Kapitel 10.

Du kleine Ratte«, sagte Jörg und ließ seine Pranke auf die Hand des Mannes ihm gegenüber fallen. Der Lederbecher rollte auf die Tischplatte.

»Was? Bist du verrückt, Herr Ritter? Hier, die Würfel sagen ganz klar, dass du verloren hast.«

»Das kann doch nicht sein.« Jörg starrte die zwei kleinen Knochenwürfel auf der anderen Tischseite an, deren nach oben weisende Seiten jeweils zwei Punkte zeigten. Zweimal die Zwei, die doppelte Doppelung, der höchste Wert im Spiel. Seine Blicke wanderten zu dem silbernen Medaillon, das neben den Münzen seines Mitspielers auf dem Tisch lag. Er fühlte, wie ihm der Schweiß auf dem geschorenen Schädel ausbrach. »Ich hatte …«

»Zweimal die Sechs, Herr, ein vollkommen anständiges Ergebnis, ich hätte meine Alte drauf gesetzt, Herr, glaub mir. Aber hier …« Sein Mitspieler zeigte mit der freien Hand auf die Würfel und grinste schief, »was ich habe, ist trotzdem besser.«

»Das gibt’s doch nicht …«

»Tut mir Leid, Herr Ritter.« Der Mann schüttelte Jörgs Hand mit einem Gesichtsausdruck ab, der besagte, dass es ihm ganz und gar nicht Leid tat, und griff nach seinem Gewinn. Jörg sah entgeistert, wie sein Medaillon mit den Münzen zusammengeschoben wurde.

»Nein, warte!«, rief er. Der Mann sah auf. »Ich löse den Schmuck aus.«

Der Mann klaubte seine Münzen vom Tisch und zurück in seine Börse. »Vorhin hast du gesagt, du hast kein Geld zum Setzen«, sagte er leise und ohne aufzusehen. »Wenn du jetzt doch welches hast, hast du beim Spielen beschissen.«

»Ich meine, ich löse es nicht sofort aus. Ich … gib mir ein paar Tage.«

»Dann bin ich schon lange nicht mehr hier. Pech im Spiel, Glück in der Liebe, was?«

Jörg schluckte. Er streckte den Arm aus und schloss die Faust um das Medaillon. Sein Mitspieler blickte nun doch auf. Seine Augen wurden schmal. »Es ist nicht mehr deins. Lass es los.«

»Ich will …«

»Wirt! Wo ist der Wirt? He, du fauler Sack, hol die Stockerknechte! Hier wird ein ehrlicher Mann unter deinem Dach um seinen Gewinn gebracht …!«

»Pssst!«, zischte Jörg und sah sich um. Das jenseitige Ende des Raumes war fast nicht zu erkennen. Rauch, Dunst, Küchengeruch und der Gestank ungewaschener Füße waberten wie Nebel unter den tiefhängenden Deckenbalken. Der Lärm war der einer Horde blutdürstiger Seldschuken während einer Attacke, dabei war noch gar kein Streit ausgebrochen. Auf einer Bank neben dem offenen Kaminfeuer saßen zwar einige Gestalten und hofften, eine Fehde auszulösen, indem sie Brotscheiben in den Pfützen tränkten, die auf dem Boden schwammen, und ziellos in die Menge schleuderten (und danach demonstrativ unauffällig die Köpfe einzogen und … gnhihihi … blöde kicherten), aber sie schienen noch niemanden ernstlich getroffen zu haben. Ein paar Gesichter in der Nähe wandten sich Jörg und seinem Gegenüber zu, doch der Ruf nach dem Wirt war weitestgehend ungehört geblieben. Glück gehabt … der Wirt musste ja nicht unbedingt so deutlich darauf aufmerksam gemacht werden, dass Jörg mittellos war. Bis jetzt war der Wirt noch guter Hoffnung (kräftig unterstützt von Jörg), dass es sich bei dem Gast seiner einzigen Kammer unter dem Dach um einen Mann handelte, dessen finanzieller Engpass nur kurzfristig war. Wurde Jörg auf die Straße gesetzt, würde es nicht mehr lange dauern, bis er gezwungen war, sich als Halsabschneider zu betätigen, wenn er nicht verhungern wollte. Und das einem Mann, der voller Zuversicht mit Kaiser Rotbart dem Kreuz hinterhergezogen war, um die heilige Stadt Jerusalem aus der Hand der Sarazenen zu befreien! Verfluchte Misere … Jörg erinnerte sich, wie man sie in den Städten gefeiert hatte, durch die sie auf dem Hinweg gezogen waren (zumindest in denen, die nicht von ihrem Heerzug geplündert worden waren, als die lange Versorgungslinie zusammenbrach – noch weit innerhalb des Reiches, wohlgemerkt). Damals hatte die Ehrfurcht derjenigen, die nicht auf die Pilgerfahrt gegangen waren, sie für einige Zeit ernährt. Versuch das jetzt mal einzufordern … haha, noch so ein guter Witz! Jörg sah den Wirt an einem Tisch stehen, beladen mit Weinkrügen und Brotlaiben. Er hatte nichts mitbekommen. Jörg öffnete die Faust.

»Ich nehme es dir nicht weg!«, stieß er hervor. »Ich will doch nur … siehst du …« Er ließ das Medaillon aufschnappen.

Sein Mitspieler beugte sich überrascht nach vorn. »Was ist das? Haare?«

Jörg fischte mit spitzen Fingern nach der Locke. Er stellte fest, dass seine Finger zu dick waren, um sie herauszuholen – und zu sehr zitterten.

»Ist das eine Reliquie? Wenn’s so ist, war sie in dem Medaillon und gehört also mir …«

»Nein!« Jörg schüttelte den Kopf und mühte sich weiter ab. Er schüttelte das Medaillon in der Hoffnung, die Locke so zu befreien, jedoch vergeblich. Sie hatte sich in all den Jahren unter die Krempe des Schmuckstücks geschoben und sich dort seiner Form angepasst. Wenn seine Finger ein wenig dünner gewesen wären … er angelte mit abgespreiztem kleinem Finger und schob die Haarlocke hin und her, bekam sie aber nicht heraus. »Zum Teufel …«

»Von deiner Liebsten?«, fragte Jörgs Mitspieler.

Jörg brummte etwas.

»Warte mal.« Der Mann nahm Jörg das Medaillon ab und spähte hinein. Dann zog er ein dünnes Messer hervor, stocherte … und die Locke sprang heraus und segelte auf die Tischplatte. Jörg griff hastig danach.

»Eine gute Idee, Herr«, sagte Jörgs Mitspieler. »Wenn mir mal eine so sehr ans Herz wächst, schneide ich ihr auch ein paar Haare ab und leg sie hier rein. Wenn dir das ein Trost ist.« Er zwinkerte. »Mal sehen, ob ich sie ihr oben oder unten abschneide …« Er stand auf. »Dann hast du ja das Wichtigste behalten. Wie ich schon sagte: Pech im Spiel … Gott mit dir, Herr Ritter.« Er klappte das Medaillon zu, ließ es in seiner Börse verschwinden (Jörg hielt sich an der Bank fest, damit er nicht aufsprang und es mit Gewalt wieder an sich brachte), strich das Geld ein, sortierte einige Münzen wieder zurück auf den Tisch, zuckte mit den Schultern und sagte: »Kauf dir einen Becher auf meine Rechnung, Herr Ritter.« Dann verließ er das Lokal und hatte es nicht einmal eilig damit, der Bastard.

Jörg starrte auf das Geld. Die Haarlocke brannte in seiner Faust. Er spürte, wie Leute am Nachbartisch ihn neugierig musterten. Plötzlich hielt er es nicht mehr aus. Er stand ruckartig auf und drängte sich zu einem freien Platz neben den Krakeelern am Kamin – alles war besser, als von den Gaffern angestarrt zu werden und seinerseits das Almosen anzustarren, das auf dem Tisch lag und höhnisch zu blinken schien: Nimm mich, nimm mich doch … Bettler!

Die Krakeeler wandten sich Jörg zu, musterten ihn von oben bis unten, kamen zu dem Schluss, dass man ja nicht unbedingt mit jedem eine Fehde beginnen musste, und begaben sich wieder auf die Suche nach Objekten, die nicht darum zu betteln schienen, sich mit ihrem Besitzer anzulegen … nur eine dumme Bemerkung … ein schiefer Blick nur, o bitte … nein, es gab in der Schänke genügend andere, die kleiner waren … Jörg sah ihnen kurze Zeit zu, wünschte sich tatsächlich, sie mögen mit ihm anbandeln, und vergaß sie schließlich. Er öffnete die Faust und drehte die Haarlocke mit seinem dicken Zeigefinger hin und her. Sie fühlte sich spröde an, wie ein dürres Büschel vom Gras des letztes Jahres. Er schnupperte daran: ein vager Metallgeruch vom Innern des Medaillons. Er erinnerte sich an den Duft von Olivenöl, Lavendel und dem Schweiß einer wilden Jagd zu Fuß durch den Obstgarten … er hatte sie erwischt, und sie waren beide gestürzt und lachend übereinander gekugelt, bis der Stamm eines Obstbaumes sie aufhielt. Sie lag auf ihm, und ihr Haar hatte sich gelöst und hüllte sein Gesicht ein … er schloss die Augen, wie er sie damals geschlossen hatte, halb betäubt von ihrem süßen Duft … ihr Atem auf seinen Lippen … und dann der Ruck, mit dem sie in die Höhe fuhr, das Erschrecken, das ihre leuchtenden Augen stumpf machte … »Verzeih mir, verzeih mir!«, und sie sprang auf und rannte mit fliegendem Kleid davon. »Es gibt nichts zu verzeihen!«, wollte er ihr hinterherrufen, »Ich liebe dich, ich werde dich immer lieben!«, doch seine Kehle war wie zugeschnürt, und er brachte keinen Ton heraus, und es war auch besser so … und die ganze Zeit war der Duft ihres Haars um ihn und versengte sein Herz.

Das Gelächter der Kerle neben ihm riss Jörg aus der Erinnerung. Bevor er den Besitz seines Herrn verließ, hatte er es ihr noch gesagt: Ich liebe dich, ich werde dich immer lieben … immerhin hatte er sie so dazu überreden können, ihm die Haarlocke zu geben. Die einen bekamen ein Büschel Haare, die anderen den Rest. Und wem hatte sie ihr Herz gegeben? Jörg hatte in all den Jahren versucht, nicht genauer darüber nachzudenken, denn er ahnte, dass die Antwort auf diese Frage sein eigenes Herz endgültig abgedrückt hätte. Was war die Liebe schon wert, wenn es darum ging, den Besitz zusammenzuhalten, Allianzen zu schmieden, das Vermögen zu mehren? Ein Fliegenschiss im Wind war die Liebe.

Jörg schloss die Faust um die Haarlocke und blickte nachdenklich darauf. Fäuste wie Schinken. Er hatte noch nie gut die Laute spielen können und konnte es jetzt vermutlich gar nicht mehr. Die meisten bekamen einen Bauch vom Fressen und Saufen und ein lahmes Kreuz von jeder Bewegung. Was konnte Jörg dafür, wenn Fressen und Saufen und Sich-Bewegen bei ihm nur dazu führten, dass seine Schultern noch breiter, seine Arme noch muskulöser und seine Gestalt noch athletischer wurde … und was hatte es ihm genutzt im Leben? Wenn er eine feiste Plauze vor sich her getragen und ein Gesicht gehabt hätte wie eine Mastsau, wäre er auch nicht weiter unten gewesen als jetzt.

Plötzlich wusste er, was er tun musste. Er öffnete die Faust wieder, hielt sich die Locke vors Gesicht, schloss die Augen und blies darauf. Das kleine dürre Büschel Haare wirbelte auf, segelte über das Feuer, wurde von der heißen Luft nach oben getragen, taumelte wieder herunter, fing Feuer, flammte auf, stürzte wie eine kleine Sternschnuppe in die Glut und war nicht mehr. Das Werk von Sekundenbruchteilen. Jörg starrte wie betäubt in die Flammen und wünschte sich, er hätte es nicht getan.

Nach einer Weile stand er auf, ging zu seinem alten Sitzplatz zurück, versuchte sich einzureden, dass es ein Wink des Schicksals war, dass die Münzen noch auf dem Tisch lagen, und strich sie ein. Dann wurde ihm bewusst, dass der Wirt höchstselbst neben der Eingangstür stand und sie aufhielt, und ein kleiner dunkler Mann, der mit seinem Bart und seiner Gesichtsfarbe inmitten einer Schar von Pilgerfahrern nur so lange überlebt hätte, wie seine Körperteile brauchten, zwischen den schwirrenden Schwertklingen zu Boden zu fallen, stolzierte hinaus. Jörg hatte nicht darauf geachtet, wann er hereingekommen war, doch die Dauer seiner Anwesenheit hatte genügt, den Wirt zum Schwitzen zu bringen, obwohl dieser weit vom Feuer entfernt stand. Jörg fragte sich, wer da wohl die Schankstube betreten haben mochte, dass sogar der abgebrühte Wirt des Heiligen Knochen Angst vor ihm hatte.