Kapitel 3.

Im Traum war da immer die Hand. Sie presste sich auf Barbaras Mund. Sie roch nach Schweiß und nach all den intimen Orten, an denen sie sich in den letzten Wochen aufgehalten hatte, und sie schmeckte bitter nach Leder und Metall. Barbara versuchte zu schreien, brachte aber keinen Laut heraus. Sie hörte ihren eigenen Atem in der Nase pfeifen, spürte ihren Herzschlag und erkannte, wie die Panik in ihr hochschwappte und Todesangst von ihr Besitz ergriff.

An dieser Stelle wachte Barbara meistens auf. In den ersten Wochen hatte sie festgestellt, dass sie doch geschrien hatte; es gab keine Traumhand, die ihre wirklichen Entsetzensschreie hätte dämpfen können. Mittlerweile hatte sie sich das Schreien abgewöhnt. Vielleicht lag es daran, dass man sogar gegen die Wiederkehr der schrecklichsten Erinnerungen abstumpfte. Sicherlich halfen auch die finsteren Blicke Walters, die sie spürte, wann immer er in ihre Nähe kam, dass Barbara sich zusammenriss. Die Kratzer in Walters Gesicht waren fast verheilt, besser jedenfalls als die Bisswunde in seinem Handballen. Er machte einen weiten Bogen um Barbara, und sie um ihn. Sie wusste, es würde nicht mehr lange dauern, bis er ihre Schwester davon überzeugt hatte, dass sie, Barbara, aus dem Haus zu weisen sei. Dann würde ihr langer Absturz beginnen …

… nur dass sie ihn sehr kurz gestalten würde. Sie würde die Klinge aus dem Körper des Ungeheuers ziehen und das letzte peinvolle Aufflackern des Lebens in seinen Augen genießen, und mit seinem Verlöschen würde sie sich die blutige Klinge selbst in die Kehle stoßen. In ihren kurzen, zornigen Gebeten jede Nacht bat sie den Herrn nur darum, Walters Geduld so lange anhalten zu lassen, bis Iver (das feige Aas!) wieder auftauchte und ihr den Weg weisen würde – und sie das Ungeheuer fand und töten konnte. War sie erst obdachlos, würde man sie schnell aus der Stadt weisen, und dann wäre ihre Rache unmöglich.

Rache …

Manchmal spürte sie die Hand auch außerhalb des Traums, zwinkerte die Tränen des Hasses, der Demütigung und der Trauer fort und biss die Zähne zusammen, bis die Hand wieder verschwunden war.

Sie hatten sie zusehen lassen. Die eine Hand auf ihrem Mund hatte Barbara aufrecht gehalten; die andere Hand in ihrem Mieder hatte verhindert, dass sie sich losreißen konnte. Dann hatten sie das Versteck des Säckchens aus Gregor herausgefoltert. Er hatte einzulenken versucht. Sie hörte noch sein entsetztes: »Tut ihr nichts, sie weiß nichts!«, und eindringlicher als sein Flehen die Stimme des Ungeheuers: »Ich glaube, dass du uns zuerst sagst, was du weißt, mein Freund.« Dann hatten die Schreie eingesetzt. Sie hatten Barbara nicht daran hindern können, die Augen zu schließen; aber die Ohren hatte sie sich nicht zuhalten können. Gregor schrie und schrie …

Wenn der Traum sie so weit in die Erinnerung führte, schrie auch Barbara. Kein ärgerlich brummender Walter und keine zärtliche Umarmung ihrer Schwester würde dies jemals ändern können, und auch kein noch so angestrengtes Unterdrücken ihrer Gefühle.

»Und was ist mit der Metze?«, hatte die hechelnde Stimme hinter ihrem Rücken gefragt, und die Hand in ihrem Mieder hatte zu kneten angefangen. »Wir könnten sie doch …«

»Töte sie oder lass sie leben, ganz wie du willst«, hatte das Ungeheuer erwidert. »Aber mach schnell.«

Das Ungeheuer war Barbaras letzter Anblick gewesen, bevor die Faust an ihre Schläfe krachte und die Welt fürs Erste auslöschte.

Walter und Hildegard fuhren auseinander, als Barbara hereinkam. Sie stellte den Korb mit den Lebensmitteln, die sie auf dem Markt besorgt hatte, ächzend auf den Boden. Die Badestube war um diese frühe Stunde noch nicht in Betrieb, doch Hildegard hatte bereits Tücher in die beiden lecken Zuber gebreitet, und der Herd für das heiße Wasser verbreitete eine ungesunde, feuchte Hitze überall dort, wo die Zugluft sie nicht davonwehte. Barbara brach augenblicklich der Schweiß aus. Walter und Hildegard blickten schuldbewusst drein; ihr Schweigen kündete beredt davon, dass sie sich soeben noch in eifrigem Gespräch befunden hatten, und wer der Gegenstand ihrer Unterhaltung gewesen war. Barbara hörte das Knacken des Herdes und von oben das Husten der drei Unseligen, die sich in die medizinische Obhut Walters begeben hatten und sich nun das einzige Bett in der zugigen Kammer auf dem Dachboden teilten.

»Die alte Griet sagt, es ist das letzte Mal, dass sie dir auf Pump verkauft«, erklärte Barbara und wies auf den Korb.

»Die Alte soll sich nich’ so anstellen«, brummte Walter. Er warf einen Blick zur Decke. »Wenn sich wieder ’n Knecht bei ihrem Gretchen ansteckt, wer treibt’s ihm dann aus, ohne zu den Schöffen zu laufen, wenn nich’ ich?«

»Barbara kann doch nichts dafür«, sagte Hildegard.

»Barbara kann nie was dafür.«

»Ich bin sicher, wenn du oder ich gegangen wären, die Griet hätte uns gar nichts gegeben. Sei froh, dass stattdessen Barbara auf ’n Markt ist.«

Barbara schwieg. Tatsächlich hatte ihre Schwester den Kern getroffen, doch Griets Großzügigkeit hatte einen Stachel gehabt: »Ach Gottchen, Kind, dir geb ich was. So wie ’se dir mitgespielt haben … den guten Gregor totgeschunden und was noch alles. Und wer kann schon sagen, was ’se dir angetan haben, als du nich’ bei Sinnen warst. Weiß man’s?« Griets Tochter, Margarete, hatte sie mitleidig angelächelt; Barbara hatte die Bemerkung hinuntergeschluckt, dass die Kleine ihr Mitleid lieber für sich behalten und die Alte sich mehr um ihre Tochter sorgen solle. In Margaretes Gesicht prangte ein schillerndes Veilchen, das vor zwei Tagen noch nicht da gewesen war, und die Pusteln um ihre Mundwinkel zeigten deutlich, dass derjenige, der ihr das Veilchen verpasst hatte, auch nicht ganz unversehrt aus ihrem Bett gekommen war. Wahrscheinlich würde der Betreffende sich in den nächsten Tagen bei Walter einfinden und sich dessen zweiwöchiger Schwitzkur unterziehen, in der Hoffnung, die unkeusche Krankheit damit loszuwerden. Barbara hatte sich lediglich bedankt und versprochen, Walter auf seine Schulden aufmerksam zu machen.

Früher hättest du das Getriefe der alten Hexe zurückgewiesen, überlegte sie, während sie den Korb nach Hause schleppte. Kann es sein, dass all deine Kraft zerbrochen ist?

Walter stapfte heran. Barbara trat einen Schritt zurück, als er nach dem Korb griff, ihn aufhob und davontrug. Hildegard glättete eines der Tücher besonders sorgfältig. Barbara beobachtete ihre Schwester. Wieder breitete sich Schweigen aus. Sie hörte Walter den Verschlag aufreißen, der am jenseitigen Ende des Erdgeschosses als Vorratskammer diente. Hildegard zerrte und zupfte an dem Laken, bis das Schweigen lauter wurde als jedes Geschrei.

»Was willst du mir sagen?«, fragte Barbara schließlich.

Hildegard seufzte, zupfte noch ein letztes Mal eine Falte aus dem Tuch und lehnte sich schließlich gegen den Zuber. »Komm her«, sagte sie und streckte die Arme aus. Barbara schmiegte sich in die Umarmung ihrer Schwester. Ihr Herz klopfte laut. Hildegard fuhr ihr übers Haar.

»Das hier is’ doch nichts für dich«, sagte sie endlich. »Dauernd umgeben von den kranken Kerlen. So lang denen die Pfeife tropft, verfluchen sie uns alle miteinander als teuflische Weiber, die ihnen die Krankheit angehängt haben; wenn sie gesund sind, wollen sie dir sofort unter ’n Rock. Und wenn das nich’ is’, regt sich bestimmt irgendein scheinheiliger Frömmler auf, und du kannst dich vom Rat verhören lassen und musst noch dankbar sein, wenn man dir dabei nich’ die Glieder ausreißt.«

»Ich habe kein Zuhause mehr außer dem hier …«

»Du musst wieder auf die Beine kommen, Kleine. Gregor lebt nich’ mehr, und das is’ schlimm, aber nu’ isser tot, und es wird Zeit, dass du damit zurechtkommst. Wir haben jetzt Mariä Himmelfahrt durch, und geschehen isses nach Karfreitag. Das Leben geht weiter. Und erzähl mir nich’, dass in deinem Herzen kein Platz war außer für ihn, den alten Sack …«

»Ich war seine Frau und habe geschworen, ihm in allem beizustehen. Stattdessen habe ich ihn sterben gesehen und konnte ihm nicht helfen. Reicht das nicht?«

»Is’ ja gut, Kleine, is’ ja gut.« Hildegard seufzte. »Ich meine ja bloß. Wenn Walter abkratzen würde, was Gott der Herr verhüten möge, würd ich das Ding hier einfach weiterführen. Ich würde mir vom Rat die Erlaubnis geben lassen und den Kerls selber den Sud eintrichtern, bis denen der Dampf zu den Ohren rauskommt.«

»Ich kann Gregors Geschäfte nicht weiterführen. Sie haben ihn umgebracht!«

»Nee, nee, die alten Knochen zu verhökern, wo die feinen Herren so scharf drauf sind, is’ nichts für dich … das is’ überhaupt nichts für unsereinen. Gregor hätt auch die Finger davon lassen sollen. Er wusste doch gar nich’, worauf er sich einlässt. Aber ich red mich leicht, ich hab ja was, das mich über die Runden bringt, ob wir nun bei der alten Griet in der Kreide stehen oder nicht.«

»Obwohl das hier doch ›nichts ist‹?« Barbara lächelte, ohne es zu wollen.

»Für so ’n junges Ding wie dich nich’. Ich bin ’ne alte Kuh, bei mir is’ das anders.«

»Du bist nur ein paar Jahre älter als ich.«

»Ja, und das is’ mehr als genug! Gott der Herr hat uns Weibern die schöneren Gesichter gegeben, aber er hat auch dafür gesorgt, dass sie uns schnell wieder genommen werden. Fang wieder zu leben an, Kleine, bevor’s zu spät is’!«

»Keine Angst, große Schwester, ich habe mich nicht aufgegeben.«

»So?«

»Nein.« Ich habe noch eine Aufgabe zu erledigen, dachte Barbara. Für die reicht meine Kraft noch.

»Und was is’ mit den schlechten Träumen? Wann hören die auf?«

Barbara löste sich aus der Umarmung Hildegards und nahm deren Hände. Sie waren rot und rau. Barbara nahm an, dass die Hände ihrer Mutter sich genauso angefühlt hätten, wenn Gott ihnen beiden die Gelegenheit zum Händehalten gegeben hätte.

»Hat Walter gesagt, du sollst mit mir reden?«

»Du musst ihn verstehen, Kleine. In der Schänke haben se’ ihn ausgelacht wegen seiner Visage, und seine Hand heilt so schlecht, dass ich mir selber Sorgen mache.«

»Ich habe mich doch schon entschuldigt. Ich hab’s ja nicht absichtlich getan …«

»Weiß ich doch, weiß ich doch. Aber du hast so schrecklich geschrien … und das gerade in der Nacht, nachdem Walter wieder mal in der Schöffenstube antanzen musste. Er hatte Angst, dass man dich bis nach draußen hört und dass dann die Schwierigkeiten erst anfangen.«

»Hildegard, du weißt doch, was sie mir …«

»Er hätt dir nich’ den Mund zuhalten sollen, hast ja Recht. Aber was sollte er machen? Und dass du so auf ihn losgegangen bist, war auch nich’ richtig.«

»Ich habe doch gar nicht gewusst, was ich tue. Ich war doch noch mitten im Traum.«

Hildegard zog ihre Schwester wieder zu sich heran und hielt sie fest.

»Arme Kleine«, brummte sie, »arme Kleine, was machen wir nur mit dir? So müde siehst du aus. Leg dich hin und schlaf, bevor hier der Rummel losgeht.«

»Glaub mir, Hildegard, wenn ich wüsste, dass ich aufwachen kann, bevor die Träume kommen – ich würde ein ganzes Jahr lang schlafen, und nicht mal die Posaunen des Jüngsten Gerichts würden mich wecken.«