Kapitel 1.

Jede Nacht füllte das Kerzenlicht die leeren Augenhöhlen mit Leben. Die Messen untertags verliefen wie gewohnt, doch schon bei der Komplet – im Winter bereits bei der Vesper – begann dieses Zucken, dieses Tanzen der Schatten, das wie ein Augenzwinkern war, ein kaltes, spöttisches Blinzeln. Bruder Ulrich konnte nicht anders, als ständig hinzusehen; es war ein Zwang, der ihn regelmäßig in der Hitze des Sommers frieren und in der Kälte des Winters schwitzen ließ. Dieses unheilige Schattenleben in den leeren Augenhöhlen verschwand nicht einmal, wenn Prior Remigius an hohen Feiertagen von Großzügigkeit überwältigt wurde und das Kircheninnere in der schieren Masse der Unschlittkerzen waberte und auf goldenem Licht zu schweben schien … strahlendes Gleißen überall, bis auf die blauen Schatten in den Augenhöhlen des Knochenschädels, der Ulrichs Blicke zurückgab und mit seinem unvergänglichen Totengrinsen dem Klosterarchiv zuflüsterte: Du gehörst mir, du gehörst mir, du gehörst mir … zwei dunkle Tunnel in die Angst in der Pracht des Kerzenschimmers …

Sanctis apostolis …

Inmitten Dutzender vibrierender Mönchskehlen schluckte Bruder Ulrich trocken und krächzte mit, so gut es ging. Sein Herz hämmerte und trieb ihm den Schweiß oder Kälteschauer über den Leib, je nachdem, ob im Obstgarten des Klosters der Schnee oder die Blüten die Zweige weiß färbten.

… omnibus sanctis …

Die leeren Augen des Totenschädels verfolgten Ulrichs Not und zwinkerten kalt, spöttisch und gnadenlos.

… dona nobis pacem …

Es half Bruder Ulrich in seiner Angst kein bisschen, dass der Schädel die einzige, geheiligte Reliquie des Klostergründers Sankt Albo war.