute morgen in die Kirche.“

„War ich.“ Sie lachte zu sehr gekünstelt. „Das war etwas Geistliches. Dies ist – nun, es ist anders. Es ist natürlich auch etwas Geistliches, aber es ist mehr …“

„Mehr physisch“, beendete er den Satz für sie, und sie nickte. Stirnrunzelnd dachte er darüber nach. Vielleicht war es nur so eine Hokuspokus-Prozession, wie das Ding mit der Figurine. Doch er verspürte trotzdem ein leichtes Unbehagen. „Ellen, ich glaube, du solltest das nicht tun. Natürlich geht es mich eigentlich nichts an. Aber ich wünschte, du würdest die Evangelisten vergessen.“

Sie setzte sich auf die Stufen, nicht ohne zuvor sorgfältig Staub und Schmutz weggewischt zu haben. Der Stoff des Kleides folgte ihren Bewegungen und liebkoste ihren Rücken und ihre Beine. Einen Augenblick lang konnte man ihren Oberschenkel sehen. Sie errötete etwas, richtete aber sofort den Rock wieder.

„Sie sind sehr vorsichtig bei den Evangelisten“, sagte sie. „Sie nehmen niemanden, der verheiratet ist. Noch nicht einmal jemanden, der verlobt ist.“

Wenn das als Beruhigung für ihn gedacht war, hatte es nicht den gewünschten Erfolg gehabt. „Vergessen wir doch die Evangelisten“, schlug er vor. „Rufen wir Harry und suchen wieder ein hübsches Lokal. Ich glaube, wir sind beide in der Stimmung für ein kleines Fest.“

„Nein.“ Sie stand auf und strich ihr Kleid zurecht. „Ich hätte doch den roten Nylonanzug nehmen sollen.“ Sie klang, als wäre es eine größere Tragödie, daß sie ihn nicht gekauft hatte. Doch dann schien ihre Stimmung plötzlich umzuschlagen. Das allzu gekünstelte Lachen kam wieder über ihre Lippen.

„Boyd, ich habe mich anders entschieden. Wenn du dich ruhig verhältst – wenn du unvoreingenommen zuhörst und nicht zornig wirst –, dann werde ich dich zu dem Treffen mitnehmen. Versprichst du mir das?“