Kapitel 31.
Ich habe ihn, dachte Rinaldo in den ersten Augenblicken nach dem Erwachen aus der Besinnungslosigkeit.
Ich habe ihn … nicht im Stich gelassen.
Ein Gefühl des Triumphs, das stärker war als alle Schmerzen, durchströmte ihn und wischte die letzten Reste der Betäubung davon.
Ich habe meinen Herrn, dem ich Treue geschworen habe, am Ende nicht im Stich gelassen.
Er spürte ein dumpfes Pochen, das von der Stelle ausging, an der Antonio ihm den Dolch in den Leib gerammt hatte. Er war erstaunt, dass der Schmerz nicht größer war. Die Stelle, an der Antonios Faust seine Unterlippe gegen seine Zähne gequetscht hatte, sodass sie aufgeplatzt war, und sein Kopf, mit dem er beim Sturz von der Treppe irgendwo angeschlagen war, taten mehr weh. Vorsichtig blinzelte er und sah sich um, ob er allein war. Man hatte ihn dort liegen lassen, wohin Antonios Fußtritt ihn befördert hatte, ohne sich noch einmal um ihn zu kümmern. Anfänger! Rinaldo lachte in sich hinein. Was hätte er darum gegeben, jetzt in Jörgs Gesicht zu sehen. Es tat niemals gut, einen Gegner zu unterschätzen, und schon gar nicht war zu raten, einen Gegner für tot zu halten, wenn er in Wahrheit nur angekratzt war. Am schlimmsten war es, Rinaldo di Milano zu unterschätzen, nur weil er klein und ein Sänger war.
Vero!
Er hörte Antonio vor Freude lachen und lauschte seinen Ausführungen, wie er mit diesem Stück Beute das beste Geschäft seines Lebens machen würde. Wie er sich vorstellte, es dem Papst persönlich vor die Füße zu legen und zu erklären, dass eine ganze Stadt fieberhaft danach gesucht habe; wie der Papst ihn aufheben und fragen würde, ob es einen irdischen Wunsch gebe, den man ihm erfüllen könne neben dem Lohn, der ihm im Himmelreich gewiss war … Rinaldo bewegte verstohlen einen Arm und tastete seinen Bauch ab. Das Hemd war blutig, doch der Fleck war nicht allzu groß. Er spannte die Bauchmuskeln an. Ein Stich ging durch seinen Leib, aber nicht so arg, als dass man es nicht hätte aushalten können. Er fingerte durch den Riss im Stoff des Hemdes und fühlte das Leder des Korsetts darunter und das scharf gezeichnete Loch in dessen Panzer, wo die Klinge hindurchgedrungen und ihre Spitze ihn geritzt hatte. Na ja, geritzt … wenn Antonio nicht nochmals nachgestoßen hätte, wäre es ganz ohne Blut abgegangen; so aber war die Klinge bestimmt einen Fingerbreit in seinen Körper gedrungen. Egal, so hatte es echter ausgesehen, und die Wunde war nicht so schlimm, dass ein Kerl wie Rinaldo daran gestorben wäre. Er streichelte den Lederpanzer des Korsetts und dankte ihm, dem Hersteller und dem Pferd, von dem er damals heruntergefallen war … ein Sturz, der ihm heute das Leben gerettet hatte.
Es wurde Zeit, etwas aus dem unverhofften Vorteil zu machen, den sein wundersames und unverhofftes Überleben ihnen bescherte. Giorgio würde wissen, was zu tun war, und Giorgio würde reagieren, sobald ihm klar wäre, dass Rinaldo lebte und einsatzbereit war. Er musste es ihm nur zu erkennen geben. Rinaldo sammelte seinen ganzen Mut. Das Leben schien ihm im Augenblick kostbarer denn je, und es aufs Spiel zu setzen, um seinen Gefährten eine Fluchtmöglichkeit zu verschaffen, war eine größere Heldentat, als sich oben an der Treppe auf Bruder Antonio zu stürzen. Er schluckte, dann drehte er sich langsam und geräuschlos auf die andere Seite.
Giorgio und Ulrico knieten auf dem Boden vor einer der Wandnischen, in denen früher die Tanks für das zu erhitzende Wasser gewesen waren. Bruder Antonio stand vor ihnen und schwafelte über die Großartigkeit seiner Beute und vor allem über seine Vorstellungen, wie sehr seine Gegner nun gedemütigt wären und es fühlen müssten. Einer der beiden Totschläger des Bruders stand hinter Giorgio und hielt ein Messer an seine Kehle, achtete aber nicht auf den Ritter, sondern auf seinen Herrn. Der andere, der mit der Armbrust, stand einen Schritt hinter Antonio und zielte mit seiner Waffe in Richtung Ulrico, ohne bemerkt zu haben, dass sein Herr mittlerweile dazwischengetreten war und ein Schuss ihn direkt zwischen die Schulterblätter getroffen hätte. Einen Augenblick lang wünschte Rinaldo sich mit aller Macht, der Daumen des Kerls würde plötzlich zucken, sodass der Bolzen von der Armbrust schnellte. Die drei Schurken drehten ihm den Rücken zu. Giorgio hatte den Kopf gesenkt und sah zu Boden, und Ulrico wirkte, als hätte man ihm etwas vor die Stirn geschlagen; er starrte ins Leere.
Giorgio, sieh her zu mir, dachte Rinaldo, doch der Ritter machte keine Bewegung. Rinaldo blinzelte. Damit hatte er nicht gerechnet. Was half es, dass er hier wach, nur mäßig angekratzt und einsatzbereit herumlag, wenn er sich den Gefährten nicht bemerkbar machen konnte?
Giorgio, sieh mich an, dachte er und starrte auf das kahl geschorene Haupt des Ritters, das im Fackellicht glänzte. Sieh schon her, maledetto, du dicker, dummer Riese! Sieh mich an und reiß dem Kerl hinter dir den Kopf ab! Die anderen beiden übernehme ich …
Giorgio!
Porco dio.
Rinaldo sank in sich zusammen.
Was nun?
Antonio würde bald am Ende seiner höhnischen Ausführungen sein, und dann war es zu spät für irgendeine Aktion. Ihr unerwarteter Vorteil war nutzlos, solange es Rinaldo nicht gelang, sich mit Giorgio abzustimmen, und sei es durch ein Blinzeln. Giorgio musste den Mann hinter sich unschädlich machen und dann Ulrico packen und aus der Gefahr schaffen. Rinaldo traute sich zu, die paar Sätze bis zum Armbrustschützen zu schaffen und den Kerl zu Fall zu bringen, bevor er herumfahren und auf ihn schießen konnte. Mehr war nicht nötig. Giorgio, der flink wie ein Luchs war, würde dann schon heran sein und dem Burschen den Hals umdrehen, und dann würden sie sich Bruder Antonio vornehmen … aber Giorgio würde nichts unternehmen, bevor er nicht erkannte, dass Rinaldo …
Rinaldos Blicke zuckten überrascht von Giorgio zu Ulrico, als ihm klar wurde, dass der Mönch ihn anstarrte. Einen erschrockenen Augenblick lang lag Rinaldo ganz still. Wenn Ulrico zu offensichtlich reagierte, wäre alles zunichte … aber was für eine Chance hatte er denn?
Er hob die Hand ein klein wenig, winkte und zauberte ein Grinsen auf sein Gesicht.
Ulrico schien wie versteinert.
Plötzlich streckte er beide Hände nach vorn aus.
Madonna santa, der dumme Kerl!
Vor Entsetzen begann Rinaldo zu beten.