Kapitel 37.
Barbara hatte gedacht, das Öffnen der Tür würde die Männer dort unten gerettet haben, doch als sie den Körper in der Mönchskutte wie ein Lumpenbündel unweit der Türöffnung liegen sah, stiegen die Tränen in ihr hoch. Sie hörte, wie Tiberius ungeduldig ihre Anforderung nach mehr Fackeln weitergab. Der Knabe, der in Tiberius’ Haus offenbar die Funktion des guten Geistes erfüllte und der entsetzt auf der letzten trockenen Stufe der Treppe vom Erdgeschoss hier herunter stehen geblieben war, bewegte sich nicht. Tiberius watete auf ihn zu und spritzte ihm eine Hand voll Wasser ins Gesicht. Der Knabe keuchte auf und starrte seinen Herrn an.
»Hast du nicht gehört?«, knurrte Tiberius.
»Das Wasser … Patron, wo kommt das Wasser her?«
»Von oben«, sagte Tiberius ungeduldig. »Lauf und hol Fackeln, ein paar von den langen Vorhangstangen und Seile.«
»Wo soll ich denn Seile …?«
»Nimm die, mit denen der päpstliche Legat sich immer fesseln lässt. Wenn der Kerl noch dranhängt, dann sag ihm, dass er heute keine Taufzeremonie vornehmen kann, es sei denn, er kommt hier runter und tunkt seine Süße in diese Brühe. Und jetzt lauf!«
Der Junge warf sich herum und stolperte die Treppe hinauf.
»He!«, rief Tiberius ihm hinterher. »Und dann zähl die Weiber durch, ob noch alle da sind. Nicht, dass am Ende eine hier runtergespült und ertränkt wurde.«
Barbara konnte ihre Augen nicht von dem Lumpenbündel wenden, das bei der Tür lag und vom hin- und herschwappenden Wasser umspült wurde. Sie streckte die Hand aus und nahm Tiberius die Fackel ab.
»He!«, rief dieser, worauf der Junge noch einmal die Treppe herunterkam und ihn mit weit aufgerissenen Augen anblickte. »Und sieh nach, ob der Mailänder schon zu sich gekommen ist, wir können ihn hier brauchen.«
Das Wasser war mit Urgewalt durch die geöffnete Tür geschossen, hatte Barbara und Tiberius zuerst überschüttet und ihre Fackel gelöscht und ihnen dann die Füße weggerissen, hatte sie übereinander purzeln lassen wie Puppen und sie schließlich, bis auf die Haut durchnässt, zum Fuß der Treppe geschwemmt, wo es aufgespritzt war wie der Rhein gegen die Hafenanlagen, wenn ein stürmisches Unwetter tobte. Das Wasser war hin- und hergeschwappt und hatte Wellen geworfen, die zuerst Tiberius, der sich aufgerichtet hatte, von den Füßen geholt hatten, und dann Barbara, als sie zu früh glaubte, die Aufregung habe sich gelegt. Schließlich waren die Wassermassen halbwegs zur Ruhe gekommen und hatten sich auf einen Pegel gesenkt, der ihnen bis knapp zu den Knien reichte, als sie endlich festen Stand gefunden hatten. Im Licht der Fackel, die der fluchende und Wasser spuckende Tiberius dem entsetzten Knaben aus der Hand gerissen hatte, als dieser wenige Augenblicke später erschienen war, zeigte der trübe See im Gang eine kabbelige Dünung, die an den Wänden entlang aufspritzte. Was sich hinter der aufgesprengten Tür befand, lag in völliger Dunkelheit, doch Barbara hörte das Schwappen und Glucken und Spritzen einer gewaltigen Wassermasse, die sich an ihr neues Gefängnis zu gewöhnen versuchte.
Barbara stapfte zu dem Kuttenbündel hinüber und leuchtete mit der Fackel. Nur der Umfang des Bündels und eine gewisse Schwere angesichts des unruhigen Wassers verrieten, dass ein menschlicher Körper darin steckte – der grobe, weite Kuttenstoff war schwarz im Halblicht und hatte sich so sehr um seinen Träger gewickelt, dass man keine Gliedmaßen und schon gar kein Gesicht erkennen konnte. Etwas schaukelte in der Nähe auf den Wellen; Barbara bewegte die Fackel dorthin: Es war eine Sandale, die mit der abgelatschten Sohle nach oben auf der Wasseroberfläche trieb. Aus irgendeinem Grund war ihr Anblick beklemmender als der des Leichnams, und Barbara biss die Zähne zusammen und drängte die Tränen mit Gewalt zurück.
Sie bückte sich, um den nassen Kuttenstoff zurückzuschlagen, als sie Rinaldos Stimme vernahm und den kurzen Austausch in italienischer Sprache zwischen ihm und Tiberius hörte. Rinaldos Stimme klang belegt und kratzend; er hatte bei Tiberius’ erfolgreichem Versuch, ihn ins Leben zurückzurufen, jede Menge Wasser erbrochen. Barbara berührte die nasse Kutte und zuckte zurück; plötzlich hatte sie keinen Mut mehr, den Stoff beiseite zu schlagen und in das leblose Gesicht des Mannes zu sehen, den sie draußen bei den Fischerhütten mit dem Messer bedroht hatte … und der ebenso unschuldig wie Gregor und ebenso ein Opfer von Bruder Antonius gewesen war.
Jemand watete durch das aufspritzende Wasser zu ihr. Barbara richtete sich auf. Die Berührung der nassen Kleider auf ihrer Haut ließ sie plötzlich frieren, und sie erschauerte.
»Ich bin zu spät gekommen«, sagte sie zu Rinaldo.
»Tiberius sagt, du hast mich aus die Wasser gezogen.«
»Du bist mir in die Arme gespült worden. Ich habe nichts dazu getan.«
Rinaldo zuckte mit den Schultern. »Trotzdem. Grazie mille.« Er verbeugte sich, aber das Lächeln schien fürs Erste aus seiner Miene getilgt zu sein. Er starrte auf das Lumpenbündel hinunter.
»Wo ist Giorgio?«
Barbara zuckte mit den Schultern, ein weiterer Schmerz, ein weiteres Leben auf ihrer Seele.
»Hilf mir«, sagte sie zu Rinaldo. »Wir wollen ihn ins Trockene bringen und ihm wenigstens seine Würde zurückgeben.« Sie reichte Rinaldo die Fackel und bückte sich erneut, um den Toten nach vorn zur Treppe zu schaffen. Rinaldo trat einen Schritt zurück und hielt die Fackel durch die Türöffnung in das Gewölbe dahinter, das sich in einen See verwandelt hatte. Die helle Stimme des Knaben kam von der Treppe her; sie hörten das Poltern, mit dem eine lange Stange gegen die Wände stieß und vernahmen das Aufspritzen des Wassers, als Tiberius zu ihnen herüberkam. »Hilfst du mir jetzt oder nicht?«
Rinaldo hielt die Fackel nach vorn ausgestreckt und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. Von der Treppe kamen weitere Stimmen: die Hübschlerinnen, die ihren ersten Schreck überwunden hatten, nachdem sie festgestellt hatten, dass sie noch am Leben waren und das Haus noch stand, und die nun von der Neugier hier heruntergeleitet wurden. Ein paar Männerstimmen erklangen dazwischen und fragten, ob sie etwas helfen könnten; offenbar waren nicht alle Kunden Tiberius’ von der Beschaffenheit des geschockten Prälaten mit dem Hengstschwanz. Weitere Füße spritzten das Wasser auf, als sie herankamen; ihre Geräusche mischten sich in das Platschen und Glucksen und Schwappen, das aus dem Gewölbe drang und das sich beinahe anhörte wie das heftige Schnaufen eines Menschen. Barbara wünschte sich, sie hätte mit dem Toten allein sein können. Aus ihrer gebückten Haltung spähte sie zu Rinaldo.
Rinaldo drehte sich zu Tiberius um.
»Gib mir das Seil«, sagte er ruhig.
Tiberius reichte ihm ein zusammengerolltes Seil, das mehr eine Schmuckkordel aus schimmerndem Seidenstoff war.
»Nimm lieber die Stange, wenn du einen rausholen willst«, sagte er, »ich glaube nicht, dass ein Toter nach dem Seil greifen kann.«
»Nein, sicher nicht«, entgegnete Rinaldo und reichte Tiberius die Fackel, packte ein Ende des Seils und warf das andere mit Schwung in die Dunkelheit hinein. »Aber ein Überlebender. Halt dich gut fest, Bruder Ulrico, wir ziehen euch raus!«
Barbara trat einen Schritt zurück, als die beiden Männer in Sicherheit gebracht waren. Ihre erste Erleichterung wich der Erkenntnis, dass Bruder Ulrich keinen Grund hatte, nachsichtig mit ihr zu sein. Sie musterte ihn, wie er keuchend und triefend auf die Knie kam und sich dann aufrichtete, gestützt auf Tiberius’ und Rinaldos Arme. Die Kutte klebte an seiner massigen Gestalt, und das Fackellicht, das über sein Gesicht zuckte, ließ ihn finster und wütend erscheinen. Giorgio – Jörg – kauerte zu Ulrichs Füßen, hustete und würgte und schüttelte den Kopf. Schließlich schaute er auf und blinzelte sich das Wasser aus den Augen.
Bruder Ulrich drehte sich unbeholfen zu Rinaldo um und betrachtete ihn von oben bis unten. Rinaldo zuckte mit den Schultern und grinste. Bruder Ulrichs Arme schnellten plötzlich nach vorn, zogen Rinaldo heran, und dann umarmte dieser Bär von einem Mönch den kleinen Sänger, dass das Wasser aufspritzte. Rinaldo riss überrascht die Augen auf; dann klopfte er Bruder Ulrich auf den Rücken und auf die Arme und zwinkerte, als hätte er ebenfalls Wasser in den Augen. Tiberius warf die Arme in die Luft, schüttelte den Kopf und machte sich daran, das Seil wieder aufzurollen.
»Was ist hier eigentlich passiert?«, knurrte er.
»Wir haben …«, sagte Bruder Ulrich hustend.
»… keine Ahnung«, erklärte Rinaldo. »Plötzlich kam die Wasser herunter. Deine Hypocaust funktioniert wirklich nicht, Tiberius. Mehr als das, er ist lebensgefährlich. Sei froh, wenn meine Herr keine Schadenersatz dafür verlangt, dass wir beinahe ersäuft wären wie Ratten.«
»Das Ding hat Jahrhunderte gehalten.«
»Vielleicht haben ja deine Logiergäste damit herumgespielt, no?«
»Quatsch«, brummte Tiberius, wandte aber den Blick ab und starrte mit ratloser Miene in das überflutete Gewölbe hinein.
Barbara hörte das plötzliche Geräusch, mit dem ein großer Körper aus dem Wasser aufsprang. Ihre Blicke irrten von Ulrich und Rinaldo fort, aber da war Jörg schon heran und beugte sich über sie. Entsetzt wich sie einen Schritt zurück, stolperte über die eigenen Füße und fiel aufspritzend ins Wasser. Jörgs Hände griffen nach ihr.
»Ich habe kein Messer«, keuchte sie.
Jörg umfasste ihre Oberarme und stellte sie auf die Beine, als wäre sie leicht wie ein Kind. »Es … tut mir Leid«, stammelte er.
»Es … hat nicht wehgetan, und ich … ich war schon vorher nass …« Barbara stellte fest, dass sie in ihrer Überraschung ebenso stammelte wie er.
»Nein, ich meine, dass sie dich dort gefesselt zurückließen und … haben sie dir was getan?«
»Wer?«
Jörg machte eine Kopfbewegung über die Schulter hinweg. »Antonius’ Totschläger.«
Sie starrte ihn verwirrt an. Mit seinem zerzausten, wassertriefenden Bart und dem kahl geschorenen Schädel sah er mehr als abenteuerlich aus, und zugleich wie ein Junge, dem soeben klar wird, dass er mit viel Glück ungeschoren aus einer großen Dummheit herausgekommen ist.
»Nein«, sagte sie, »ihr wart noch nicht lange fort, da kam Rinaldo und machte mich los.«
Jörg nickte. »Gut«, sagte er. »Gut.« Er drehte sich zu Ulrich und Rinaldo um und nickte dem kleinen Sänger zu. »Gut.«
»Wenn es um eine Jungfrau in die Not geht, wende dich an eine Italiener«, erklärte Rinaldo.
Jörg lachte. »Ausnahmsweise gebe ich dir Recht.« Er wandte sich wieder an Barbara. Sein Lachen erstarb und machte einem verlegenen Gesicht Platz.
»Du hättest mir mit dem Schwert den Arm abhacken können«, sagte sie.
»Du hättest Ulrich lange vorher die Kehle durchschneiden können.«
»Ich wusste schon, bevor du kamst, dass er nicht die richtige Jagdbeute war.«
»Und auf wen hattest du es abgesehen?« Jörg nickte mit dem Kopf zu dem stillen Lumpenbündel bei der Tür.
Barbara nickte. Das Wissen, dass es sich bei dem Toten um Bruder Antonius handeln musste, schwamm ganz von selbst an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Die Jagd war vorüber. Die Rache war nicht ihre gewesen, doch das Ungeheuer war tot. Sie musste nicht mehr über ihn nachdenken. Sie musste nicht mehr über Gregor nachdenken, oder wenn doch, dann nur in einer liebevollen Erinnerung an einen ungeschickten Mann jenseits seiner besten Jahre, der seine junge Frau immer auf den Händen zu tragen versucht hatte. Das Ungeheuer war beseitigt, und sein Tod lag nicht einmal auf ihrer Seele. Plötzlich begann sie zu weinen, lautlos und kläglich, schlug die Hände vors Gesicht, sank in die Knie, krümmte sich vornüber und ließ den Tränen freien Lauf.
»Rom«, hörte sie Tiberius sagen, als er an ihr vorüberstapfte. »Denk darüber nach.« Sie antwortete ihm nicht. Das Weinen war qualvoll und befreiend zugleich. Sie vernahm das Platschen, als Tiberius zur Treppe watete. »Kommt schon, Leute, hier gibt’s nichts mehr zu sehen«, rief er. »Junge, lauf zur Schöffenstube, damit sie wissen, was hier passiert ist … und damit die anwesenden Herren Schöffen nicht gezwungen sind, Zeugnis über ihr Hiersein abzulegen.« Verlegenes Gelächter. Tiberius’ Stimme kam in Schwung. »Ihr, meine Herren, denkt daran, dass auch das Haus über unseren Köpfen hätte zusammenstürzen können und wir dann alle tot wären. Eine gute Gelegenheit, unser Überleben zu feiern, nicht wahr?«
Barbara hörte ein paar Männer zustimmen und vernahm das überraschte Kichern einer Hübschlerin, das sich in ein aufreizendes Stöhnen verwandelte.
»Stich ein Fass an, Tiberius«, rief jemand.
»Aber nein«, rief Tiberius. »Ich bin doch derjenige, der den meisten Schaden hat. Aber ausnahmsweise werde ich zulassen, dass jemand ein Fass von draußen hereinbringt, wenn er’s selber bezahlt!«
»Jörg.«
Der Ritter drehte sich zu Bruder Ulrich um. Barbara hob den Blick, fühlte sich leer und ausgeweint. Sie sah Rinaldo gestikulieren und auf sie, dann auf sich selbst deuten, während er offensichtlich erklärte, wie es zugegangen war, dass er und sie Verbündete geworden waren. Jörg zögerte; dann stapfte er zu Ulrich und Rinaldo hinüber. Barbara blieb auf den Knien. Sie war zu erschöpft, auch nur auf die Beine zu kommen. Ulrich blickte Jörg groß an. Jörg drehte wieder um, hob sie ohne Federlesen hoch und trug sie zu den beiden anderen Männern, wo er sie abstellte. Zu ihrer eigenen Verwunderung knickten ihre Knie nicht ein. Rinaldo tätschelte ihren Arm. Sie sah zu Ulrich hoch.
»Es war ein Irrtum«, flüsterte sie.
Ulrich schüttelte den Kopf. »Es war Sankt Albo«, sagte er. »Wenn er dich nicht auf unseren Weg gesandt hätte, wären wir alle tot.« Er streckte die Hand aus. Sie zuckte zurück, doch er malte nur ein Kreuz auf ihre Stirn. »Gesegnet seist du, und Friede deiner Seele, die ihn verdient hat.«
Barbaras Blicke irrten unwillkürlich zu dem Toten an der Tür ab. Bruder Ulrich nickte bedächtig; dann watete er durch das Wasser, bückte sich und drehte den Toten herum. Er lag da, eingewickelt in seine Kutte wie in sein eigenes finsteres Leichentuch. Ulrich zögerte einen langen Augenblick; dann schlug er einen Teil der Kutte zurück.
Ein Totenschädel grinste ihn an.