Kapitel 17.
Jörg verließ die Gasse und betrat die Schankstube nun schon zum dritten Mal. Allmählich machte er sich Sorgen um den Mönch. Die Terz war nicht mehr fern, wenn sein Zeitgefühl ihn nicht trog, und der Mönch war immer noch nicht wieder im Heiligen Knochen aufgetaucht. Sie hatten keinen Treffpunkt vereinbart, aber wo sollte der Mann schon hingegangen sein, nachdem er den Dom verlassen hatte? Jörg nahm an, dass Ulrich … Antonius, er wollte, dass man ihn Antonius nannte … es ihm gesagt hätte, wenn er ein anderes Ziel gehabt hätte als die Rückkehr in die Herberge. So aber hatte Ulrich sich nur kurzerhand umgedreht und die Kirche verlassen, und Jörg, in Ermangelung einer anderen Anweisung, war zurückgeblieben und hatte sich am Rand der Menge herumgedrückt, um einzuschreiten, falls die Pilger Anstalten machten, Rinaldo in Stücke zu reißen. Das war jetzt zwei Stunden her. Jörg setzte sich auf die Bank, von der er vor wenigen Augenblicken aufgestanden war, um nach draußen zu sehen. Man sollte meinen, dass man den kurzen Weg vom Dom zum Heiligen Knochen in einer halben Stunde zurücklegen konnte, selbst wenn man ein Mönch war und sich auf zwei lächerlichen Schlappen vorwärts bewegte.
Unruhig trommelte Jörg mit den Fingern auf den Tisch im Schankraum. Sollte er sich auf die Suche nach Ulrich machen? Aber wo? Einfach den Weg zum Dom zurückzugehen war Unsinn. Wenn Ulrich in einer der Gassen zu finden gewesen wäre, hätte Jörg ihn auf dem Weg zur Herberge entdeckt. Und Rinaldo? Aber wo der steckte, wusste der Teufel – und selbst der konnte nur raten.
Rinaldo hatte ihm plötzlich zugezwinkert und sich aus dem Auflauf herausgewunden, den er verursacht hatte. Nach ein paar Augenblicken des Zögerns waren ihm mehrere Pilger gefolgt, jedoch unverhofft auf einem breiten Rücken aufgelaufen, der sich zwischen sie und den kleinen Italiener geschoben hatte, und bis sie den Besitzer des Rückens umrundet hatten (wegschubsen wäre unmöglich und außerdem ein Akt unangebrachter Tollkühnheit gewesen), war Rinaldo verschwunden gewesen. Jörg hatte ihn aus einer Gasse winken sehen, als er selbst auf den Kirchplatz hinausgetreten war, und war dem Wink gefolgt.
Rinaldo hatte sich kichernd die Hände gerieben. »Erledigt«, hatte er gesagt. »Selbst die Probst hat die Köder geschluckt.«
»Erzähl mir, was hier faul ist«, hatte Jörg gesagt.
»Faul?«
»Mit dir und Bruder Antonius und den Verrenkungen, die du da drinnen angestellt hast.«
»Ist das wieder eine von deine ›Spaß‹?«, hatte Rinaldo gefragt.
Jörg hatte den Kopf geschüttelt. »Bruder Antonius läuft herum wie das schlechte Gewissen. Du erzählst irgendwelche Märchen, wer ihn alles unterstützt, dass man glauben könnte, er sei der persönliche Legat des Papstes. Dabei braucht man ihn nur anzuschauen, um zu wissen, dass du und er allein arbeiten. Was hat es mit diesem verdammten Schädel des Sankt Albo auf sich? Das möchte ich mal wissen.«
»Du bist verrückt«, hatte Rinaldo gesagt, ihm aber nicht in die Augen gesehen.
»Gut, dann trage ich dich jetzt wieder in den Dom hinein, erzähle allen, dass ich dich von früher kenne und weiß, dass du in Wahrheit ein Muselmane bist, der die Gebeine der Heiligen Drei Könige klauen will, damit Sultan Saladin bei nächster Gelegenheit darauf pissen kann, und dann werde ich dich festhalten, damit sie dir die Glieder einzeln ausreißen können.«
»Das ist aber jetzt eine Spaß, no?«
Jörg hatte gegrinst.
»Molto bene«, hatte Rinaldo geseufzt. »Komm mal hierher, damit uns nicht jeder zuhören kann.«
Danach war Rinaldo mit seinem üblichen Grinsen und der Bemerkung davongeschlendert, dass er noch eine andere Mission zu erfüllen habe. Jörg war aufgefallen, dass sein freches Grinsen diesmal aufgesetzt gewirkt hatte, als wäre er nicht sicher, ob er das Richtige tat. Er selbst war in die Herberge zurückgekehrt, in dem festen Glauben, dass Bruder Ulrich schon längst dort sein musste, und mit dem Vorsatz, ihm zu erklären, dass er jetzt Bescheid wusste, ihn aber trotzdem weiter unterstützen würde. Da gewesen war nur der Wirt, der sich so schnell aus der leeren Schankstube verdrückt hatte, dass seine Abneigung, mit Jörg allein dort zu sein, mehr als deutlich geworden war. Gestern hatte er mit vielen gehaspelten Entschuldigungen, die sich in seiner Hast wie eine eigene Sprache anhörten, Jörgs Sachen eigenhändig in die Kammer zurückgeschleppt und ständig erklärt, er habe ja nicht ahnen können, dass Jörg der persönliche Beschützer von Bruder Antonius war.
Jörg trommelte weiter auf die Tischplatte. Ulrich war nicht nur der Steigbügel, mit dessen Hilfe er wieder in den Sattel des Lebens kommen konnte; er hatte gelobt, ihm zu Diensten zu sein, und Jörg hatte noch nie einen Herrn im Stich gelassen. Wenn Ulrich etwas zustieß, hieß das, dass Jörg ihn im Stich gelassen hatte. Er sah auf, als er eine Bewegung an seiner Seite gewahrte.
»Krugweinherr?«, fragte der Wirt und lächelte ängstlich.
»Nein«, knurrte Jörg und wedelte ihn fort. Er fuhr herum, als die Eingangstür sich öffnete, doch es war ein Unbekannter, der hereinkam und sich an eine Bank weit entfernt von Jörg setzte. Seufzend lehnte Jörg sich zurück und verschränkte die Arme über der Brust. Wenn Bruder Ulrich nicht in den nächsten Minuten kam …
… würde er wohl noch ein wenig länger warten müssen.