Kapitel 21.

Rinaldo stellte fest, dass auch er ein Loch im Herzen hatte. Tatsächlich war dieses Loch so groß, dass es schien, als wäre sein Herz zur Gänze darin verschwunden. Er lag mit geschlossenen Augen auf der Strohmatratze und tat so, als würde er noch schlafen. Von rechts ertönte Jörgs leises Atmen (angesichts seiner Größe hätte man erwartet, dass er dröhnend wie ein Schlachtross schnarchte, aber im Schlaf war er so leise wie ein Luchs), von links die geflüsterten Gebete von Bruder Ulrico, der versuchte, den Gebetsrhythmus des Klosters auch hier einzuhalten und der Rinaldo aus seinem unruhigen Schlummer geweckt hatte. Das Loch in seinem Herzen … vero, da war ein Loch, und gerissen worden war es von dem Gedanken, dass die Kameradschaft, die ihn so warm aufgenommen hatte, mit dem Erfolg ihrer Mission enden würde … und dass er sich noch einen Plan zurechtlegen musste, wie er Bruder Ulrico, den großherzigsten Menschen, der ihm je begegnet war, um weitere zehn Pfennige betrügen konnte.

Das Dilemma bestand immer noch, als sie gemeinsam an einem der Tische in der Schänke saßen, Haferbrei aßen, den der Wirt ihnen seit gestern Morgen ohne jede Aufforderung vorsetzte, und Jörg Ulrico damit aufzog, dass er so tat, als würde er Wein in seine Schüssel gießen oder ihm einen Bissen von dem kalten Fleisch aufzunötigen versuchte, während Ulrico ihm eine für seine Verhältnisse erstaunlich drastische Schilderung jenes Höllenkreises entgegenhielt, der den Völlern und Prassern vorbehalten war.

»Unser Denker und Planer ist heute so still«, sagte Jörg.

Rinaldo fühlte Ulricos wohlwollende Musterung. Er hob den Blick nicht aus der Schüssel. »Das liegt daran, dass ich gerade denke und plane«, versetzte er.

»Bereits zu einem Ergebnis gelangt?«

»Si«, sagte Rinaldo. Er atmete tief ein. Irgendwann musste er Ulrico damit konfrontieren. »Certamente. Ich … die Plan tritt nun in eine neue Phase ein, und dazu brauche ich … möchte ich …«

»Wenn du so stotterst, kann es nur was Unanständiges sein.« Jörg grinste. »Willst du uns anpumpen, damit du dir ein paar schlechte Weiber kaufen kannst?«

Rinaldo fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Er schnappte nach Luft.

»Hör auf, Jörg«, sagte Ulrich. »Du siehst doch, dass er sich gerade überlegt, wie er uns alle noch schneller aus diesem Sündenpfuhl herausbringen kann.«

Uns alle? Was sollte das heißen? War mit uns gemeint, einschließlich … Rinaldo? Natürlich war es das; Ulrico trug sein Herz auf der Zunge, doch Rinaldo wagte zu bezweifeln, dass der Mönch auch nur den Hauch einer Idee hatte, was danach aus ihrer Gemeinschaft werden sollte. Wollte er Jörg und ihn überreden, ins Kloster einzutreten? Lächerlich. Doch eine andere Möglichkeit, ihre kleine Gemeinschaft fortzusetzen, gab es nicht. Die Brüder würden keinen Sänger engagieren, und abgesehen davon vertrug die Laute keine kirchlichen Gesänge … und sie würden auch keinen Ritter aushalten, der zu ihrem Schutz Patrouillen um die Klostermauern ritt. Dennoch, dass Ulrico so unbedarft uns alle gesagt hatte, versetzte Rinaldo einen Stich. Die klugen Argumente, mit denen er die Rede hatte einleiten wollen, die die zehn Pfennig aus Ulricos Börse hätte locken sollen, hörten sich auf einmal plump und aufgesetzt an. Rinaldo sah vorsichtig auf stellte fest, dass sowohl Jörg als auch Ulrich ihn erwartungsvoll ansahen.

»Ich muss noch mal zu die Dom«, hörte Rinaldo sich sagen. »Ich lasse verbreiten, dass wir die Schädel nicht mehr brauchen, weil wir sie bereits erstanden haben.«

»Was soll das denn für einen Sinn haben?«

Rinaldo hob den Kopf, ein breites Grinsen auf dem Gesicht.

»Was wird die Kerl, die die Schädel gestohlen hat, dann wohl denken?«, fragte er.

»Verdammt, ich bin zu spät gekommen«, brummte Jörg.

»Certamente no! Er wird denken: Merda, sie haben die falsche Schädel gekauft!«

»Na und?«

»Und er wird nicht länger warten und taktieren, um den Preis in die Höhe zu treiben«, rief Ulrich, dem ein Licht aufgegangen zu sein schien. Jörg riss Mund und Augen auf und stieß hervor: »Er wird die Beine in die Hand nehmen und schnellstens hier aufkreuzen, um sicherzustellen, dass er sein Exemplar noch loswird!«

»Rinaldo, ich glaube, manchmal spricht der Heilige Geist aus dir«, sagte Ulrich.

»Ah, bah«, wehrte Rinaldo ab und bemühte sich nach Kräften, bescheiden zu tun. »Lag doch nahe.« Er schob die Schüssel mit dem Haferbrei von sich und stand auf. »Dann werde ich mal losgehen. Äh … Bruder Ulrico, es kann sein, dass ich noch ein paar Leute …«

»Ich gehe mit dir«, sagte Ulrich und stand so entschlossen auf, dass sein Bauch den Tisch verschob. Rinaldo starrte ihn überrascht an. »Jörg bleibt hier und passt auf die Verrückten auf, die heute noch vorsprechen werden.«

Jörg nickte knapp und spähte in Ulrichs Schüssel, ob dieser einen nennenswerten Rest seines Morgenmahls übrig gelassen hatte. Rinaldos Gedanken rasten.

»Bist du sicher, dass du mitkommen willst?«, fragte er. »Die Gedränge wird noch schlimmer sein als gestern.«

»Dann musst du eben auf mich aufpassen.«

»Du könntest mich verlieren …«

»Dann finde ich irgendeinen Gassenjungen, der mich hierher zurückbringt.« Ulrich streckte den Arm über den Tisch aus und klopfte Rinaldo auf die Schulter. »Danke für deine Sorge, mein Freund. Ich verspreche dir auch, ich werde so finster und arrogant dreinblicken wie ein päpstlicher Legat, um deine Reden zu unterstützen.«

»Aber …«

»Iss und trink noch was«, sagte Ulrich. »Du musst ja wieder die Hauptarbeit verrichten. Ich gehe noch für einen Moment nach oben und bete dafür, dass dein Plan heute die ersehnten Früchte trägt. Und sagt dem Wirt, er soll seine Magd auf den Markt schicken. Wenn es klappt, breche ich heute Abend mit euch das Fastengebot.« Ulrich zwinkerte ihnen zu Rinaldos unendlichem Erstaunen zu. »Mein ehrwürdiger Abt hat gesagt, alle Sünden auf dieser Mission seien mir im Vorhinein vergeben.«

Rinaldo sah ihm nach, wie er die Treppe hinaufstapfte. Jörg steckte zwei Finger in den Mund und pfiff nach dem Wirt. Ulrichs schwere Schritte verklangen; bald waren sie leise durch die Decke des Schankraums zu vernehmen, als er über den kurzen Gang im Obergeschoss zur Kammer marschierte. Es gab viele Arten von Verrat, und einem Kunden seines Brotgebers ein Messer zwischen die Rippen zu rammen war im Vergleich gesehen nicht so schlimm wie das, was Rinaldo vorhatte.

»In diese Gasse bin ich gestern hineingegangen«, sagte Ulrich und streckte einen Finger aus, als sie auf dem Domplatz angekommen waren. »Ich dachte, sie müsse mich auf direktem Weg zur Herberge führen, weil sie nach Süden verläuft …«

Ich kann es nicht tun, dachte Rinaldo. Laut sagte er: »Ja, aber die Herberge liegt von die Dom aus gesehen in Westen, bei altes Peterstor.«

Ulrich verdrehte die Augen. »Es ist hoffnungslos. Ich bin mir nicht mal sicher, ob es wirklich diese Gasse da war, die ich genommen habe.«

Ich bringe es nicht übers Herz, dachte Rinaldo. Aber wenn ich es nicht tue, kann ich die Stelle bei Tiberius vergessen. Er hat gesagt, er wartet nicht auf mich. Das Risiko ist zu groß. Meine Zukunft hängt daran.

»Als wir vom Kloster aufgebrochen sind, hatte ich nicht die geringste Hoffnung, dass ich meine Aufgabe je erfüllen würde«, erklärte Ulrich, der die Gasseneingänge musterte, wobei er ein Gesicht zog, als würden sie ihn auslachen. »Alles was ich hatte, waren deine Fröhlichkeit und dein Glaube, dass wir es schaffen. Ich wusste, wenn wir versagen, würde ich nur noch ein einziges Mal in die Klostergemeinschaft zurückkehren: um endgültig Abschied zu nehmen. Die Reliquie hält die Gemeinschaft zusammen, egal, welche hehren Gedanken Bruder Fredegar uns mitgebracht hat. Die Brüder brauchen das Symbol. Verstehst du, Rinaldo …«

Ulrich wandte sich zu Rinaldos Schrecken plötzlich um und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Ulrichs Augen leuchteten.

»Hätten wir den Schädel nicht gefunden, hätte die Suche danach das neue Symbol unserer Gemeinschaft werden müssen. Und das bedeutet, ich hätte das Kloster verlassen müssen und auf eine Fahrt gehen, die nie ans Ziel führt … schlimmer als Parzivals Suche nach dem Gral. Irgendwann hätten sie vergessen, dass der Schädel tatsächlich in seinem Schrein hinter dem Altar gelegen hatte; stattdessen hätten sie ihn als ihren Schatz in der Diaspora betrachtet. Wahrscheinlich hätten sie in den ersten Jahren noch für mich gebetet; dann hätten sie auch mich vergessen. Und es wäre ja auch vollkommen egal gewesen, ob ich lebe oder ob meine Gebeine in irgendeinem Straßengraben vermoderten, solange ich nicht ohne den Schädel zurückkehrte und ihnen damit das nahm, woran sie ihren Glauben hefteten.«

»Ich wusste nicht, dass deine Glück so stark von diese Schädel abhängt«, brachte Rinaldo hervor.

»Wie solltest du auch. Ich habe es für mich behalten, um dir nicht noch mehr Last aufzubürden. Anfangs war es mir nicht so klar, aber mittlerweile weiß ich, dass ich ohnehin keine Wahl hatte, als das Risiko anzunehmen. Alles andere wäre Verrat an Vater Remigius und allen Brüdern der Gemeinschaft.«

Ulrich nahm die Hände von Rinaldos Schultern und steckte sie in die Ärmel seiner Kutte. Er holte tief Atem.

»Deine Pläne haben meine Verzweiflung in Erwartung und das Risiko in eine Herausforderung verwandelt. Der Himmel hat dich geschickt, Rinaldo, das dachte ich von Anfang an, und jetzt ist mir klar, dass es wirklich stimmt.« Er machte eine Kopfbewegung zum Dom hin. »Lass uns gehen, mein Freund. Ich kann es kaum erwarten, Zeuge zu werden, wie du alle diese Aaskrähen aufs Neue an der Nase herumführst.«

Und so einfach war es, dachte Rinaldo, während er neben Ulrich hertrottete und in die Menschenmenge eintauchte, die zum Dom strömte. Heute nicht mit den zehn Pfennigen bei Tiberius aufzukreuzen, war bloß ein Risiko, das man auch als Herausforderung betrachten konnte. Tiberius wollte einen anderen Sänger nehmen, wenn der sich bei ihm vorstellte und auf seine Forderungen einging? Ha, sollte er doch! Es galt noch immer, was Rinaldo gesagt hatte: Einer wie er stand nicht an jeder Ecke, und wenn Tiberius sich einen Raben statt einer Drossel ins Haus geholt hatte, würde er ihn sehr schnell mit einem Tritt in den Hintern wieder auf die Gasse befördern – und Rinaldo würde erneut hineinspazieren, ein paar spöttische Bemerkungen machen und den Betrag vielleicht auf acht Pfennig drücken können. Wie er die acht Pfennig zusammenbekommen und die Zeit bis dahin überbrücken sollte, war noch die Frage, aber es gehörte nun mal zum Wesen einer Herausforderung, dass man nicht alles planen konnte. Außerdem war ja nicht gesagt, dass Tiberius wirklich Ersatz für Rinaldo fand in der kurzen Zeit, die Ulricos Mission noch dauern konnte. Gut, in diesem Fall würde die Summe von zehn Pfennig gelten, aber auch hier galt: Irgendwie würde er sie schon zusammenbekommen. Die Einzelheiten waren des Nachdenkens erst wert, wenn der Ernstfall eintrat.

Rinaldo reckte sich, bis sein Lederkorsett knackte. Er hatte plötzlich das Gefühl, der Zukunft noch nie so erwartungsvoll ins Gesicht geschaut zu haben wie in diesen Augenblicken. Ihre kleine Gemeinschaft – er, Ulrico und Jörg – würde sich in den nächsten Tagen auflösen, doch es war nicht mehr so deprimierend, wenn man sich sagen konnte: Man hatte dazugehört. Man war ein wesentlicher Bestandteil gewesen, der wertvolle Beiträge geliefert und zum Erfolg der Mission beigetragen hatte. Man konnte in späteren Jahren davon erzählen und das anheimelnde Gefühl der Freundschaft nachempfinden, das einen durch die Mission begleitet hatte, und man wusste, dass es den anderen ebenso erging, wenn sie ihrerseits an den Orten, an die das Schicksal sie spülte, über ihr Abenteuer redeten. Und wenn Rinaldo nicht gewesen wäre, dieser kleine italienische Sangesvogel, wer weiß, ob wir’s geschafft hätten. Rinaldo, ja, auf den war Verlass …

Rinaldo lächelte und reckte sich noch ein wenig höher. Er würde das Korsett bei nächster Gelegenheit ablegen. Er hatte keine Rückenschmerzen mehr.

Mit einer tiefen Verbeugung gestikulierte er in Richtung Dom. »Nach dir, Herr und Gebieter«, sagte er.

»Du kommst heute wieder zu mir?«, fragte eine schmeichelnde Stimme. Rinaldo blieb abrupt stehen. Ulrich stapfte noch ein paar Schritte weiter und kam dann zurück an seine Seite. Rinaldo starrte in das Gesicht unter dem Tuch.

»Katerina?«

Die Hübschlerin schlug das Tuch zurück und lächelte Rinaldo so voller falschem Schmelz an, dass einem die Zähne wehtaten.

»Was tust du denn hier?«

Katerina machte eine ungewisse Handbewegung über den Platz, auf dem die Menschen, die zusammen mit Rinaldo und Ulrich die Morgenmesse verlassen hatten, und diejenigen, die in den Dom wollten, um die Reliquien zu besuchen, durcheinander strudelten. »Auf Markt«, sagte sie. »Tiberius sagt, geh einkaufen.« Sie beugte sich zu Rinaldo nach vorn. »Monatskrankheit, du weißt. Gestern ging noch.« Sie lächelte. »Du warst Letzter, hast das Leiden aufgestochert, was?«

Ulrich sah von ihr zu Rinaldo und zurück. Rinaldo konnte ihm ansehen, dass er sich zu begreifen mühte, was Katerina meinte und wer sie war. Voller Entsetzen wurde ihm klar, dass Ulrich niemals begreifen durfte …

»Schön, schön«, sagte Rinaldo und wandte sich hastig ab. »Viel Glück dann beim Einkaufen.«

Katerina stellte sich ihm in den Weg. Sie lächelte immer noch ihr aufgesetztes Lächeln.

»Du kommst heute, du kannst trotzdem zu mir. Mach es wie in Rom, wie mit Knaben … kostet nur ein bisschen mehr, aber du hast Geld, nicht? So wie letzte beide Male, nur mehr?«

»Woher kennst du Rinaldo, mein Kind?«, fragte Ulrich. »Ich hoffe, du treibst nicht auch diesen verdorbenen Handel.«

Katerina äugte an Ulrich in die Höhe. Rinaldo schüttelte den Kopf und umfasste Katerinas Ellbogen, um sie in eine andere Richtung zu drehen und ihr einen Schubs zu geben, damit sie in der Menge verschwand. Aber Katerina war geübt darin, Männergriffen geschickt auszuweichen; sie glitt Rinaldo aus den Händen und lächelte zu Ulrich empor.

»Tiberius hat eigene Eingang für Pfaffen«, sagte sie. »Versteckt durch andere Haus in Gasse gegenüber, man sieht nicht reingehen. Aber keine Knabe, Ehrwürden, nur Mädchen hat Tiberius.«

»Tiberius?«, machte Ulrich.

»Lebwohl, Katerina«, sagte Rinaldo und versuchte, Ulrich weiterzudrängen.

»Du kommst heute, ja?«, fragte Katerina. »Nach Tiberius, nach Geld zahlen. Ich warte. Mache wie Knabe mit mir, kostet nur bisschen mehr. Nimm deine Ehrwürden mit, ich finde Freundin, wo macht auch wie Knabe, dann er kann seine Stachel auch mal in Mädchen senken.«

»Rinaldo …«, sagte Ulrich.

»Komm schon, Bruder Ulrico«, stieß Rinaldo hervor und zerrte verzweifelt an Ulrichs Arm. »Ich glaube, die Kleine ist verrückt.«

»Wer ist Tiberius?«, fragte Ulrich. »Warum willst du ihm heute Geld zahlen?«

»Kein Ahnung, Bruder Ulrico. Ich weiß nicht, wer diese Frau ist, woher ich soll wissen, was sie redet?« Er machte eine wedelnde Handbewegung in Katerinas Richtung. »Geh in Frieden, si? Beati pauperes spiritu.«

»Rinaldo, halt mich nicht für einen Armen im Geiste. Du hast sie mit ihrem Namen angesprochen.«

»Ah … no. Ich nenne alle Frauen Katerina, wenn ich die Name nicht kenne.«

»Quatsch«, sagte Ulrich.

»Komm schon, wir müssen uns beeilen, wenn wir unsere Plan weiterführen wollen.« Rinaldo merkte, dass er schwitzte. »Per favore, Ulrico, komm, sonst ist zu spät.«

Katerina blinzelte Rinaldo zu. Der ballte die Fäuste und erdrosselte sie in Gedanken. Ulrich stand wie ein Baum inmitten der Menschenmenge, die sich um sie herum teilte wie Wasser, das um einen Felsen in der Strömung fließt. Die meisten meuterten, drängten aber voran; die Reliquien im Dom waren wichtiger als ein vorübergehender Streithändel mit einem Betbruder und seinen Gefährten. Katerina wiegte sich in den Hüften und ließ das Tuch noch ein Stückchen tiefer sinken. Das Oberteil ihres Kleides besaß ein veritables Dekolleté. Ulrichs Augenbrauen rutschten in die Höhe.

»Ach, Renardo«, gurrte Katerina. »Du kommst nach Tiberius zu mir? Wir machen Knabenliebe, selbe Preis wie gestern, nur bisschen mehr, ich habe Sehnsucht nach dir.«

»Diese Frau verdient ihr Brot auf dem Rücken liegend«, sagte Ulrich.

»Schon möglich. So was gibt’s … und hier laufen sicher etliche davon herum.« Rinaldo hielt nach einer Lücke in der Menge Ausschau, durch die er sich mit Ulrich hätte davonstehlen und Katerina zurücklassen können … dabei wusste er schon, dass es zu spät war. Statt der Wärme, die er vor wenigen Augenblicken noch empfunden hatte, spürte er plötzlich Kälte, wie einen großen Klumpen aus Eis, der sich in seine Seele gesenkt hatte und ihn von innen heraus vereiste. Er hörte sich selber dabei zu, wie seine Gedankenspiele ins Kraut schossen: Rinaldo, ja, auf den war Verlass … und das war es auch. Man konnte sich darauf verlassen, dass ihm im falschen Augenblick die Kacke um die Ohren flog. O Gott, hörte er eine kleine Stimme in seinem Herzen jammern, warum gerade jetzt, warum musste sie gerade jetzt auftauchen und alles zerstören? Warum war es immer so, dass das Schicksal bei ihm jedes Mal sofort kassieren kam? Ich hatte es doch nicht als Verrat gemeint! Ich musste doch sehen, wo ich bleibe! Ich wollte doch nur ein guter Freund sein!

»Und du bist zu ihr gegangen«, sagte Ulrich.

Katerina hob die Hand und winkte zierlich mit ein paar Fingern. »Du kommst zu mir heute noch, Renardo?«, schnurrte sie. »Wenn du Tiberius bezahlt hast? Wenn Ehrwürden kommt mit, ich finde Freundin. Selbe Preis wie sonst, nur ein bisschen mehr …« Sie ließ sich mit aufreizendem Hüftschwung von der Menge mittragen.

»Da du nach eigenem Bekunden kein Geld hattest, als wir hierher kamen, musst du sie mit dem bezahlt haben, was du mir abgeschwatzt hast.«

»Ulrico, hör mir zu …«

»Hände salben, Leute schmieren! Nichts von alledem hast du getan. Du hast das Geld der Klostergemeinschaft ins nächste Winkelhaus getragen! Und heute wolltest du noch einmal hin? Tiberius bezahlen? Hast du deshalb versucht, mich zum Zurückbleiben in der Herberge zu überreden? Damit du ungestört deinen Tag mit diesem verruchten Weib verbringen kannst? Und wie wolltest du mir das Geld für den heutigen Besuch entlocken?«

»Bitte …«, sagte Rinaldo.

»Ecco, Bruder Ulrico«, stieß Ulrich hervor, »da muss ich noch einmal die Hand von die Domprobst salben, damit sie mir glaubt, dass wir die Schädel von die Albo schon haben!« Daran, wie der Mönch seine Stimme nachäffte und sogar in einer plumpen Nachahmung von Rinaldos Gestik mit den Händen in der Luft wedelte, erkannte Rinaldo, wie tief der Archivar getroffen war. »Und die Priester und die Diakon und die Subdiakon und die Ministranten und die Sänger von die Knabenchor und die Küster und die Kerl, die die Glocke läutet, brauchen auch noch etwas, alles in Ordnung, Bruder Ulrico, es geschieht nur zu die Besten von die Kloster und die Gemeinschaft …«

»Hör auf, Bruder Ulrico«, bat Rinaldo.

Ulrich brach ab und starrte Rinaldo an, die Hände immer noch in einer affektierten Geste erhoben. Langsam ließ er sie sinken. Rinaldo spürte, wie der Schmerz mit einem Stich in seinen Rücken zurückkehrte.

»Ich kann alles erklären«, sagte Rinaldo matt.

»Nein«, sagte Ulrich. »Das könnt Ihr nicht, Meister Rinaldo.«

Etwas zerbrach in Rinaldo, als er in Ulrichs Augen sah und seine Anrede hörte. Er sah, dass in Ulrich ebenfalls etwas zerbrochen war, vielleicht noch schlimmer als in ihm selbst. Rinaldo, ja, auf den war Verlass …

Rinaldo fuhr herum und stürzte sich kopfüber in die Menge, die erschrocken zurückwich. Er bahnte sich lautlos und mit solcher Rücksichtslosigkeit seinen Weg, dass sich eine Gasse vor ihm öffnete. Ein einziges Wort von Bruder Ulrico, ein einziger Ausruf nur, und er wäre umgekehrt. Doch Bruder Ulrico blieb stumm.

Rinaldo rannte davon und konnte nichts tun, als seine Tränen zurückzuhalten und das verzweifelte Gebrüll hinunterzuschlucken, das sich Bahn brechen wollte.

Die Kehle tat ihm so weh, als drückte jemand eine Klinge dagegen.