Kapitel 11.
Das soll es sein?«, fragte Ulrich zweifelnd. »Der Heilige Knochen? Das hört sich nach Blasphemie an. Sollten wir nicht lieber in der Nähe des Doms Unterkunft suchen?«
Rinaldo, der seine gute Laune noch nicht ganz wiedergefunden hatte, sah ihn von unten herauf an. »Willst du für die Rückkehr von die Albo beten oder danach suchen?«
Ulrich saß unschlüssig auf dem Rücken seines Tiers.
»Natürlich schauen wir uns bei die Dom um«, sagte Rinaldo und seufzte. »Aber wir müssen ja auch wo schlafen und essen, no?«
»Ausgerechnet hier?«
»Die Wirt hat gesagt, er hat ein eigene Kammer für uns. Was willst du mehr?«
»Und er tritt sie uns ab? Das gibt’s doch gar nicht.«
Rinaldo nahm Ulrich die Zügel seines Pferdes aus der Hand und zerrte es hinter sich her zu den Stallungen der Herberge, um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Tatsächlich war der Heilige Knochen nicht der schlimmste Fleck Kölns, an dem man für ein paar Münzen etwas zu trinken, eine Feuerstelle zum Kochen und einen Platz für den Nachtschlaf bekommen konnte. Rinaldo hatte sich sowohl bei den Zöllnern am Stadttor als auch später unter den Müßiggängern erkundigt, und er meinte den Namen des Heiligen Knochen oft genug herausgehört zu haben, um sicher zu sein, dass es ein Platz war, den die meisten kannten und wovor niemand sich fürchtete. Es war wichtig, dass sich hier viele Leute trafen; es war wichtig, dass die Nachricht in der Stadt bekannt wurde, dass Ulrich und Rinaldo hier waren und nach dem Schädel des heiligen Albo suchten. Was weiters noch zu tun war, würde Rinaldo beizeiten besorgen; doch das Hauptquartier dort aufzuschlagen, wo es viele Ohren gab, gehörte unabdingbar dazu. Er sah sich um und stellte fest, dass Ulrich ihm mit verkniffenem Gesicht folgte. Als er sich klarmachte, wie viele Überraschungen bis jetzt auf den Mönch eingestürmt waren, konnte er ihm seine Starrsinnigkeit nicht wirklich verdenken. Eigentlich hatte der Bursche sich ganz gut gehalten, und er würde seine Haltung weiter bewahren müssen … Rinaldo seufzte in sich hinein und hoffte, dass Bruder Ulrich wirklich aus dem Holz geschnitzt war, wie Rinaldo es vermutete. Wenn der Mönch die Nerven verlor, würde Rinaldo sich entweder absetzen oder allein hinter die Suche nach dem alten Knochen klemmen müssen; da Möglichkeit Eins ausfiel, wenn Rinaldo sich jemals wieder selbst in die Augen sehen wollte, wäre er in der Aufgabe gefangen, zu deren Erledigung er eigentlich nur einen kleinen Teil hatte beitragen wollen; die Erreichung seines eigenen Ziels, währenddessen (und unterstützt von Ulrichs Geld) nach einem neuen Brotgeber Ausschau zu halten, wäre dann unmöglich. Nein, er musste sich darauf verlassen, dass unter dem festen Speck um Bruder Ulrichs Seele auch ein harter Kern steckte. »Pass auf die Kopf auf«, sagte er über die Schulter, als er durch das niedrige Eingangstor schritt. Er hörte, wie Bruder Ulrich »Danke!«, murmelte.
Der Wirt stand an der Tür und begrüßte sie, was höchst unüblich war. Rinaldo war froh, dass Ulrich die Gepflogenheiten in weltlichen Herbergen unbekannt waren. Der Wirt schwitzte, und sein Lächeln war wie festgefroren. Er redete hastig und neigte dazu, Silben zu verschlucken; seine Unruhe machte dieses Leiden noch schlimmer.
»Der Friede des Herrn sei allezeit mit Euch«, knödelte er und verbeugte sich tief. Es hörte sich an wie: DerFriesHerrnallsEuch.
»Und mit deinem Geiste«, erwiderte Ulrich und machte ein erfreutes Gesicht. Rinaldo konnte förmlich spüren, wie sich im Innern des Mönchs etwas entspannte. Mit dieser Höflichkeit hatte er sichtlich nicht gerechnet. Nun, er würde noch früh genug erfahren, warum der Wirt so zuvorkommend war, doch bis dahin waren die Tatsachen, für die Rinaldo gesorgt hatte, schon gefestigt. Er nickte dem Wirt zu und warf sich in Positur.
»Meine bescheidene Herberge hat eine feine Kammer unter dem Dach, wo Euch niemand stören wird, Hochwürden«, sagte der Wirt und sah Ulrich ängstlich an. »Sie war belegt, aber ich lasse sie gerade in diesem Moment räumen.«
»Wer hat dort logiert?«, fragte Ulrich.
»Oh, Hochwürden braucht sich keine Sorgen zu machen, es ist ein Mann, kein Weib, und er ist recht reinlich gewesen.«
»Ich dachte, so einen Gast hält man sich bei Laune?«
Rinaldo sah zwischen Ulrich und dem Wirt hin und her. Ihm war klar, dass Ulrichs arglos-naive Fragen bei seinem Gegenüber ganz anders ankamen, und er grinste in sich hinein, ohne in seiner Wachsamkeit nachzulassen. Er traute Bruder Ulrich durchaus zu, eine derart naive Frage zu stellen, dass selbst der vor Ehrfurcht halb erstickte Wirt misstrauisch wurde. Er hatte den Wirt nicht nur in diese Stimmung versetzt, um die Suche nach dem Schädel bequemer und schneller abzuwickeln; es gereichte auch ihm selbst und seinen Plänen zum Vorteil, wenn man sich vor seinem vermeintlichen Herrn fürchtete. Rinaldo, der es gewöhnt war, im Wirtshaus den Inhalt seiner Börse vorzeigen zu müssen, bevor man ihn bediente, würde sich diesen Luxus nicht so schnell wieder nehmen lassen, madonna santa …
»Nun, für Hochwürden hätte ich sogar meine eigene Kammer geräumt, wenn meine Familie und ich nicht in der Schänke schlafen würden und …«
»Nein, ich meine, warum wirfst du den Mann hinaus? Er wird sich doch ärgern.«
»Er hat kein Geld, Hochwürden!«
»Also, wir haben natürlich …«
»O Gott … ich meine, o je«, der Wirt bekreuzigte sich hastig, »so war das doch nicht gemeint. Bitte, lasst Eure Münzen stecken, Hochwürden, Ihr beschämt mich. Es ist mir eine Ehre, Euch unter meinem Dach zu haben.«
»Na ja, aber …«
»Meine Herr wird die Kammer nehmen«, sagte Rinaldo.
»Ja«, sagte der Wirt und atmete auf, »ja. Ich danke Euch. Ich versichere, dass ich nicht …«
»Wann kann meine Herr in die Kammer ziehen?«
»Es dauert nur ein paar Augenblicke, bis wir die Sachen Eures Vorgängers zum Fenster hinaus … bis wir die Kammer geräumt haben.«
»Meine Herr wünscht sich in Kontemplation zu versenken.«
»Was wünsche ich?«, fragte Ulrich.
Rinaldo nahm ihn beiseite. »Du hast doch bestimmt jede Menge Messen versäumt, seit wir aufgebrochen sind, no?«
»Ja, natürlich, und ich müsste auch … wieso nennt er mich dauernd Hochwürden? Und warum schwitzt er so? Er hat nur ein dünnes Hemd an, und hier bei der Tür zieht es mächtig.«
»Wir können nicht mit die andere in Gastraum logieren oder vor Feuer in Kamin schlafen. Du brauchst eine ruhige Stelle, wo du die Anbieter auf die Zahn fühlen kannst.«
Ulrich richtete sich verwirrt auf. »Du hast sicher Recht, aber trotzdem … ich fühle mich beschämt durch seine Unterwürfigkeit. Ich werde ihm sagen, er soll das bleiben lassen.«
»Dann er wird glauben, du nimmst ihn auf die Arm.« Rinaldo hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, kaum dass es heraus war. Ulrich musterte ihn argwöhnisch.
»Auf den Arm? Wieso denn das? Für wen hält er mich?«
Zu Rinaldos Erleichterung dienerte der Wirt heran. Ulrich blickte von Rinaldo zu ihm und zurück. Man konnte dem Mönch ansehen, dass ihm ein Licht aufging, das aber noch zu klein war, um ihm die Sachlage wirklich zu erhellen.
»Kann ich den verehrten Herrn gefällig sein?«, fragte der Wirt.
»Ja«, sagte Rinaldo knapp. »Draußen die Pferde müssen versorgt werden. Die Kammer gerichtet. Etwas zu Essen gekauft, so wie ich dir vorher gesagt. Meine Herr wünscht mit solche Dinge nicht belästigt zu werden. Alle Fragen an mich, capito?«
»Natürlich«, erklärte der Wirt.
Rinaldo sah Ulrich mit einem demütigen Augenaufschlag an. »Wenn Hochwürden so freundlich sein wollen, dem Wirt drei oder vier Pfennige zu geben, damit er für Hochwürdens Wohlergehen sorgen kann? Untertänigster Diener, Hochwürden.«
Ulrich zog den Beutel hervor und zählte vier Pfennige ab. Er hatte den Mund nachdenklich zu einer Schnute verzogen und musterte sowohl Rinaldo als auch den Wirt aus den Augenwinkeln. Rinaldo konnte sehen, wie seine Stirn sich langsam in Falten legte. Er hoffte, dass der Mönch nicht plötzlich losblökte.
»Ich danke für das große Vertrauen, das die edlen Herren in mich setzen und …«, begann der Wirt.
»Meine Herr will nun in die Kammer«, unterbrach Rinaldo.
Der Wirt entfernte sich ein paar Schritte, wobei er sich verbeugte und rückwärts bewegte, bevor er sich herumwarf und die Treppe zum Dachgeschoss hinaufpolterte. Rinaldo sah sich um. Die Stille, die sich nach und nach über die Gäste in der Schänke gelegt hatte, löste sich in Tuscheln und Wispern auf. Da und dort reckten sich Hälse, um die beiden ungleichen Neuankömmlinge bei der Tür näher betrachten zu können. Rinaldo vernahm das Geflüster mit Befriedigung … gut! Die Gerüchtemühle konnte sich nicht früh genug in Bewegung setzen. Er schielte zu Bruder Ulrich hinauf.
Ulrich sah nachdenklich auf ihn hinunter, dann musterte er ebenso nachdenklich den Schankraum. Er sagte kein Wort mehr, bis der Wirt wieder zu ihnen stieß (noch heftiger schwitzend als zuvor) und sie nach oben führte.
Die Kammer war klein, die Decke niedrig, die Mansarde steil, sodass der Baumeister nur zwei kleine Fensteröffnungen in die Wand gebrochen hatte. Sie erhellten den Raum nur unzulänglich. Zwei Reisetruhen, die nie auf irgendwelche Reisen gegangen waren, und ein breites Bettgestell mit den üblichen Leinengurten stellten das Mobiliar dar.
»Ich lasse Säcke mit frischem Heu ausstopfen … wegen der Matratzen …«, keuchte der Wirt und deutete aufs Bett.
Rinaldos Blicke huschten durch die Unterkunft. Nicht schlecht, caro mio, nicht schlecht. Selbst zu seinen besten Zeiten im Hurenhaus in Mailand hatte er sein Nachtlager zwischen der Wachmannschaft und den Badeknechten aufschlagen müssen. Selbst im Vergleich zum Schlafsaal im Kloster war das hier Luxus. Hinter der Tür sah er einen Sack gegen die hölzerne Wand gelehnt, der selbst von weitem schwer wirkte. Etwas Zerzaustes, Federn vielleicht, lugte oben heraus; der Inhalt drückte sich teils kantig, teils sperrig von innen gegen das Sackleinen. Rinaldo winkte den Wirt mit einer Hand weg.
»Gut, gut«, sagte er. »Meine Herr ist zufrieden.«
Der Wirt schulterte ächzend den Sack (irgendetwas schepperte darin) und machte, dass er aus der Nähe seiner Gäste kam. Ulrich sah ihm ebenso schweigsam hinterher, wie er sich die letzten Minuten gegeben hatte. Rinaldo, dem die Stille plötzlich aufs Gemüt ging, schlug die Hände ineinander, rieb sie demonstrativ und versuchte dann ein aufmunterndes Kichern. Er stolzierte einmal um Ulrich herum und kam sich wie ein kleiner Junge vor, der auf die Strafpredigt wartet.
»Ecco, was sagst du nun?«, fragte er schließlich.
Ulrich sah ihn lange an. »Dass du ein Sünder bist, Rinaldo.«
»Es hat wahrscheinlich keinen Sinn mehr, dagegen anzukämpfen«, sagte Ulrich, nachdem er seinen Vorwurf unerklärt im Raum hatte stehen lassen. Er starrte auf eine Stelle vor einer der Truhen, wo kleine, scharf gezeichnete Löcher im Holzboden waren, fingerlang, aber nicht so breit. Offenbar hatte dort jemand müßig mit der Spitze eines Schwerts auf dem Boden herumgestochert. Auch Rinaldo starrte auf die Stelle.
»Stimmt, du musst die Schädel auf jeden Fall zurückbringen«, sagte er, nicht gewillt, früher aufzugeben als unbedingt nötig.
»Das meinte ich nicht.«
Rinaldo kratzte sich am Kopf. »Ich weiß«, sagte er endlich.
Ulrich seufzte. »Und was nun?«
»Ganz einfach. Ich gehe zu die Dom und rede mit die Leute und sehe zu, dass möglichst viele wissen, wozu wir hier sind – und wo sie dich finden können, wenn sie was anzubieten haben.«
»Ich hoffe, dass du dabei diskret vorgehst.«
Rinaldo hatte sich bereits einen Plan zurechtgelegt. Er würde sich in die Pilgerscharen mischen, die sich vor dem Schrein drängten, in dem die Gebeine der Heiligen drei Könige verwahrt wurden, unsichtbar und hinter schweren Schlössern, und die dort den Staub von den Flächen des Schreins sammelten oder das Öl aus dem Ewigen Licht darüber in kleine Fläschchen abfüllten. Dort würde er laut darüber nachdenken, ob man die Herausgabe der hochverehrten Reliquie sofort verlangen oder das Ende der Pilgersaison abwarten solle. Dem von solchem Gerede hoffentlich herbeigelockten Domdekan und der atemlos staunenden Menge würde er beim Hinausgehen beiläufig unter die Nase reiben, dass man sich möglicherweise auch mit der Reliquie des heiligen Albo zufrieden geben würde, eines besonders wunderträchtigen Patrons …
»Du kannst dich auf mich verlassen«, sagte Rinaldo.
Ulrich kniff die Lippen zusammen, ohne darauf zu antworten. Diese Geste schmerzte Rinaldo, und noch mehr schmerzte ihn, dass er sie verdient hatte – nicht wegen seines Ungehorsams bezüglich Ulrichs Inkognito, sondern wegen dem, was er zusätzlich zu seinem Auftritt im Dom noch tun wollte … und wovon er Ulrich nichts erzählen konnte.
Er setzte ein selbstbewusstes Grinsen auf und stiefelte zur Tür. Auf halbem Weg drehte er sich um, wie ein Mann, dem im letzten Augenblick etwas Nebensächliches eingefallen ist, das er schnell noch erledigt haben will.
»Kannst du mir eine bisschen Geld mitgeben?«, fragte er. »Vielleicht ich werde ein paar Hände salben müssen.«
Ulrich zog die Augenbrauen hoch. »Hände salben?«, echote er.
»Bakschisch«, sagte Rinaldo. »Vorauszahlung. Bestechung. Schmiere. Nenn es wie du willst.«
»Jetzt schon …?«
»Damit kann man nie früh genug anfangen.«
»Wie viel brauchst du?«
Rinaldo zögerte einen winzigen Augenblick. »Fünf Pfennig«, sagte er dann.
Ulrich schnappte nach Luft. Seine Hand blieb in seiner Gürtelbörse stecken. »Das ist ein Vermögen!«
»Es geht ja auch um ein wichtige Sache, no?«
Ulrich zählte seufzend Viertel- und Halbmünzen auf eine der Truhen. Mittendrin zögerte er und warf Rinaldo einen Seitenblick zu. Rinaldo nickte aufmunternd. Ulrich vervollständigte den Betrag und seufzte dabei noch tiefer. »Wenn das so weitergeht, sind wir pleite, bevor wir den Schädel auch nur gesehen haben«, brummte er.
Rinaldo schob die Münzen in seine hohle Hand und verstaute sie in dem Ledersäckchen, das er auf der Brust hängen hatte. Das Gewicht des Geldes spannte die Schnur und schnitt in seinen Nacken, aber es war eine beruhigende Last. Er atmete insgeheim auf … und fühlte sich noch insgeheimer wie ein Betrüger.
Ohne dich würde man Bruder Ulrico spätestens morgen in irgendeiner Gasse ausrauben, sagte er sich. Doch er konnte den Gedanken nicht vertreiben, dass er Verrat beging.
»Es kann eine Weilchen dauern«, sagte Rinaldo und öffnete die Tür.
Ulrich winkte ihm matt hinterher. »Keine Angst, ich laufe nicht weg. Wo sollte ich auch hin?«