Kapitel 27.

Nochmal für drei«, sagte Rinaldo.

Der Tavernenwirt musterte ihn ausdruckslos. »Du hast genug.«

Rinaldo sah von den drei Bechern auf, die vor ihm auf der Tischplatte standen. Er hatte Mühe, den Wirt halbwegs deutlich zu erkennen. Als er es endlich geschafft hatte, schwankte dessen Bild hin und her. Rinaldo grinste und senkte den Blick wieder. Mit einer weit ausholenden Armbewegung deutete er in Richtung der Becher. Sie standen in klebrigen Weinpfützen; Tröpfchenspuren zogen sich kreuz und quer zwischen ihnen hindurch und wurden in Richtung zu Rinaldos Tischseite immer dichter. Lediglich der Wasserkrug schien unangetastet. Rinaldo schaffte es, mit dem ausgestreckten Finger am Krug vorbeizukommen, ohne ihn umzustoßen.

»Eins für meinen Freund Giorgio, eins für meinen Herrn Ulrico und eins für mich«, sagte er und beschrieb einen vagen Kreis über den Bechern.

»Ich sagte, du hast genug.«

»Schenk ein, Herr Wirt.«

Der Wirt knurrte. Rinaldo stellte fest, dass er es ungeheuer belustigend fand. Er lachte und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass der Wasserkrug einen Satz machte. Rasch beugte der Wirt sich vor und brachte den Krug in Sicherheit. Rinaldo lehnte die Stirn auf die Tischkante. Seine gute Laune zerstob.

»Schenk ein«, sagte er unter der Tischplatte hervor. »Ich höre erst auf, wenn ich tot unter die Tisch falle.«

»Es reicht.«

»Was hast du?«, fragte Rinaldo den leeren Raum unter der Tischplatte. »Wenn ich mich bei dir hier zu Tode saufe, kannst du mich beerben … Gastrecht, no?« Der Gedanke, dass der bullige Wirt seine Kleider und sein Korsett erben würden, erfüllte ihn mit kurzfristiger Heiterkeit, und er kicherte unter dem Tisch. Doch der Gedanke an Bruder Ulrico reichte, um die Heiterkeit wieder auszulöschen.

»Bezahl erst mal, was du schon getrunken hast«, sagte der Wirt.

Rinaldo hob den Kopf und stierte den Wirt an. »Bezahlen?«, fragte er. »Bezahlen?«

Der Wirt trat einen Schritt zurück und verschwamm vollends aus Rinaldos Fokus. Rinaldo blinzelte so lange, bis er den Wirt wieder einigermaßen deutlich sah. Der Mann schaute sich im Raum um, als wollte er die anderen Zecher zur Zeugenschaft dessen aufrufen, was Rinaldo eben von sich gegeben hatte. Pech gehabt. Rinaldo war der einzige Gast. Er ließ einen lauten Schluckauf hören, der seinen schmächtigen Körper erbeben ließ.

»Was soll das heißen?«, fragte der Wirt und kniff die Augen zusammen.

»Bezahlen«, sagte Rinaldo, setzte sich gerade hin und griff im letzten Moment nach der Tischkante, sonst wäre er hintenüber von der Bank gekippt, »Rinaldo hat schon bezahlt.« Er kicherte freudlos.

»Hast du nicht!«

»Certo«, widersprach Rinaldo, und das Kichern stieg erneut in ihm auf. »Rinaldo zahlt immer. Rinaldo zahlt immer drauf!«

»Hör mal, du kleine italienische Warze …«, sagte der Wirt, stellte den Wasserkrug ab und stützte sich drohend auf den Tisch über Rinaldo. Der lehnte sich gefährlich nach hinten, um hochsehen zu können. Ein grollendes Rülpsen entfuhr ihm. Er zwinkerte und wedelte mit einer Hand vor dem Gesicht, was ihn beinahe seines Haltes beraubt hätte. »Puh«, machte er, »einer von uns beide stinkt wie eine alte Weinfass.«

Die Eingangstür zur Taverne öffnete sich, und schnelle Schritte klapperten die Stufen von der Gasse herab. Der Wirt fuhr zurück und richtete sich auf. Rinaldo brauchte eine Weile, sich umzudrehen und über die Schulter zu spähen, um zu sehen, wer da hereingekommen war. Ein Junge sprang die letzte Stufe herunter und eilte auf die Männer zu. Das Gesicht des Wirts entspannte sich und verlor den eilfertigen Ausdruck, den es plötzlich angenommen hatte.

»Hier, Onkel«, rief der Junge. Er nickte Rinaldo flüchtig zu. Zwischen seinen Fingern hielt er ein Geldstück in die Höhe. »Kannst du das für mich aufbewahren, Onkel?«

Der Wirt seufzte und lächelte zugleich. Er nahm das Geldstück in Empfang und drehte es hin und her. »Was für ein Vermögen«, sagte er. »Wenn du so weitermachst, dauert es nur noch hundert Jahre, bis du dir deinen Wunsch erfüllen kannst.«

»Ich hab doch schon ’n Haufen beisammen …«

»Ja, lauter Kleinzeugs.« Der Wirt streckte die Hand aus und rubbelte dem Jungen (er war fast so groß wie er) gutmütig durchs Haar. Der Junge zuckte die Achseln und sagte über die Schulter zu Rinaldo: »Eines Tages kauf ich mir ’ne eigene Herberge!«

Rinaldo hörte den Stolz des Jungen auf seine eigene Zielstrebigkeit heraus. Er traf ihn wie ein Stich. »Hoffentlich es dauert kein hundert Jahre mehr«, lallte er, doch niemand hörte auf ihn.

»Wer hat es dir gegeben? Dein Herr, der Geizkragen?«, fragte der Wirt.

Der Junge schüttelte den Kopf und grinste. Er deutete auf seine Stirn. »Sieh mal, das hat er mir auch noch gegeben.«

Der Wirt spähte auf die Stelle, auf die der Junge zeigte. »’ne Kopfnuss?«

»Ich wünsch dir Glück«, sagte Rinaldo. »Buona fortuna.«

»Sieht man nichts?« Der Junge schien enttäuscht. »Ich dachte, von so ’nem Mann müsste man’s sehen.«

»Was denn?«

»Den Segen. Er hat mir den Segen auf die Stirn gezeichnet und noch ’n Trinkgeld gegeben.«

»Hast du ’nem Pfaffen das Pferd gesattelt, oder was?«

»Vielleicht kannst du deine Onkel sagen, dass er mir die Becher voll schenkt«, sagte Rinaldo, doch der Junge beachtete ihn gar nicht.

»Nein, Onkel, es war nich’ in der Herberge. Ich hab ihn geführt. Und es war nich’ irgendein Pfaffe …«

Rinaldo, der die Hand ausgestreckt hatte, um den Jungen am Ärmel zu zupfen, hielt plötzlich inne. Durch das sanfte Brausen, das der Wein in seinem Kopf hervorgerufen hatte und durch das alle Geräusche gedämpft und alles Verstehen mit Verspätung drangen, hatte er ein Wort wahrgenommen: geführt. Er blinzelte angestrengt, die Hand halb in der Luft.

»Sag bloß …«, machte der Wirt und riss die Augen auf.

»Ja, Onkel, ja!«

»Ich werd verrückt. Und? Wie sah er aus?«

»Wie meinst du das?«

Rinaldo streckte die Hand zur Gänze aus und zupfte den Jungen. »Von wem redest du?«, fragte er.

»Niemand hat je sein Gesicht gesehen, und …«

»Unsinn, Onkel. Er saß in der Herberge wie du und ich …«

Rinaldo zupfte weiter. Der Junge drehte sich um. Als er Rinaldo ansah, erbleichte er.

»Re… redest du von …«, stotterte Rinaldo.

Der Junge riss sich los und trat einen weiten Schritt zurück. »Heiliger Severin!«, stieß er hervor. »Der Maure! Der Assassine! Sein Knecht!«

Der Wirt drehte den Kopf hin und her. Seine Blicke huschten zu Rinaldo und zurück zu dem Jungen. »Das ist kein Maure«, sagte er. »Das ist ein verdammter Italiener, der seinen Wein nicht bezahlen kann und dem ich jedes Glied einzeln ausreißen werde …«

»Wohin hast du ihn geführt?«, fragte Rinaldo.

»Das is’ sein Knecht …«, stieß der Junge hervor. »Das is’ kein Italiener, Onkel …«

Rinaldo stand auf. Der Junge wich zurück. Rinaldo musste sich wieder setzen, weil seine Beine sich weigerten, ihn zu tragen. »Hat er eine Angebot erhalten?«, fragte er und bemühte sich, ein zweites Mal hochzukommen. »Hat er die Schädel endlich gefunden?«

»Das soll … soll …?«, stammelte der Wirt mit dünner Stimme und zeigte auf Rinaldo.

»Er hat zwei Knechte, ’nen Riesen und ’nen maurischen Assassinen«, rief der Junge. »Ich hab’s dir doch erzählt.«

»Ja, aber …«

»Ich hab Bruder Antonius zum Kunibertsturm geführt!«, sagte der Junge. »Ich hab mich schon gewundert, wo seine Knechte sind. Dabei sitzt einer hier bei dir …« Der Junge hatte sich so weit gefangen, dass er sich vor Rinaldo verbeugte. »Das ist die Taverne meines Onkels, Herr. Ich hoffe, der Wein schmeckt Euch …« Er lächelte ängstlich und respektvoll zugleich. Rinaldo umklammerte die Tischplatte mit beiden Händen und hoffte, dass er sich diesmal auf den Beinen halten konnte. Das Brausen in seinem Kopf hatte etwas Greifbares angenommen, als hätte er einen gewaltigen Wasserstrudel zwischen den Ohren, der sich drehte und hin- und herschwappte. Er rülpste noch einmal und spürte, dass ihm etwas in der Kehle hochstieg.

»Hast du ihn allein dorthin gebracht?«, brachte er hervor.

»Ja, Herr. Er hatte es sehr eilig.«

Der Wirt blickte auf Rinaldo, dann zu den Bechern auf dem Tisch, die durch Rinaldos Bemühungen umgefallen waren, dann von diesen zu seinem Neffen und dann über den Wasserkrug zurück zu Rinaldo. »Ich wusste nicht …«, begann er.

»Allein? Merda! Wo zum Teufel war Jörg?«

»Der Riese? Weiß ich nich’, Herr.«

»Unter diesen Umständen …«, sagte der Wirt.

»Was wollte er denn dort?«

»Hat er nich’ gesagt, Herr.«

»Irgendeine gerissene Aas von Händler hat ihn rausgelockt«, schimpfte Rinaldo. »Certamente!« Er verhedderte sich zwischen Tisch und Bank, schaffte es aber, freizukommen und sogar den Wasserkrug abzufangen, der in Richtung Tischkante taumelte. Rinaldo hob ihn hoch und gestikulierte damit. »Wo ist das, die Kunibertsturm?«, fragte er.

Der Junge streckte den Arm aus. Rinaldo schaute mit stumpfsinniger Miene in die gewiesene Richtung.

»Am Nordende der Stadt«, erklärte der Wirt beflissen. »Beim neuen Mauerring. Direkt am Fluss.«

»Du hättest ihn niemals allein dorthin gehen lassen sollen«, rief Rinaldo.

»Aber Herr, ich hätt mich nie getraut, ihm zu widersprechen!«

»Dich meine ich nicht!« Rinaldo starrte in den Wasserkrug. Der Strudel in seinem Kopf drehte sich träge. Der kühle, moosige Duft aus dem Krug stieg ihm in die Nüstern und ließ seine Augen schwimmen. »Porco dio! Bist du wahnsinnig, Giorgio! Ihn allein gehen lassen!«

Rinaldo knallte den Krug so hart auf den Tisch, dass ein großer Schwall herausschwappte. Der Wirt zuckte zusammen.

»Kann ich Euch noch zu einem Schluck Wein einladen?«, fragte er und machte beschwichtigende Armbewegungen.

»No, Rinaldo!«, stieß Rinaldo hervor. »Nicht Giorgios Schuld. Ganz allein deine. Ganz allein. Madonna santa!«

Er warf sich herum und taumelte gegen eine der hölzernen Tragsäulen, die die Decke stützten. »Wo ist Tür?«, murmelte er.

Der Wirt und sein Neffe deuteten gleichzeitig in dieselbe Richtung. Rinaldo folgte ihren Blicken, straffte sich, ließ die Säule los und versuchte, sich zur Tür hin zu drehen. Seine Beine gerieten übereinander. Er machte einen komischen Tanzschritt und stieß gegen den Tisch, an dem er gesessen hatte.

»Madonna santa«, lallte er nochmals. »Auf dich ist wirklich Verlass, Rinaldo.«

Er schnappte sich den Wasserkrug und leerte ihn über seinen Kopf aus, noch bevor der Wirt oder sein Neffe eine Bewegung machen konnten. Das Wasser war eiskalt. Rinaldo schüttelte sich wie ein Hund und erschauerte, als die Nässe durch seine Kleidung auf die Haut drang. Der Strudel in seinem Kopf schien vor Schreck angehalten zu haben. Rinaldo tat einen Schritt zurück und stellte fest, dass er stehen konnte.

»Ich muss Giorgio holen«, murmelte er. »Wir ihn helfen müssen, sonst hauen sie ihn über Ohr.«

Er sah auf und entdeckte den Wirt, der mit ausgestreckten Armen dastand, als wollte er Rinaldo noch im Nachhinein daran hindern, sich das Wasser über den Kopf zu gießen. Rinaldo drückte ihm den leeren Krug in die Hände.

»Hier, für die Wein«, sagte er und stelzte zur Tür. Seine Knie wollten nachgeben, aber er zwang sie, sich zu bewegen. »Ich muss meine Herr retten.«