Kapitel 5.
Die Stadt, die große, sündige Stadt … Ulrich hatte noch immer die Warnungen Fredegars im Ohr. Wie hatte er sich nur zu diesem grässlichen Abenteuer melden können?
Er hockte vor seinem Lager und betrachtete seine Schätze. Das Dormitorium war leer, die Brüder bei ihren jeweiligen Aufgaben, denen sie heute, nach der Entdeckung am frühen Morgen, gewiss nicht mit der üblichen Konzentration nachkamen. Ulrich war nicht unglücklich über das seltene Privileg, mit sich und seinen Gedanken allein sein zu können.
Er fuhr mit einem Finger die wulstigen Rillen der Jakobsmuschel nach. Sie hatte ihn vor vielen Jahren nach Compostela geleitet und sicher wieder zurückgebracht. Doch um der Wahrheit die Ehre zu geben, hatte wohl eher die Anwesenheit der zwei Dutzend anderen Mönche und der bewaffneten Begleiter, die der Abt des Klosters von Otterberg (zu dem die Mönche von Sankt Albo schon damals eine enge Verbindung gehabt hatten) sich hatte leisten können, für die sichere Reise der pilgernden Klosterbrüder gesorgt. Ulrich war dennoch geneigt, die Jakobsmuschel als seinen Leitstern zu betrachten.
Mittlerweile war sie in drei Teile zerbrochen. Ulrich fügte die Bruchstücke mit einem Gefühl der Wehmut wieder aneinander und kniff die Augen zusammen, damit die Bruchlinien verschwommen erschienen und die Muschel unversehrt aussah. Daneben hatte er den Pergamentfetzen gelegt, den er in seinen ersten Wochen als neuer Archivar beim Säubern und Neuordnen der Regale gefunden hatte. Ein unbekannter Künstler, wahrscheinlich längst zu Staub zerfallen, hatte darauf den Entwurf einer Illumination gezeichnet, einen wundersam verzierten Buchstaben A, wie Albo, wie Anfang, wie Alles wird gut. Der Entwurf war farblos bis auf ein kräftiges Gelb, mit dem der Künstler den späteren Goldauftrag imitiert hatte, doch er war sehr schön und ließ erkennen, von welcher Pracht das vollendete Kunstwerk sein musste, das Ulrich jedoch in keinem der ihm anvertrauten Codices gefunden hatte. Der Pergamentfetzen schien ganz für sich allein ins Archiv gelangt zu sein, ohne jede Verbindung zu sonst etwas um ihn herum. Darin sah Ulrich eine gewisse Verwandtschaft zu sich selbst, weshalb er das Stück Pergament in Besitz genommen hatte und was ihn ganz natürlich zum dritten seiner Schätze führte: dem Kapuzenmantel in der Größe für ein sechsjähriges Kind.
Er war so mürbe, dass er sich entlang der Faltkanten bereits auflöste, und die Ränder faserten aus. Ulrich strich vorsichtig mit dem Finger darüber. Als er hochsah, blickte er in Bruder Fredegars helle Habichtsaugen. Der alte Torhüter lächelte dünn.
»Puer oblatus«, sagte er und wies auf das kindliche Kleidungsstück.
Ulrich zuckte mit den Schultern. »Der Grundherr meiner Familie besaß einen alten geschnitzten Baumstumpf, der direkt vor dem Tor zu seinem castrum stand – du weißt schon, einem der Überreste von den Bäumen der Heiden, die die heiligen Missionare fällten …«
Fredegar nickte. »Zopfmuster oder Schlangen, die sich endlos drum herum winden und weder Anfang noch Ende finden.«
»Genau so. Wenn du Bibeln aus den Kopierstuben von Clonmacnoise oder Lindisfarne ansiehst, findest du solche Motive in den Illuminationen wieder … Ich weiß gar nicht, ob der heilige Inhalt diese heidnischen Muster im Nachhinein läutert oder ob sie im Gegenteil die Botschaft unseres Herrn Jesus Christus beschmutzen. Erstaunlicherweise waren es ja gerade die Missionare aus Irland, die sich am meisten mit dem Baumfällen hervorgetan haben, und jetzt zeichnen die Illuminatoren in ihren Klöstern …«
»Was war mit dem Baumstumpf vor dem Tor deines Grundherrn?«, unterbrach Fredegar geduldig.
»Er war das Symbol für seine Herrschaft und die Zusammengehörigkeit seines Besitzes. Auf diesem Stumpf erhielt jeder neue Pächter die commendatio, jedes neugeborene Kind wurde darauf getauft, jede Hochzeit darauf besiegelt, und jeder Tote legte auf dem Weg zum Grab eine Pause darauf ein. Niemand wusste, wie es dazu gekommen war, aber sowohl der Herr als auch wir handelten danach, und alle fühlten, dass es recht war.«
»Ich habe Ähnliches in der Normandie gesehen, nur dass sie dort noch verrücktere Rituale pflegten. Der Herr musste vor jeden Ausritt oder beim Zurückkommen so und so oft um einen behauenen Stein reiten, erst in die eine, dann in die andere Richtung.« Fredegar winkte ab. »Manchmal verlieren Rituale ihren Inhalt – anders als die Sakramente der heiligen Kirche, was uns zeigt, dass sie die einzigen wahren Rituale sind.«
»Ich war noch ein kleines Kind, als ein Feuer den hölzernen Torbau erfasste. Glimmende Balken fielen auf den Baumstumpf und verbrannten ihn. In einer einzigen Nacht verwandelte sich ein Symbol der Macht und Einheit in einen Haufen Holzkohle.«
Ulrich schwieg und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Vergangenheit. Fredegar war klug genug, ebenfalls zu schweigen. Ulrichs Hände streichelten das alte Kleidungsstück, sanft, ganz sanft … die Hände des Archivars waren im Gegensatz zu seinem Körper schlank, kräftig und feinnervig. Die Farb- und Tintenflecke daran verschmutzten sie nicht, sondern veredelten sie. An Ulrichs fülligem Leib wirkten sie wie Fremdkörper, wie die Hände eines anderen, graziöseren Ulrich, der sie aus den Ärmellöchern der Kutte steckte, die über des echten Ulrichs dicken Hüften spannte. Oder war der echte Ulrich der, dem die edel geformten Hände gehörten, und der andere sozusagen nur der Panzer darüber, den er gegen das Leben gebildet hatte?
»Zwei Winter später war alles vorbei«, sagte Ulrich. »Zuerst hatten die meisten Pächter den Herrn verlassen, weil sie glaubten, dass der Brand ein böses Vorzeichen war. Dann ließ der Herr die Pächter im Stich, weil er mehr und mehr glaubte, sein Besitz sei verflucht. Er suchte sein Heil im Weinfass, der arme Kerl. Mein Vater war einer der Letzten, der aufgab und sich auf die Wanderschaft machte.«
»Und dich brachte er dem Kloster dar.«
»Ein Esser weniger. Ich war der Jüngste … und wahrscheinlich sollte ich ihm noch dankbar sein. Es war kurz nach der Geburt des Herrn, als er aufbrach. Die Flüsse waren voller Eis und die Wälder voller halb verhungerter Wölfe. Ich hätte die Wanderschaft nicht überlebt.«
»Wie alt warst du?«
Ulrichs Hände hielten mit dem Streicheln des Kapuzenmantels inne. »Ich habe in diesen Mantel gepasst«, sagte er.
»Hast du je wieder von deiner Familie gehört?«
Ulrich schüttelte den Kopf. »Und weißt du was? Ich habe keine Erinnerung mehr daran, wie mein Vater aussah, oder wie die Stimme meiner Mutter sich anhörte. Aber ich könnte dir noch jede Windung im Schnitzwerk des Baumstumpfs aufzeichnen. Verstehst du? Der Baum war nichts, nur ein Symbol, von dem keiner wusste, warum er überhaupt dazu geworden war – und als er fiel, fiel alles mit ihm. Der Glaube der Menschen reichte nur so weit, wie sie dieses Ding sehen, anfassen und an Mariä Himmelfahrt darum herumtanzen konnten. Deshalb sind mir Symbole verhasst, weil sie dem Glauben die Kraft nehmen, die er aus sich selbst bezieht.« Ulrich schüttelte verwundert den Kopf. »Jede Windung, jede Kreuzung in diesem unheiligen Schnitzwerk. Und von meinem eigenen Vater weiß ich nur noch, dass er mich in dem letzten Sommer, den wir miteinander verbrachten, in einem Seitenarm des Rheins lehrte, mich über Wasser zu halten, um in den Fluten des Lebens nicht unterzugehen. Ha!«
»Ich bin weit herumgekommen in der Welt«, sagte Fredegar nach einer Weile. »Bevor ich beschloss, hier den Sünden zu entsagen, habe ich sie erst noch alle begangen. Ich bin dem Ruf des großen Bernhard gefolgt und mit Herrn Konrad ins Heilige Land gezogen, dem Kreuz hinterher, das auf eine Fahne genäht war … nur ein weiteres Symbol, wenn man ehrlich ist. Du hast schon richtig erkannt, welche Kraft Symbole haben.«
»Und deshalb«, sagte Ulrich, »fürchte ich, dass Prior Remigius Recht hat.«
»Natürlich hat er Recht.« Ulrich, der erwartet hatte, dass Fredegar aufbrausen würde, sah den alten Mann erstaunt an, als dieser sich seufzend auf Ulrichs Lagerstätte setzte. »Die guten Mönche von Sankt Albo sind noch nicht so weit. Der Geist ist willig …«
»Vielleicht, wenn nicht ausgerechnet der Schädel des heiligen Albo gestohlen worden wäre und die Diebe eine andere Reliquie mitgenommen hätten …«
»Das Kloster hat nun mal keine andere Reliquie, Bruder.«
»Wenn der Schädel nicht wieder auftaucht, ist unsere Gemeinschaft dem Untergang geweiht, so wie damals das Land des Grundherrn meiner Familie.«
Fredegar, der Ulrichs Schätze gemustert hatte, sah auf. »Du darfst dich nicht von den Schatten der Vergangenheit dazu bringen lassen, etwas zu tun, woran du nicht glaubst.«
»Es sind nicht die Schatten der Vergangenheit, Bruder Fredegar.« Ulrich streichelte den mürben Kapuzenmantel. »Es sind eher die Schatten der Zukunft. Wenn die Gemeinschaft hier zerbricht, wohin soll dann ich? Ich will nicht ein zweites Mal meine Familie verlieren.«
»Ulrich«, sagte Fredegar, »glaubst du nicht, dass das wahr ist, was ich in der Kapelle gesagt habe?«
»Dass diese Aufgabe mir zukommt, um mich mit Sankt Albo auszusöhnen?«
»In Otterberg haben wir diesen heidnischen Glauben an Knochen und Talismane längst überwunden; das heißt aber nicht, dass ich nicht an die Macht der Heiligen glaube, uns zu leiten.«
»Und uns für ihre Zwecke zu gebrauchen?«
Fredegar fasste Ulrich scharf ins Auge. »Nur zu unserem eigenen Besten.«
»Ich habe diesen alten Knochenschädel gefürchtet, als ich ein Kind war. Ich habe ihn verachtet, als ich ein junger Novize wurde. Und seit ich erwachsen bin, habe ich ihn gehasst. Ich bin halbe Nächte vor ihm auf den Knien gelegen und habe um Frieden mit ihm und in meiner Seele gerungen. Und wenn ich hinausging, hatte ich das Gefühl, er würde mir höhnisch hinterhergrinsen.«
»Armer Bruder Ulrich.«
»Du kannst mir glauben, dass ich der Letzte bin, der sich den alten Knochen zurückwünscht. Aber da ist unsere Gemeinschaft …«
»Die Welt draußen ist nicht ganz so schlimm, wie ich sie dargestellt habe, Bruder Ulrich. Ich würde zwar nicht mehr hinauswollen, aber sieh mich an, wie lange ich sie überlebt habe.«
»Du warst ein Streiter, ein Kämpfer.«
»Ja, und deshalb war ich in mehr Gefahren verwickelt und habe schlimmere Dinge gesehen, als dir auf deiner Suche jemals begegnen werden. Ich habe ihr entsagt, der sündigen Welt jenseits unserer Mauern, aber glaub mir: Sie ist nicht die Hölle. Auch dort leben Menschen, Bruder!«
»Was meinst du damit?«
»Du wirst Hilfe brauchen, wenn du deine Aufgabe erfüllen willst. Remigius hat gesagt, dass du vor ein paar Jahren, bevor ich hierher kam, in der Stadt verloren gingst und …«
»Das hat man bis zur Unkenntlichkeit aufgebauscht!«, schnaubte Ulrich. »Ich war zu keinem Zeitpunkt in Gefahr!«
»Bruder Ulrich, Köln ist groß, und man kann dort verloren gehen. Such dir Helfer. Sankt Albo wird sie zu dir führen. Geh zu den Menschen, versichere dich ihrer Hilfe …«
»… und gerate dabei an den erstbesten Schurken.«
Fredegar lachte und legte Ulrich seine alte, knorrige Hand auf die Schulter. Ulrich umfasste sie kurz und war aufs Neue erstaunt, dass diese schwielige Klaue, mit der Fredegar die längste Zeit seines Lebens ein Schwert durch die Luft geschwungen hatte, anstatt den Segen zu erteilen … dass diese Hand, die Leben genommen und Blut vergossen hatte, ihn stets zu trösten vermochte. Er sah zu dem älteren Bruder auf und seufzte.
»Was willst du mit diesen Sachen?«, fragte Fredegar und deutete auf Ulrichs Schätze.
»Ich wollte eines davon einstecken, als Glücksbringer …« Ulrich räusperte sich.
»Als Symbol?«
»Ich wusste, dass du das sagst. Vermutlich meinst du, ich sollte lieber auf einen Heiligen vertrauen.«
Fredegar lachte und drehte die Handflächen nach oben. »Vertrau deinem Herzen und deinem Verstand. Die zwei sind so gut wie jedes heilige Symbol.«