12

 

 

 

Die Dämmerung war gerade angebrochen, als Boyd mit den Worten geweckt wurde, Bonaforte wolle mit ihm frühstücken. Seine erste Ablehnung verschwand sehr bald, als er erfuhr, daß zu der Einladung auch ein dringend benötigtes Bad gehörte, bevor er durch ein Labyrinth von Korridoren zu den Privatgemächern des Erzbischofs hoch im Hauptgebäude geführt wurde.

Markoff, Jiminez und einige Untergebene waren ebenfalls anwesend; sie unterhielten sich über die Vorbereitung einer speziellen Messe und die Ernennung von Jiminez zum Ritter von St. Bonaforte. Wie Boyd mitbekam, war das eine ganz besondere Ehre, die nur ganz wenigen vorbehalten blieb und die sehr viele Rechte und Privilegien mit sich brachte. Offensichtlich war diese Ehre auch auf Gläubige beschränkt, was ihn ausschloß. Jiminez konnte nichts essen, er war viel zu nervös. Bonaforte knabberte an Toast und Marmelade, doch Boyd hatte keine Lust, die ersten richtigen Eier, die er auf der Erde sah, zu vergeuden. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Essen zu, bis die anderen sich anschickten zu gehen. Dann erhob er sich ebenfalls, doch der Erzbischof hielt ihn zurück.

„Wir haben eine Tradition, Gläubige zu belohnen“, sagte Bonaforte, als sie allein waren. Er sah aus, als habe er nur sehr wenig Schlaf bekommen, doch seine Augen waren klar und kühn. „Aber was, Boyd Jensen, was sollen wir mit Ihnen anstellen?“

„Ich habe niemals eine Belohnung für meine Arbeit erwartet“, sagte Boyd ihm.

„Nein, das weiß ich.“ Bonaforte beugte sich nach vorn und hob eine schwere Silberkanne, um Boyds Tasse wieder zu füllen. Seine trockene Stimme war merkwürdig sanft, als er wieder zu sprechen begann. „Es gibt hier in meiner Kapelle einen baptistischen Taufstein. Sie würden später natürlich Instruktionen benötigen, doch ich könnte Sie binnen einer Stunde zum Ritter machen.“

Dieses Angebot beinhaltete wahrscheinlich eine ebenso große Ehre wie der Titel selbst, doch Boyd schüttelte bestimmt den Kopf. „Ich fürchte, ich würde mich in keinem Zustand der Gnade befinden, was auch immer Sie mir bieten.“

„Sie sind ein halsstarriger Narr, aber wenigstens sind Sie ehrlich.“ Kurz huschte ein Schatten des Ärgers über die Züge des alten Mannes. Dann kicherte er leise und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. „Also gut – was wollen Sie?“

„Was ich wollte, seit ich hier ankam – eine Chance, zum Mars zurückkehren zu können!“

„Dort wird man Sie nicht zurückhaben wollen“, warnte Bonaforte ihn.

„Das ist mein Problem. Schaffen Sie mich auf eines der automatischen Schiffe – ich werde das Risiko eingehen, daß ich auf dem Mars Schwierigkeiten bekomme.“ Es war sinnlos, das erklären zu wollen, zumal sich Boyd seiner eigenen Gründe nicht allzu sicher war. Gegen die Chance auf sinnvolle Arbeit und Ehre hier bot der Mars nicht einmal das Akzeptiertwerden in seiner eigenen Kultur der mentalen und physischen Überlegenheit. Doch noch immer bestand die Notwendigkeit der Gerechtigkeit – und des Entkommens von der Erde.

Offensichtlich fand Bonaforte diese Bitte nur schwer verständlich, denn er runzelte kaum merklich die Stirn, als er Boyd musterte. Dann seufzte er leise. „Nun gut. Unsere Geschäfte mit dem Mars sind unter O’Neills Jurisdiktion, aber ich werde mit ihm sprechen.“ Achselzuckend legte er das Problem ad acta und erhob sich, um anzuzeigen, daß die Audienz beendet war.

Er hatte kein wirkliches Versprechen abgegeben, erkannte Boyd, als er zu seinem Quartier zurückgebracht wurde. Das hatte er allerdings auch nicht erwartet; die Erde benötigte jeden kompetenten Zytologen, dessen sie habhaft werden konnte, und man würde ihn kaum so leicht freigeben. Vielleicht war er ein Narr gewesen, die hilfreiche Hand zurückzuweisen, doch etwas in der Art des alten Erzbischofs hatte ihn gezwungen, ehrlich zu sein.

 

 

Ben und die anderen von der Kathedrale der Barmherzigen Mutter waren bereits zurückgeschickt worden, und das meiste von Boyds Ausrüstung war ebenfalls weg. Er suchte seine paar persönlichen Sachen zusammen, während er sich fragte, ob er seinen Rückweg selbst finden mußte. Markoff kam wenige Minuten später und schüttelte den Kopf bei Boyds Frage. „Sie kehren noch nicht zurück. Seine Heiligkeit möchte Sie auf eine Mission schicken, wenn Jiminez Ritter geworden ist, um peinlichen Fragen aus dem Weg zu gehen. Er wird Sie daher bitten, mit Ihrer Viruskultur nach Frisco zu gehen. Das sieht auch sinnvoll aus. Wir werden die Planktonfelder mit beiden Flotten angehen müssen, und Sie sind der denkbar geeignetste Mann, um die Laboratorien an der Westküste bezüglich der Kultur zu instruieren.“

Boyd verbrachte den Rest des Morgens mit Markoff. Gemeinsam gingen sie in den Laboratorien umher und unterhielten sich über die Unterschiede der zytologischen Entwicklungen auf dem Mars und auf der Erde. Der Bischof wurde auf beiden Planeten als ein großartiger Wissenschaftler geachtet, doch er behandelte Boyd wie einen Gleichwertigen, und dieser genoß das. Es war die erste Erfahrung uneingeschränkten Akzeptiertwerdens und vielleicht auch die letzte. Der Mars würde seine Fähigkeiten sicherlich niemals zur Kenntnis nehmen. Dann kam das Fahrzeug, das ihn zum Flughafen brachte. Die lange Fahrt durch die überfüllten Straßen, die sich jenseits der Mauer der großen Kathedrale erstreckten, ließ die Freude des Gesprächs mit Markoff allerdings rasch wieder in Vergessenheit geraten.

Der größte Teil des Flugzeugs war angefüllt mit Fracht, lediglich ein Sitz neben dem jungen Piloten war frei. Dieser erlaubte allerdings einen exzellenten Blick über das Land, und sie flogen niedrig genug, um alle Details erkennen zu können, zumal sie sich mit weniger als dreihundert Meilen pro Stunde bewegten. Mit einem derart geringen Luftverkehr, erfuhr Boyd, war das Steuern eines Flugzeuges wieder hauptsächlich eine Erfahrungssache und hing mehr von Landemarken als von der Navigation ab. Es gab keinen Kopiloten, und das einzige, was man bei schlechtem Wetter tat, war, zu landen und zu warten, bis es vorüber war. Wie so viele Berufe mit Geschick und Fingerspitzengefühl war auch der des Piloten eine zum Teil vererbbare Begabung.

Sie überflogen die kahlen, entblößten Appalachen und sanken in das Ohiotal hinein. Jeder Quadratzentimeter des Bodens schien kultiviert, in Terrassen angelegt und in kleine Felder aufgeteilt zu sein. Von Larkin, dem Piloten, erfuhr Boyd, daß die meisten anfallenden Arbeiten von Hand erledigt wurden, von den ganz großen Gütern mal abgesehen; Zugtiere fraßen zuviel, und motorgetriebene Ausrüstung stand außer Frage, wenn der Besitzer nicht gerade Kongreßabgeordneter war.

„Die Parasiten von der Regierung und die Mönchskloster werden eines Tages alles besitzen“, sagte Larkin, als sie über ein Gut hinwegflogen, das sich über viele Meilen erstreckte. „Mein Großonkel war ein Farmer. Er hatte ungefähr 8000 Ar drüben in Kentucky und fünf Söhne, an die er es verteilen wollte. Als er starb, bekamen seine Kinder vierhundert Ar. Mit den Kosten für die Fruchtbarmachung können sie so gerade über die Runden kommen. Aber teilen Sie mal vierhundert Ar durch fünf. Das wird nicht funktionieren. Daher wird die nächste Generation das Land an ein Gut verkaufen, und die Kinder ziehen in die Stadt.“

Einmal gingen sie in der Nähe eines Flusses tiefer, wo Frauen mit Handpumpen das Wasser in die Bewässerungskanäle pumpten. Das Ganze sah aus wie ein Fresko aus dem alten Ägypten. Wie man sehr deutlich sehen konnte, wurde das Land in regelmäßigen Abständen überflutet, wie auch das Land am Nil. Es gab inzwischen zu wenig Bäume, die die Regenfälle im Frühling aufsaugen konnten, und zudem verlief der Ruß größtenteils unkontrolliert, abgesehen von einigen nutzlosen Uferbefestigungen und Dämmen. Er erinnerte sich, über die große Missouri-Flut gelesen zu haben, bei der siebzehn Millionen ihr Zuhause verloren hatten.

Larkin nickte als er das erwähnte. „Ja, das war hart. Man konnte monatelang nicht dort landen. Überall lungerten Plünderer herum, und so ein Flugzeug hat schon Teile, die ihr Geld wert sind. Dann gerieten Typhus und Dysenteriefieber außer Kontrolle. Aber inzwischen ist vieles wieder in Ordnung gebracht worden. Wir werden nördlich von St. Louis landen, um aufzutanken; dann können Sie einiges davon mit eigenen Augen sehen.“

Auf dem Feld sah er dann allerdings nicht viel mehr als trockenen Schlamm. Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, rannten einige Männer aus dem Hangar zum Rande des Feldes. Jeder Mann trug ein Gewehr. Andere sprangen zum Heck des Flugzeuges und warteten nicht einmal, bis der Tankwagen seinen Schlauch mit dem Tank des Flugzeuges verbunden hatte. Ein Priester rannte zur Flugzeugtür, und Larkin öffnete.

„Was ist denn los?“ schrie er und griff nach dem Starthebel. „Ich dachte, Sie hätten dieses Gebiet gesäubert!“

„Lassen Sie den Motor laufen!“ Der Priester kletterte herein, seine Robe wurde von den Propellern wild aufgebauscht. Er schien Angst zu haben, seine Hand griff ständig nervös nach seinem Kruzifix. Seine Stimme klang heiser und gestreßt. „Das ist Hexerei. Es muß Hexerei sein, die die Banden organisiert. Sie haben unseren Versorgungslastwagen gestohlen und gestern nacht meine Kasse aufgebrochen. Sie müssen in Topeka noch einmal auftanken.“

Er konnte es kaum erwarten, bis Larkin eine Quittung für den empfangenen Treibstoff unterschrieben hatte. Dann lief er zurück zum Hangar.

„Hexerei?“ fragte Boyd. Er hatte davon schon häufiger reden gehört, doch wirkliche Informationen hatte er nicht.

Wie jeder andere auch umging Larkin die Frage. „Vielleicht. Es gibt Gerüchte über eine Neuorganisation der Hexen. Vielleicht ist das aber auch alles nur Humbug. Manchmal werden sie nach einer Katastrophe ungemütlich, einige werden nie wieder seßhaft. Nehmen Sie doch einmal einen Mann mit Kindern, hungernd und krank …“

 

 

Gewehrfeuer unterbrach seine Worte. Boyd konnte nicht genau sehen, worauf die Wachen schossen, doch einige in Lumpen gekleidete Gestalten rannten auf das Feld zu. Das Gewehrfeuer hielt an, zwei der Gestalten fielen, der Rest wandte sich plötzlich zur Flucht. Es schien sich ausnahmslos um Kinder im Alter zwischen zehn und fünfzehn Jahren zu handeln.

Dann folgte ein metallenes Klingen, der Schlauch wurde gelöst, und Larkin griff nach dem Starthebel. Nach minimaler Anrollzeit zog er das Flugzeug in die Luft und stieg rasch höher.

Die weitläufigen Gebiete waren eine seltsame Mischung aus Terrassen, Bewässerungsgräben und Wüste. Gewaltige Wasserrinnen und Arroyos teilten das Land, Staub und Sand fingen sich in eigens zu diesem Zweck angelegten Zäunen. Die Menschen kämpften nun gegen die Folgen einer generationenlangen Fehlbehandlung der Erde, doch Boyd vermochte nicht genau zu sagen, ob sie langsam gewannen oder verloren. Sie wandten sich nordwärts, um einem Sandsturm auszuweichen, und dort sah es ein wenig besser aus, es gab mehr Ströme, die man gestaut hatte, wodurch kleine Seen entstanden waren. Sie tankten wieder in einer kleinen Stadt, doch ihr Name hatte keine Bedeutung für Boyd, zudem die Nacht hereingebrochen war und er kaum etwas sah. Von hier bis zur Landung in Frisco verbrachte er die meiste Zeit damit, vor sich hinzudösen.

Frisco war den Bomben durch Zufall entkommen, doch dieser Segen hatte sich schon lange als Fluch erwiesen. Die Stadt war übersät mit den Ruinen alter Gebäude und den Überbleibseln von Wolkenkratzern. Alles war sorgfältig zusammengeflickt worden, doch einige Erdbeben hatten den Eindruck, diese Reparaturen würden den Gebäuden eine gewisse Standfestigkeit verleihen, bereits wieder verwischt. Rund um den großartigen Hafen war die Stadt unglaublich verfallen und formlos, sogar die Laboratorien waren schäbig und uralt. Der Raum, in dem Boyd vor zwanzig Zytologen und Technikern die Handhabung seiner Kulturen erläuterte, hatte weitläufige Sektionen, die rot markiert waren, um anzudeuten, daß Einsturzgefahr bestand. Er hätte sich ein besseres Bild von der Stadt gewünscht, doch mit jeder verstrichenen Stunde sank sein Interesse. Er sehnte bereits den nächsten Tag herbei, wenn er zu der Umgebung, die ihm inzwischen etwas vertraut geworden war, zurückkehren konnte.

Der Speisesaal der Hotelbruchbude, die er bewohnte, war ziemlich leer, und er konnte einen Tisch nahe am Fenster ergattern. Er beendete gerade seine Mahlzeit, als ihn ein Schatten aufblicken ließ.

Neben dem anderen Stuhl stand ein großer, alter Mann, in eine einfache, grüne Robe gekleidet. Das Haar des Priesters war weiß, sein Gesicht unglaublich zerfurcht, doch seine Augen waren erstaunlich klar – klar und bitter. Er verbeugte sich förmlich. „Dr. Jensen, würden Sie einem alten Mann die Ehre antun, eine Flasche Wein mit ihm zu trinken – guten Wein aus meinem eigenen Anbau?“

Und schon standen eine staubige Flasche und zwei Gläser auf dem Tisch. Nach Boyds unschlüssigem Nicken nahm er auf dem anderen Stuhl Platz und schenkte eine dunkelrote Flüssigkeit ein. Dann hob er einen der Kelche. „Hal kaor“, sagte er leise. „Der alte, legendäre Gruß unter Marsianern!“

Boyd stürzte den Wein förmlich hinunter, und von den wundervollen Geschmackseindrücken, die seine Nase empfing, merkte er kaum etwas. Seine Augen glitten zu dem ausgestreckten Arm, wo eine verblaßte Tätowierung das Symbol MX227 zeigte.

„Sie haben mich vor über fünfzig Jahren vom Mars fortgeschafft. Ja, Dr. Jensen, ein paar überleben sogar hier, obwohl die anderen meiner Meinung nach schon alle tot sind. Aber davon möchte ich lieber nicht sprechen.“

Boyd nickte und hielt die Fragen, die sich in seinem Kopf anstauten, zurück. „Natürlich, Vater …“

„Epstein. Vater Epstein. Ich wurde auf dem Mars zum Ökologen ausgebildet. Daher mußte ich hier notwendigerweise ein Priester werden. Denn sogar das ist möglich – wenn auch nicht ganz einfach. Aber nichts hier ist einfach.“ Einer seiner Mundwinkel hob sich gezwungen, dann machte er eine Geste der Gleichgültigkeit. „Was dachten Sie über unseren Planeten, auf Ihrer Reise vom Osten hierher?“

„Ich habe nicht besonders viel gesehen. Und das meiste, das ich sah, ergab keinen Sinn für mich“, gab Boyd zu.

„Da waren Sie vielleicht ganz glücklich dran“, sagte Epstein zu ihm.

Der alte Mann füllte erneut die Gläser und wandte seinen Blick langsam zum Fenster. Seinem Blick folgend, bemerkte Boyd erstmals, daß sie sich auf einem erhöhten Punkt befanden, von dem aus man die meisten anderen Hügel der Stadt überschauen konnte, deren gelbe Lichter sich zum Ozean und der Bucht hin verloren.

„Ich will erheben meine Augen zu den Hügeln, von welchen meine Hilfe kommet“, zitierte Epstein leise. Dann seufzte er. „Aber es gibt keine Hilfe mehr für die Rasse der Menschen. Die Berge sind ihres natürlichen Schutzes beraubt, und ihre Substanz rinnt hinab mit den unkontrollierten Regenfällen und ergießt sich in die Täler und begräbt sie unter sich. Der Büffel und der Wolf sind aus den Savannen verschwunden, ebenso wie das Gras, das hier einst wuchs, trockener Staub ergießt sich wie eine zermalmende Flut über alles, zur Freude des Windes, welcher ihn aufwirbelt. Der Puma bewohnt nicht mehr seine Höhle, der Horst des Adlers ist verlassen. Die natürlichen Feinde sind ausgestorben, und ohne diese säugen die Herden die schwachen Tiere unter ihren Jungen, um noch mehr Schwache hervorzubringen, bis kein Tier mehr lebensfähig sein wird. Ich liebte diesen Planeten, lange bevor ich hierherkam, Dr. Jensen. Ich bewundere ihn noch immer für das, was er war. Ein Wunder des Himmels, diese Welt, dieses Eden, das dem Menschengeschlecht geschenkt wurde. Doch was die Menschen getan … Verzeihen Sie mir, ich gerate ins Schwätzen. Das ist eine Untugend des Alters.“

Boyd schüttelte rasch den Kopf. „Bitte fahren Sie fort. Sie meinen, der atomare Holocaust hat das alles verursacht?“

Er war sich dessen bewußt gewesen, daß gewisse Veränderungen stattgefunden und die Mutterwelt ruiniert hatten, doch das Wissen darum hatte er sich in kleinen, seltsamen Stückchen aus Büchern sowie aus seinen flüchtigen Eindrücken während des Fluges zusammengetragen. Er hatte auf dem Mars niemals einen Ökologen getroffen; dort war die Aufgabe, eine stabile Balance herzustellen, gelungen, man brauchte keine unnötigen Gedanken mehr daran zu verschwenden.

„Der atomare Unfall?“ Epstein schüttelte den Kopf, die Bitterkeit in seinen Augen machte sich in seinem gesamten Gesicht breit. „Nein, Dr. Jensen. Jener segensreiche Unfall könnte das einzige Ereignis sein, das der Erde diese winzige Chance gab, die sie nun noch hat. Zuvor gab es mehr als sechs Milliarden Menschen, die das Recht des Hungers nach Technologie für sich in Anspruch nahmen, sie konsumierten Energie und Materialien auf einer Welt, die vielleicht – vielleicht, nicht sicher – die Ansprüche einer halben Milliarde technologisch geprägter Menschen hätte erfüllen können. Doch das Atom, die Katastrophe, beendete diesen Zustand. Eine Generation nach dem Unfall lebten weniger als einhundert Millionen hier – mit einer Technologie, die weit unter dem Maximum lag. Das genügte natürlich nicht, um die Erde wiederaufzubauen, dazu vermehren die Menschen sich zu schnell; doch es gab wenigstens eine Verschnaufpause und eine gewisse Erholung.“

„Aber, was hat dann …?“

Epstein hielt seinen Wein gegen das Licht und betrachtete das Farbenspiel. Dann nippte er ihn langsam leer und füllte die Gläser erneut. Seine Augen begegneten denen Boyds, er zuckte die Achseln.

„Dummheit, Habgier, fehlgeleitete Aggression – summieren Sie all das und nennen Sie es Mensch. Hauptsächlich aber war es Mangel an Zeit. Vierzig Jahre vor der Katastrophe schien es keine Gefahren zu geben. Als das Desaster erkannt wurde, hatte man bereits zwanzig wertvolle Jahre verloren. Da war es schon an der Zeit für ein sofortiges Handeln, doch die Menschen mußten wieder weitere Jahrzehnte warten, bis eine vollkommen neue Generation herangewachsen war, die sich der Gefahren bewußt wurde. Da aber wäre es, ohne den Unfall, zu spät gewesen. Selbst das Wetter und die Ozeanströmungen veränderten sich.“

Erneut zuckte er die Achseln, seine Augen wanderten zum Fenster. „Die Wölfe und die großen Katzen wurden von Männern getötet, die sich selbst Sportler nannten – Männer, die mit schweren Waffen aus großer Entfernung feuerten, aus keinem anderen Grund als dem Willen zu töten, obwohl manche sich für wahre Naturbewahrer hielten und glaubten, sie würden die Schwachen vor ihren übermächtigen Feinden beschützen. Ich habe ihre Propaganda gelesen – oder das, was davon geblieben ist. Das Land wurde von Farmern angebaut, die leben wollten und die die hungrigen Massen fütterten, auch jenseits dieser Ufer. Es gab mindestens tausend Spezies winziger Geschöpfe, die nicht mit den chemischen Düngern leben konnten, die die Menschen zur Fruchtbarmachung ihres Bodens verwendeten – und kein Boden kann gesund bleiben ohne diese Geschöpfe, die ihn bearbeiten. Das alles steht in Büchern, die Sie in den Bibliotheken der Kathedralen lesen können. Lesen Sie unter dem Stichwort Umweltverschmutzung nach.“

Boyd konnte fühlen, wie der Wein langsam Wirkung zeigte. Bisher war es ein durchaus erfreuliches Gefühl, ungeachtet der unheilschwangeren Worte, die er hatte hören müssen. Er nippte erneut, wobei er das Gefühl genoß, bei jedem Schluck neue Geschmacksrichtungen feststellen zu können. Auf dem Mars gab es keinen Wein, und er kannte bislang lediglich die süßen Liköre, die es in New City gab.

„Aber, Vater Epstein, das alles müßte doch der Kirche sicherlich bekannt sein.“

„Es ist bekannt, mein Sohn. Ich selbst habe den gegenwärtigen Erzbischof in einer meiner Klassen unterrichtet, und er war ein guter Schüler – einer der besten.“

„Doch Sie sagten, sechs Milliarden Menschen hätten diesen Planeten ruiniert. Nun leben hier etwa fünfzehn Milliarden – und noch immer propagieren sie ihr geheiligtes elftes Gebot!“

Epstein schüttelte kichernd den Kopf. „Sie sind noch immer ein Marsianer, mein Junge. Auf dem Mars ist alles so einfach.“

„Aber auch Sie waren einst ein Marsianer, Vater Epstein“, protestierte Boyd.

„Aber das ist schon fünfzig Jahre her. Und in der Zwischenzeit hatte ich eine Priesterausbildung, hier auf der Erde.“ Der alte Mann hob eine überraschend kräftige Hand und legte sie kurz auf Boyds Arm. „Mit der Zeit verschwindet die Tätowierung – wenn Sie Glück haben und genug Zeit. Sehen Sie, ich habe Ihnen Sorgen gemacht mit Dingen, die ich eigentlich gar nicht sagen wollte. Machen Sie das abendliche Sich-Gehenlassen eines müden, alten Mannes dafür verantwortlich, der endlich einen willigen Zuhörer gefunden hat – oder zumindest einen freundlichen. Prost.“

Boyd hob das Glas an die Lippen. Der Raum schien irgendwie nicht mehr so stabil zu sein, er bemerkte, daß er leicht angetrunken war, wenn er auch an dem gegenübersitzenden Priester keinen solchen Effekt ausmachen konnte. Vielleicht fehlte ihm nur die Erfahrung. Er nahm einen größeren Schluck, während er darüber nachdachte. Vielleicht hätte er, damals, am letzten Abend mit Ellen, auch Wein trinken sollen. Vielleicht hätte er sie dann bitten können, ihn zu heiraten. Oder, wenn sie getrunken hätte … Er spekulierte nachdenklich mit diesen Gedanken; nur mit halbem Ohr hörte er zu, was Vater Epstein zu sagen hatte, doch einige Brocken davon blieben trotzdem hängen.

Irgendwie ging es um das Gleichgewicht zwischen Population und dem technologischen Stand; ein Amerikaner vor der Katastrophe hatte mehr Energie und mehr Materialien verbraucht als dies vielleicht hundert vor der Domestikation der Tiere taten.

Er führte aus, daß die gegenwärtige Population irgendwie wesentlich weniger gefährlich sei als die vor dem Holocaust, denn die Abfallproduktion sei wesentlich geringer.

In diesem Augenblick tauchte er kurz aus dem Nebel auf. „Aber das wird nicht auf diesem Niveau bleiben. Nicht mit dem elften Gebot. Sie werden nicht aufhören, selbst dann nicht, wenn es hundert Milliarden gibt.“

Epstein schüttelte den Kopf. „So weit wird es gar nicht kommen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lassen die Umstände die Sterberate fast ebenso hoch sein wie die Geburtenrate. Früher oder später pendelt sich alles auf einem bestimmten Niveau ein. Oh, wenn das Projekt Australien klargeht, dann werden wir vielleicht eine Population von insgesamt zwanzig Milliarden erreichen. Aber jenseits davon … Je mehr Kinder geboren werden, desto schlechter werden die äußeren Umstände werden – was die Sterberate in die Höhe treibt und die Bevölkerungszahl wieder sinken läßt.“

„Aber die Elendsrate wird ihr Maximum erreichen.“

„Vielleicht, Dr. Jensen, vielleicht. Doch auch das Leben der paar hundert Australopithecinen, die einst die gesamte Population gebildet haben, war ziemlich elend. Wie auch immer, Bonaforte ist ein kluger und weitsichtiger Kopf. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich meine, dieser Teil des Planeten ist in einem etwas besseren Zustand als damals, als ich das erste Mal hierherkam. Schließlich gehen unsere gesamten Abwässer auf das Land zurück und verunreinigen nicht die Flüsse; und der Alkohol, den wir verbrennen, produziert lediglich Kohlendioxid und Wasser, das die Pflanzen wieder verwerten können. Verlieren Sie nicht den ganzen Glauben, mein Junge.“

„Sie reden wie ein Priester“, rief Boyd, und wie er sofort erkannte, war sein Ton fast so bitter wie der Ellens.

Epstein lächelte sanft. „Kein sehr guter, fürchte ich, denn ich muß Ihre Beruhigung Ihrem Beichtvater überlassen. Sie sind ein sehr junger Mann – die Zeit und ein paar eigene Kinder werden auch Ihren Standpunkt verändern.“

„Ein großartiger Ratschlag – von einem Mann, der niemals ein eigenes Kind hatte“, sagte Boyd scharf.

„Es ist trotzdem ein guter Rat“, antwortete der alte Mann. Er kippte die Flasche und beobachtete, wie der Wein in sein Glas floß. „Zudem habe ich einen Sohn – einen Jungen, den ich adoptiert habe, als ein Freund starb und ihn im Alter von vier Jahren meiner Obhut überließ. Das wurde mir erlaubt. Tatsächlich bin ich vor allen Dingen deswegen mit meinem Fläschchen Wein gekommen. Ich habe noch immer meine Quellen, und die sagen mir, daß er ein offenes Ohr für Sie hat, ganz egal, wie beschäftigt er auch sein mag. Ich wollte Sie bitten, ihm diese Nachricht zu überbringen: Vater Epstein spendet seinen Segen und wünscht ihm viel Glück!“

Ein seltsamer Unterton schwang in der Stimme des alten Priesters mit, stark genug, um die geistige Lethargie Boyds zu überwinden. Er schüttelte den Kopf, um wenigstens kurzzeitig wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. „Natürlich. Aber Sie schreiben mir besser seinen Namen und seine Adresse auf, damit ich es nicht vergesse.“

„Vielen Dank, Dr. Jensen. Sie werden sich an ihn erinnern, wenn er auch, soweit mir bekannt ist, keine feste Adresse hat. Aber er wird Sie finden.“ Epstein sah dem jüngeren Mann in die Augen. „Die Menschen kennen ihn als den Blinden Stephan.“