Kapitel 30.
Als weder Ulrich noch Jörg reagierten, verbeugte sich Bruder Antonius, als wäre er tatsächlich höflich hineingebeten worden. Dann machte er eine knappe, herrische Kopfbewegung. Der Armbrustschütze trieb Jörg vor sich her die Treppenstufen hinunter. Ulrich blieb stehen, aber seine Halsstarrigkeit war sinnlos. Bruder Antonius nahm ihn am Arm und führte ihn nach unten. Sein Griff war eisern. Ulrich wandte den Kopf. Jörg gab seine Blicke zurück, ohne etwas zu sagen. Unten angekommen, gab Antonius Rinaldo einen Fußtritt. Rinaldo rollte einmal herum und blieb auf der Seite liegen. Selbst im Fackellicht war zu sehen, dass sein Gesicht die wächserne Farbe des Todes angenommen hatte. Aus einem Mundwinkel war ein kleiner Blutfaden gesickert. Antonius zuckte mit den Schultern und führte Ulrich bis zu der Stelle vor der Wandnische, an der sie sich niedergelassen hatten, weil der Boden hier einigermaßen trocken war. Seine Knechte trieben Jörg hinterher, bis er sich neben Ulrich stellte. Ulrich sah, dass Jörgs Augen vor Zorn und etwas anderem brannten. Im Hintergrund flossen die Schatten über Rinaldos reglos daliegenden Körper, als ob die Finsternis sich seiner nun bemächtigte. Ulrich schluckte die Tränen hinunter.
»Der neue Morgen ist zwar noch nicht ganz angebrochen«, sagte Bruder Antonius, »aber ihr habt die Sache ja selbst beschleunigt.« Er wandte sich Jörg zu. »Knie nieder.«
Jörg bleckte die Zähne und reagierte nicht. Ulrich sah den Schlag nicht kommen, spürte nur den wuchtigen Hieb an der Wange. Sein Kopf wurde nach hinten gerissen. Er fing sich an der Wand ab und hob unwillkürlich eine Hand. Seine linke Gesichtshälfte begann zu pochen und wurde dann taub. Ulrich pflanzte beide Füße auf den Boden und versuchte unbeeindruckt zu wirken. Angst klammerte sich plötzlich um seine Kehle. Bruder Antonius senkte die Faust.
»Knie nieder«, sagte er erneut zu Jörg.
Jörg wechselte einen kurzen Blick mit Ulrich, dann kniete er sich langsam hin. Der zweite Knecht trat hinter ihn, zog ein Messer heraus und presste es Jörg an den Hals. »Das ist das Messer von deinem kleinen Kumpel«, zischte er ihm ins Ohr. »Wenn du ihn in der Hölle triffst, kannst du ihm sagen, dass er an deinem Tod schuld ist.«
Ulrich starrte das Messer an, dessen Klinge an der Spitze feucht war und einen kleinen dunklen Schmierfleck auf Jörgs Haut hinterließ.
»Ich will dir erklären, was jetzt passiert«, sagte Bruder Antonius zu Ulrich. »Ich frage dich, wo der Schädel ist. Du antwortest wieder, dass du es nicht weißt, und du wirst Zeuge, wie der zweite deiner Freunde das Zeitliche segnet … allerdings nicht so schnell wie der Kleine. Hast du schon mal gesehen, wie einer mit durchschnittener Kehle gleichzeitig erstickt und verblutet? Ich glaube nicht, dass dieser Anblick dir gefallen wird.«
»Ich …«, begann Ulrich mit rauer Stimme. Bruder Antonius hob eine Hand.
»Bitte! Ich bin noch nicht fertig. Wenn der Riese auf dem Boden liegt und verröchelt, frage ich dich noch einmal. Erhalte ich die gleiche Antwort wie eben, lasse ich das Messer an dir erproben. Es wird dann nicht mehr still stehen, bis du dich zu deinen Freunden in die Hölle begeben hast, ganz gleich, was du zu diesem Zeitpunkt noch zu sagen versuchst. Und stell dir vor: Wir werden mit der Messerarbeit nicht bei deinem Hals beginnen.«
Bruder Antonius schob die Hände in die Ärmel seiner Kutte und lächelte aus den Schatten seiner Kapuze heraus Ulrich an.
»Du wolltest mir doch nur noch eine Gelegenheit geben«, sagte Ulrich.
Antonius zuckte mit den Schultern. »Ich kann es mir leisten, großzügig zu sein, oder nicht?«
»Was passiert, wenn ich dir den Schädel gebe?«
»Dann werden weder meine Männer noch ich Hand an euch legen. Mein heiliger Eid.«
Ulrich sah zu Jörg hinüber. Der Ritter gab
seinen Blick ruhig zurück, ohne etwas zu sagen. Ulrich spähte zu
Rinaldos Körper, der nur eine vage Form im Dunkeln war.
Er senkte den Kopf. In seinem Innern wütete eine Stimme, doch er
hörte nicht auf sie. Als er wieder aufsah, suchte er erneut Jörgs
Blick. Der Anblick verschwamm ihm vor den Augen. Er fühlte zugleich
erbärmliche Angst und so etwas wie ein befreites Jubilieren, dass
er seine Aufgabe nicht nur erfüllen, sondern die
Klostergemeinschaft damit zu etwas Besserem führen würde. Und noch
ein Gefühl mischte sich hinein: Es tut mir Leid, Jörg, es tut mir
Leid …
Er schüttelte den Kopf.
»Ich habe den Schädel«, sagte Jörg plötzlich.
Ulrichs Gedanken kamen zum Stehen, als hätte ihm jemand ein Brett vor die Stirn geschlagen. Das Blut wich aus seinen Beinen. Bruder Antonius fuhr herum. Ulrich merkte, dass seine Knie nachgaben. Er hielt sich an der Wand fest.
»Was?«, zischte Bruder Antonius.
»Ich habe den Schädel«, erklärte Jörg zwischen den Zähnen. »Aber ich werde dir nicht sagen können, wo er ist, denn das Arschloch hinter mir schneidet mir gleich die Gurgel durch, so sehr zittert es.«
»O Gott«, stammelte Ulrich, dessen Innerstes durcheinander wirbelte. »Das ist doch eine Lüge.«
»Nimm das Messer weg«, herrschte Antonius seinen Knecht an. Der zuckte zurück und trat beiseite. Antonius streckte eine Hand aus, packte die gesenkte Armbrust und zerrte sie nach oben, bis sie auf Jörg zielte. Der Armbrustschütze fuhr erschrocken zusammen und brüllte in den Raum: »Mach’s Maul auf, Idiot!«
»Halt den Mund«, sagte Antonius leise. Er verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Dann stemmte er die Hände in die Hüften und musterte den knienden Jörg. »Rede«, forderte er ihn auf. »Du hast nur wenig Zeit.«
Diesmal wusste Ulrich, dass es kein Traum war, doch er wünschte sich, es wäre einer gewesen. Was er Jörg erzählen hörte, war so grauenhaft, dass er spürte, wie ihm übel wurde. Wie konnte es sein, dass er zweimal so getäuscht worden war? Er starrte den Ritter an, der die Augen abgewandt hatte und seine Geschichte hervorsprudelte, als wäre er noch stolz darauf.
»Ich hab mich an ihn und den Kleinen rangemacht, als mir klar wurde, dass sie den Schädel suchten, den ich ein paar Tage zuvor aus dem Kloster geklaut hatte«, sagte Jörg. »Ich war abgebrannt und dachte, ich könnte das Teil in der Stadt an irgendeinen Trottel verhökern. Dann sagte ich mir jedoch, dass der Mönch mehr dafür zahlen würde als jeder andere, und so hängte ich mich an ihn dran. Ich dachte, ich warte, bis er so verzweifelt ist, dass er jeden Preis zahlt; dann denke ich mir irgendeine Geschichte aus, mit der ich den Schädel präsentieren kann – und das Geld hätte mir gehört.«
»Aber …«, stotterte Ulrich.
»Ich bin nicht überzeugt«, erklärte Antonius.
Jörg ließ den Kopf hängen. »Sieh in dem Sack nach, den Rinaldo mitgebracht hat. Da sind meine Sachen drin. Und der Schädel.«
Ulrich war plötzlich klar, dass es eine Finte war. Jörg versuchte Bruder Antonius und seine Knechte hereinzulegen. Irgendetwas war in dem Sack, das es ihm und Jörg ermöglichen würde, die Feinde zu überwältigen und zu fliehen. Die Erleichterung schoss heiß in ihn hinein. Einen Moment lang hatte er tatsächlich geglaubt, Jörg hätte …
Der Knecht, der Jörg das Messer an die Kehle gehalten hatte, rannte zu dem Sack hinüber und rumorte darin herum. Er warf einen Helm, Schulterstücke und einen kleinen hölzernen Wappenschild heraus und hielt plötzlich inne. Dann zerrte einen Gegenstand hervor, der in Leder und Leinen eingenäht war, und hielt ihn in die Höhe. Ulrich starrte darauf, immer noch erleichtert. Was immer dort drin war, es war zu klein für einen Knochenschädel. Es musste Jörgs Trick sein, die Falle, die er sich ausgedacht hatte, um sie in letzter Sekunde zu retten …
»Bring es herüber«, sagte Antonius. Der Knecht händigte ihm seine Beute aus. Antonius wog sie in der Hand. »Gib mir das Messer.« Rinaldos Messer wechselte seinen Besitzer. Vorsichtig trennte Antonius ein paar Nähte auf. Ulrich zog den Kopf ein, aber nichts geschah. Antonius reichte das Eingenähte an Jörg weiter. »Mach es ganz auf«, sagte er.
Ulrich starrte erschrocken von ihm zu Jörg und zurück. Wie sollte der Trick jetzt funktionieren? Jörg packte die Nähte mit seinen großen Händen und zog ein gleichmütiges Gesicht. Dann riss er die Umhüllung mit einem Ruck auseinander. Etwas wurde förmlich herausgeschnellt. Antonius sprang mit einem Aufschrei nach vorn, versuchte es aufzufangen, griff ein paar Mal daneben, dass das Ding auf und ab hüpfte, und hatte es schließlich sicher. Er zog es an die Brust. Ulrich hatte etwas Weißes, Rundliches gesehen. Jörg gab seinen Blick ausdruckslos zurück und wandte sich dann Antonius zu.
Antonius spähte vorsichtig in seine gekreuzten Arme hinein. Dann begann er zu lächeln. Das Lächeln wurde immer breiter, und schließlich fing er zu lachen an.
»Jaaa!«, schrie er. »Gott liebt die Tüchtigen! ich habe ihn!«
Er riss einen weißen Knochenschädel ohne Unterkiefer hervor und hielt ihn in die Höhe. Ulrich hatte das Gefühl, ihm würde der Boden unter den Füßen weggezogen. Er fiel auf die Knie und starrte Bruder Antonius an, der einen lächerlichen kleinen Freudentanz aufführte.
»Ich habe ihn. Ich habe ihn. ich habe ihn!«