Kapitel 38.
Ulrich starrte in die leeren Augenhöhlen des Totenschädels. Er spürte, wie ihm der Atem ausging. Dann fuhr ein langer Arm an ihm vorbei und zerrte an dem Schädel, bis zwei verkrampfte tote Hände ihn losließen und Ulrich erkannte, dass Bruder Antonius seine Beute auch im Tod festgehalten hatte und er nicht in sein Gesicht, sondern in das Gesicht von Sankt Albo gesehen hatte. Jörg richtete sich auf und blickte auf den Schädel hinunter, den er in der Hand hielt wie ein anderer Mann einen Apfel. Seine Blicke kreuzten sich mit denen Ulrichs. Dann drückte er ihm den Schädel in die Hände. Er trat zurück, gab dem toten Mann zu seinen Füßen einen kleinen Schubs mit der Stiefelspitze und schnaubte. »Jungejunge«, sagte er und grinste Ulrich an. »Ich glaube, der gehört jetzt dir.«
Ulrich betrachtete den Schädel, den er mit spitzen Fingern hielt, wobei er das Gefühl hatte, jeden Moment würden seine Knie nachgeben. Er hatte überlebt, und seine Gefährten ebenfalls. Er hatte den Schädel wiederbeschafft. Er hatte seine Mission erfüllt, er hatte …
Er starrte in die toten Augenhöhlen, in die er schon so oft geblickt und versucht hatte, etwas Heiliges, Heimeliges, Beruhigendes und Helfendes zu finden. Er hatte das Gefühl, in kein anderes Augenpaar auf der Welt so lange und so häufig geschaut zu haben.
»Das ist nicht Sankt Albos Schädel«, sagte er.
Jörg sah ihn an. Der Ritter hob die Brauen. Ulrich hielt ihm den Totenkopf vors Gesicht.
»Das ist nicht Sankt Albos Schädel.«
Jörg stemmte die Fäuste in die Hüften. »Natürlich nicht«, sagte er. »Was dachtest du denn?«
»Aber …«
»Hast du geglaubt, ich hätte den Schädel tatsächlich aus eurem Kloster geklaut?«
»Aber du sagtest …«
Ulrich hatte Jörg noch nie so fassungslos gesehen wie jetzt. Der Ritter breitete die Arme aus und sah abwechselnd zu Rinaldo, zu Barbara und zu Ulrich. »Ich habe schon Leuten wegen geringerer Beleidigungen den Kopf abgerissen.« Jörg ließ die Hände sinken. »War nur Spaß«, fügte er an. Diesmal aber klang es nicht überzeugend.
»Verzeih mir«, sagte Ulrich.
Jörg brummte und ließ den Kopf hängen. »Jungejunge«, sagte er leise.
Ulrich klemmte den Schädel unter den Arm und fuhr sich über die Tonsur. Plötzlich loderte Zorn in ihm auf.
»Was glaubst du eigentlich, wie es mir ergangen ist?«, stieß er hervor. »Ich habe die Klostergemeinschaft verlassen, um einem Totenschädel hinterherzujagen, nur weil die meisten meiner Brüder zu kleingläubig sind, ohne ein Symbol auszukommen! Ich habe zuerst Rinaldo und dann dich aufgelesen, und ich habe euch vertraut, ohne dass ich euch gekannt hätte, und ich dachte, ich hätte eine neue Gemeinschaft gefunden, und dann erfahre ich zuerst, dass Rinaldo mein Geld für Hübschlerinnen ausgibt und mir weiszumachen versucht, er habe damit Hände geschmiert, um den Schädel zu beschaffen …« Ulrich gestikulierte in Richtung des italienischen Sängers, der das Gesicht verzog und sich abwandte; er wusste, dass seine Stimme immer lauter wurde, »… und dann muss ich miterleben, dass mein anderer Gefährte in höchster Not einen Totenschädel aus seinem Sack hervorzaubert und mit höhnischer Stimme erklärt, er sei der Dieb unserer Reliquie und habe mit seinem Versteckspiel nur versucht, den Preis in die Höhe zu treiben … den Preis, den der Mann zahlen sollte, den er zwei Tage vorher um die commendatio gebeten hatte …« Ulrich brach ab. Sein Geschrei hallte durch das Gewölbe. Die anderen sahen ihn mit großen Augen an.
»Wie zum Teufel hätte ich es denn nicht glauben sollen?«, brüllte er. »Sieh mich nicht so empört an, Jörg von Ahaus, wenn es an mir sein sollte, empört zu sein! Bring mich nicht in Versuchung, sonst schleppe ich dich wieder in das Gewölbe hinein und lasse dich an der tiefsten Stelle alleine herumschwimmen!« Er schob Jörg den Schädel so grob in die Arme, dass dieser nach Luft schnappte und ihn unwillkürlich in die Arme schloss. »War nur Spaß!«, rief Ulrich und stampfte mit dem Fuß auf, dass das Wasser hochspritzte.
Jörgs Unterkiefer klappte herunter. »Jungejunge«, sagte er.
»was ist das überhaupt für ein schädel, wenn es nicht der des heiligen albo ist?«, donnerte Ulrich.
Jörg balancierte den Schädel auf der Handfläche. Er biss sich auf die Lippen und schaute Ulrich von unten herauf an.
»Er gehörte Saladin dem Großen«, sagte er schließlich.
Rinaldo schwieg.
Barbara schwieg.
Jörg zuckte mit den Schultern.
Ulrich sah sich unwillkürlich zu dem Toten um, der noch immer mit verhülltem Gesicht im Wasser lag – nebensächlich im Tod und jetzt, ohne seine vermeintliche Beute, den Schädel des Sankt Albo, noch nebensächlicher. Tatsächlich war kaum zu glauben, dass dieses Kleiderbündel noch vor kurzem die Macht über Leben und Tod Ulrichs und seiner Gefährten gehabt hatte.
Ulrich wandte sich wieder ab und musterte Jörg und den Schädel. »Saladin der Große«, sagte er schließlich.
»Nun, natürlich weiß ich, dass es nicht der Schädel von Saladin ist. Der Kerl lebt ja noch, oder? Jedenfalls war er garantiert noch am Leben, als ich den Schädel fand.«
»Fand?«, echote Ulrich.
Jörg machte einen Schritt auf Ulrich zu, dass das Wasser hochschwappte. Er warf einen Seitenblick auf Barbara. »Können wir das mal ein bisschen beiseite besprechen?«
Ulrich sah, dass ein amüsiertes Lächeln um Barbaras Mundwinkel zuckte. Sie drehte sich um und machte ein paar Schritte zur Treppe hin, um außer Hörweite zu kommen. Ulrich stellte fest, dass er die Angelegenheit unvermutet komisch fand. Hatte er vorhin wirklich gebrüllt wie ein Ochse? Weil Jörg ihn nicht betrogen hatte? Offenbar war ihm die Nacht im Gewölbe aufs Gemüt geschlagen … er fühlte ein Grinsen in sich aufsteigen über die Verlegenheit des Riesen, das nichts mit Häme, aber alles mit liebevoller Zuneigung zu diesem Mann zu tun hatte, der wirkte wie jemand, der einen Drachen zum Nachtisch verspeiste … aber nicht, ohne die besten Stücke vorher mit seinen Freunden geteilt zu haben. Er wechselte einen Blick mit Rinaldo und erntete eine Grimasse, die deutlich erkennen ließ, dass der Sänger bereits gegen das Lachen ankämpfte.
»Bleib hier, mein Kind«, sagte Ulrich zu Barbara. »Niemand hier hat ein Geheimnis vor dem Menschen, der uns vor dem Ertrinken gerettet hat.«
Barbara blieb stehen und drehte sich um, wischte rasch mit dem Handrücken über eine Wange und sah Ulrich dann unschlüssig an. Er winkte sie heran. Dann wandte er sich an Jörg, der mit hängenden Schultern dastand und Barbara wie ein kleiner Junge ansah, den man zuzugeben zwingt, dass er den Sattel des Königs mit Seife eingerieben hat. Ulrich nahm ihm den Schädel aus der Hand und hielt ihn hoch.
»Fand?«, wiederholte er.
»Er lag da zwischen den Steinen, als ich schon wieder auf dem Rückweg in das Räubernest an der Küste war«, sagte Jörg resigniert. »Ganz allein. Ich hätte ihn gar nicht gesehen, wäre mein Klepper nicht darüber gestolpert.«
»Das ist der Überrest eines Menschen …«
»Wahrscheinlich sogar der von eine Muselmane«, ergänzte Rinaldo.
»Warum um alles in der Welt hast du ihn mitgenommen?«
»Weil … Jungejunge … weil …«
Ulrich wusste plötzlich, warum Jörg es getan hatte: Weil er zu Hause niemandem hatte erklären wollen, dass er nicht mit in den Krieg gegen die Heiden gezogen war, weil er sich den Magen an zu scharf gewürztem Fleisch verdorben hatte. Wenn er den Schädel mitbrachte, würde jeder glauben, er habe einem Krieger Saladins gehört, den Jörg im Kampf überwältigt hatte – und natürlich würde niemand je die Taktlosigkeit besitzen, den Heimkehrer danach zu fragen, und so brauchte Jörg nicht einmal zu lügen. Der Einzige, der taktlos genug war, seinen Freund in die Verlegenheit zu bringen, die Wahrheit gestehen zu müssen, war er, Ulrich.
Seine gute Laune erhielt einen Dämpfer, als ihm klar wurde, dass es Jörg schwerer fiel, darüber zu sprechen, als die unfreiwillige Komik der Situation glauben machte. Ulrich räusperte sich beschämt.
»Na ja, weil …«, sagte Jörg.
»… weil Gott der Herr sich einschaltete und ihm befahl, den Schädel mitzunehmen, um euch hier unten das Leben zu retten und das Ungeheuer da drüben in die Irre zu führen.«
Ulrich und Jörg sahen zu Barbara hinüber. Sie gab ihren Blick ruhig zurück. Rinaldo begann plötzlich zu lachen.
»Und weil«, rief er, »Gott die Herr wusste, dass unsere Bruder Ulrico eines Tages eine Ersatzschädel nötig haben würde.«