Kapitel 2.
Der Heilige ist weg!«
Ulrich fuhr aus seinem unruhigen Schlummer auf und sah sich mit schlechtem Gewissen nach allen Seiten um, noch bevor er begriff, was geschehen war. Er begegnete Bruder Fredegars Blick, der verschleiert war und bar aller Intelligenz, und konstatierte in diesen ersten wirren Augenblicken des Erwachens aus dem Schlaf während der Laudes, dass zumindest Fredegar ihm ein Bruder in der Sünde war … man konnte nur hoffen, dass die Klostergemeinschaft sich nicht am schlechten Beispiel des Torhüters und des Archivars orientierte, Vater vergib uns …
Dann glomm Leben in Fredegars Augen auf, und er folgte dem Blick Ulrichs hin zur Menge der gemeinen Brüder, die vor dem Altar auf dem Boden lagen.
Einer der Mönche lag nicht auf den Knien, sondern hüpfte geradezu gotteslästerlich auf und ab. Sein Finger zeigte nach vorn zum Altar. Sein Gesicht bestand aus drei runden Löchern: zwei kleinere die Augen, ein großes der Mund, aus dem ein immer schrilleres Heulen drang.
»Der Heiiilige ist weeeg!«
»ruhe!«, donnerte hinter dem Altar der Prior Remigius, dessen Predigt beim ersten Aufschrei mit einem hörbaren Knirschen zum Halten gekommen war. »Bruder Konrad, hör sofort auf!«
»Aber … ehrwürdiger Vater!« Bruder Konrad suchte in heller Aufregung nach Worten. »Aber, o heiliger Albo …«
Ulrich sah es wie eine Woge durch die aufgeschreckten Brüder gehen. Ein Kopf nach dem anderen hob sich und folgte dem Fingerzeig Bruder Konrads, und ein Gesicht nach dem anderen verwandelte sich in ein Abbild des seinen: riesige Augen und ein weit aufgerissener Mund.
Prior Remigius starrte in das metallbeschlagene Kästchen, das auf einer Säule hinter dem Altar stand. In der Dunkelheit der kleinen Kirche, die nicht viel mehr war als eine Kapelle und in der nur so viele Unschlittlichter brannten, wie es brauchte, damit die Brüder auf dem unebenen Boden nicht stürzten, glomm matt der Zierrat. Das Innere des Schreins selbst war eine dunkle Höhle, in der man kaum Umrisse zu erkennen vermochte, und doch …
Bruder Konrad hatte Recht.
»Also gut«, sagte Remigius.
Der Reliquienschrein war leer.
»Licht«, sagte Remigius und griff sich eine der krumm gezogenen Kerzen vom Altar. Als er den Reliquienschrein damit beleuchtete, ging ein Aufstöhnen durch die Gemeinschaft der Brüder. Wie es schien, hatte der Schädel sich irgendwie aus seinem Behältnis befreit, ohne Deckel oder Schloss des Schreins zu beschädigen und ohne die übertrieben teure Glasscheibe – Bruder Ulrich hatte ihretwegen auf den Ankauf eines wunderschön gemalten Codex aus einem irischen Kloster verzichten müssen – an ihrer Vorderseite zu zerbrechen. Das Silbernetz, das die Reliquie umhüllt hatte, lag auf dem dunkelroten Samtkissen. Albos Schädel war gleichsam nackt entflohen.
Remigius ließ die Kerze sinken und drehte sich langsam um.
Ulrich suchte Fredegars Blick. Die Augen des alten Mönchs waren zusammengekniffen, doch starrte er nicht zu Remigius oder zum leeren Schrein hinüber, sondern zu den Brüdern in der Kapelle. Deren erstem Aufstöhnen folgte ein zweites; dann begann das Wispern: »Er ist verschwunden!« – »Er ist tatsächlich weg!«, und immer lauter: »Sankt Albo, beschütze uns!« – »Heiliger Albo, errette uns aus der Verdammnis!« – »Sankt Albo, hilf uns Sündern!« – »sankt albo, komm zurück!«
Bruder Konrad stand inmitten der Aufregung wie Lots Weib. Emmeran und Peter, die beiden anderen beamteten Brüder auf der jenseitigen Seite des Altars, sahen vom leeren Reliquienschrein zu Prior Remigius und zurück zum Schrein. Emmeran blinzelte plötzlich wie jemand, dem ein Licht aufgeht, und legte langsam den Kopf in den Nacken, während sein Mund sich öffnete. Seine Augenbrauen, die eher wuchernden Gestrüppen glichen und über der Nasenwurzel in einem dichten Büschel zusammengewachsen waren, kräuselten sich verzückt, als er zum Gewölbe der Kapelle emporstarrte.
»Sankt Albo, warum hast du uns verlassen?«
Die jüngeren Mönche brachen in Tränen aus. Ulrich beobachtete fassungslos die Aufregung. Das war ja, als hätte man den Brüdern schlagartig den Boden unter den Füßen weggezogen, nur weil dieser potthässliche Schädel plötzlich …
Ulrich spähte aus dem Augenwinkel in Fredegars knorriges Narbengesicht und sah, wie der alte Mönch die Lippen zusammenpresste. Seine Augen waren nur noch schmale Schlitze.
»Schluss damit!«, brüllte der Prior und knallte die Kerze auf den Altar, dass sie in mehrere Stücke zerbrach und das heiße Unschlitt über Remigius’ Finger spritzte. Das obere Stück der Kerze rollte über die Steinplatte, ohne dass die Flamme erloschen wäre. Remigius drosch sie mit geballter Faust aus.
»Ite, missa est!«, rief er und schlug wild entschlossen das Kreuzzeichen.
Die Brüder regten sich nicht.
»Wo ist Sankt Albo?«, piepste eine Stimme aus ihrer Mitte.
Remigius’ schmale Gestalt schien zu versteinern. Sein Gesicht lief dunkel an.
»Diese Kleingläubigen«, presste Fredegar zwischen den Zähnen hervor und richtete seine hagere Gestalt auf, als wäre er noch der Krieger im Namen Gottes, der mit König Konrad dem Staufer ins Heilige Land gezogen und als einer von wenigen lebend zurückgekommen war. »Der Geist von Citeaux ist viel zu schwach hier!«
»Pareo iam!«, donnerte Prior Remigius. Er fasste erregt ans Vorderteil seiner Kukulle und zerrte sie aus dem Strick um seine Hüften. »Ich verlange Demut und Gehorsam!«
Die Brüder duckten sich – bis auf einen. Ulrich sah, wie Konrad sich langsam in Bewegung setzte. Das Gesicht des jungen Mannes war bleich und voller Angst. Als er voran schlurfte, kam auch in die anderen Mönche Bewegung. Alle Blicke hingen an dem leeren Schrein. Remigius blies die Backen auf und stopfte die Kukulle wieder zurück hinter den Leibstrick. Er schien unschlüssig, was ihn mehr erschütterte: das Verschwinden der Reliquie oder die Aufregung, die sich ob dieses Vorfalls in der Gemeinschaft ausgebreitet hatte.
Ulrich sah wohl als Erster das Entsetzen, das Konrads Züge verzerrte, bevor dieser sich herumwarf und zum Altar stürmte, wobei er buchstäblich über die Brüder hinwegstampfte, die sein Ansturm zu Boden geworfen hatte. Schreckensschreie hallten zur Decke der Kirche empor. Konrad setzte über den Altartisch hinweg und prallte auf Remigius, brachte den schmächtigen Prior ins Wanken, ohne ihn jedoch zu Fall zu bringen. Remigius schlang die Arme um den Bruder und drängte ihn vom Schrein weg. Konrad kämpfte gegen die Umklammerung seines Ordensoberen, schlug um sich und stöhnte, sank plötzlich in sich zusammen, umfing Remigius’ Beine und brach in Schluchzer aus, die seinen Körper schüttelten. Die Brüder beobachteten die Szene mit schreckgeweiteten Augen und kalkweißen Gesichtern. Über Remigius’ Antlitz huschten Zorn, Mitleid und ein anderes Empfinden, in dem Ulrich blankes Entsetzen über die Panik unter den Brüdern zu erkennen glaubte; es war ein Ausdruck, den Ulrich am liebsten nicht gesehen hätte, denn er wirkte verheerender auf ihn als alles Gekreische der Novizen.
Dann reckte der Prior sein Kinn nach vorn, und seine Augen wurden schmal, als er zu Ulrich und Fredegar herübersah. Ulrich stellte fest, dass er schon halb zum Altar gestürzt und dabei von Fredegar nicht einmal abgehängt worden war. Er verlangsamte seinen Schritt.
»Was soll jetzt aus uns werden?«, stöhnte Konrad.
Remigius bückte sich und machte Konrads Arme los. Dann half er ihm auf die Beine und zeichnete den Segen auf seine Stirn. »Geht in Frieden, Brüder«, sagte er leise zu der Gemeinschaft und strich Konrad über den Kopf. »Auch du, mein Sohn.« Konrad winselte. »Alles wird gut.«
Es dauerte lange, bis die Brüder endlich draußen waren, und ihr Abgang verlief in einer Stille, die selbst Ulrich quälte, der das mönchische Schweigen von Kindheit an gewöhnt war. Verschlimmert wurde das Ganze vom Schluchzen, das der eine oder andere Bruder nicht unterdrücken konnte. Remigius stand am Altar, das Gesicht noch immer dunkel; seine Haltung war wie die einer Steinfigur. Schließlich räusperte er sich und suchte die Blicke seiner beamteten Brüder: Fredegar, Ulrich, Emmeran und Peter. Von draußen erklang das letzte Schlurfen der Sandalen und das letzte Schluchzen eines ängstlichen Novizen. Remigius brauchte nichts zu sagen; die vier Brüder setzten sich in Bewegung und stapften zum Altar hinüber. Ulrich machte den Abschluss. Er spürte, wie sein Herz mit Verspätung zu hämmern begann und seine Kehle verschloss.
Fredegar, der als Bruder Torhüter über sämtliche Schlüssel verfügte, öffnete den Schrein, holte mit spitzen Fingern das silberne Netz heraus und reichte es an Prior Remigius weiter. Ulrich starrte in die gähnende Dunkelheit des Behälters und fand, dass er leer nicht weniger unheimlich aussah als sein auf so wundersame Weise verschollener Inhalt. So nahe an dem Behältnis hatte er nicht mehr gestanden, seit er dem alten Prior Gregor als Junge bei der Messe geholfen hatte. Wenn man bedachte, dass damals gerade Kaiser Rotbart seinen Krieg gegen die italienischen Städte begonnen hatte und seitdem dreißig Sommer ins Land gegangen waren, konnte man das als rekordverdächtige Leistung im Sich-Drücken werten. Ulrich wandte sich ab; der leere Schrein schien ihn anklagend anzurufen. Remigius legte das Netz zurück und klappte mit lautem Knall den Deckel zu. Bis auf Fredegar fuhren alle zusammen.
Fredegar betrachtete seinen Schlüssel und dann das kleine Schloss an der Oberseite des Schreins. »Zugeschlossen!«, knurrte er. »Er war zugeschlossen.«
»Ein Wunder ist geschehen!«, flüsterte Peter, der Kellermeister.
Fredegar hielt den Schlüssel in die Höhe.
»Unsinn!«, schnappte er. »Schau dir diesen Schlüssel an. Ein einfacher Haken. Ein Weib hätte das Schloss mit einer Kleiderspange aufbringen können. Wir waren zu leichtgläubig.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Ulrich.
»Viel … vielleicht ist er in den Himmel aufgefahren«, stammelte der Kellermeister. »Vielleicht hat ein Engel des Herrn ihn aus seinem Schrein befreit?«
Emmeran, der Sakristan, gab ein Geräusch von sich. »Ich habe von Ferne einen süßen Laut vernommen, der sich wie himmlische Chöre anhörte, und ein seltsames Licht schien dazu …«, begann er.
Ulrich verdrehte die Augen und stellte sich ein wenig abseits.
Prior Remigius schnaubte. »Fredegar will sagen, dass man uns den Schädel gestohlen hat«, sagte er. Seine Augen lagen tief in den Höhlen.
»Hast du jemanden in Verdacht?« Fredegar, immer der Mann für das Nächstliegende.
Remigius schüttelte so lange und heftig den Kopf, dass er wie ein Schläfer wirkte, der sich gewaltsam ins Wachsein rütteln will. »Was weiß ich …«
»Ich halte es für wahrscheinlich, dass wir einen Reliquienhändler unter unserem Dach beherbergt haben. In diesem Fall werden wir den Schädel niemals wiedersehen«, sagte Fredegar.
»Wie kommst du darauf?«
»Ein gewöhnlicher Dieb hätte das silberne Netz mitgehen lassen.«
Remigius seufzte und zuckte mit den Schultern. Er schien sich für Fredegars Theorie zu erwärmen. »Die Liste der Interessenten fängt wahrscheinlich beim Erzbischof an … von unten gesehen. Seit Erzbischof Rainald seinerzeit die Heiligen Drei Könige nach Köln überführt hat, ist jeder seiner Nachfolger ganz wild auf einen ähnlich gelungenen ›Fund‹.«
»Hast du schon von einem Mann namens Antonius gehört?«, fragte Fredegar und verzog verächtlich den Mund. »Es heißt, er würde lieber eine Todsünde begehen, als eine Reliquie zurückzulassen. Wenn er gerade in der Nähe ist und hinter Albo her war, ist das Rennen gelaufen, bevor es angefangen hat.«
»Antonius?«, fragte Ulrich.
Fredegar machte mit einer seiner großen Hände eine Bewegung in der Luft und ahmte eine Raubvogelkralle nach, die zuschnappt. »Er ist schon bei jedem hohen Herrn des Reichs bedienstet gewesen, wenn es darum ging, die Knochen eines Heiligen heimzuführen.« Dank Bruder Fredegars Betonung erkannte selbst Ulrich, dass im Zuge dieser Heimführungen wahrscheinlich auch so manche Seele eines Lebenden, der sich Antonius in den Weg gestellt hatte, heimgeführt worden war. Er schluckte trocken.
Prior Remigius sagte leise: »Ihr habt gesehen, wie die Brüder reagiert haben. Der Schädel muss wieder her!«
Ulrich warf einen Blick in den leeren Schrein und schlug die Augen sofort wieder nieder. Er spürte, wie sein Mut sank, und schalt sich dafür. Hatte er etwa gehofft, der Schädel sei endgültig verloren? Und dass Remigius sich in das scheinbar Unvermeidliche fügte? Was für ein Sakrileg! Vater, vergib mir armem Sünder … und lass das Ding nie wieder auftauchen. Ulrich begann im Stillen ein Paternoster zu beten, um auf andere Gedanken zu kommen.
Fredegar deutete auf die versammelten Brüder. »Und wer soll ihn suchen? Draußen, in der sündigen Welt? Keiner von uns ist seit Jahren weiter von hier fort gewesen als in einer der Grangien unseres Klosters. Und du weißt so gut wie ich, dass wir nur wenige davon haben, und alle sind ganz in der Nähe. Das Leben da draußen folgt nicht den Regeln von Citeaux, schon gar nicht in der Stadt.«
»Was willst du damit sagen?«
»Dass wir diesen Regeln folgen sollten.«
»Ich glaube, ich verstehe.«
Fredegar zuckte mit den Schultern. »Fasse es nicht als Zurechtweisung auf, ehrwürdiger Vater, aber …« Er ließ den Rest des Satzes im Raum hängen. Remigius zerrte an seiner Kukulle und stopfte sie wieder zurück. Er schien nach einer Antwort zu suchen, die er nicht hinausbrüllen musste. Ulrich hatte ihn selten so ratlos und erschüttert gesehen.
»Es war ein Licht wie vom Antlitz eines Engels«, erklärte Emmeran und deutete zur Decke der Kapelle. »Es kam von da und richtete sich direkt auf mich, und ich vernahm ein Singen …«
»Wozu brauchen wir diesen Schädel, ehrwürdiger Vater?«, hörte Ulrich sich plötzlich sagen. »Wir beten zu Jesus Christus am Kreuz, nicht zu einem alten Knochen.«
Fredegar und Remigius sahen Ulrich an. Dieser kam sich plötzlich wie ein Knabe vor, der sich in eine Unterhaltung mischt, die er nicht verstanden hat. »Unsere Gemeinschaft braucht ihn«, erklärte der Prior schließlich mit einem Unterton der Resignation. »Wir tragen die Regeln von Citeaux zwar in unseren Köpfen, aber in unseren Herzen sind sie noch nicht angekommen, wie Fredegar zweifellos bald unserem Mutterkloster berichten muss.«
Fredegar verzog das Gesicht.
Ulrich warf die Hände in die Luft. »Es kann nicht sein«, rief er, »dass unsere Gemeinschaft davon abhängt, ob ein Jahrhunderte alter Totenkopf sein Gebiss aus seinem Kästchen herausbleckt! Wenn doch, haben wir ein größeres Problem als einen verschwundenen Schädel.«
»Ulrich …«
»Ehrwürdiger Vater, verstehe mich nicht falsch, aber wovon reden wir denn? Wir haben das Zeugnis, das uns von Sankt Albos heiligem Leben überliefert ist. Wir haben den Brunnen in unserem Garten, den er hat emporsprudeln lassen, als die Heiden ihn verfolgten. Wir haben unsere schöne Gemeinschaft, und wir haben nun auch die heiligen Regeln der Zisterzienser, die im Übrigen sagen, es ist Götzenverehrung, wenn …«
»Ich kenne die Regeln von Citeaux!«, sagte Remigius.
»Ist es denn nicht ein Sakrileg, einem Körperteil unseres Heiligen die ewige Ruhe zu verwei…«
»Ich glaube, ich habe das seltsame Licht auch gesehen«, sagte Peter, der Kellermeister.
Emmeran riss die Augen auf. »Nicht auch du, Bruder!«
»Und die himmlischen Chöre vernommen …«
»Stimmen wie Honig und Morgentau!«, sagte Emmeran verzückt.
»Ich hörte, wie ein Engel direkt neben mir …«
»… über deinen Aberglauben fluchte«, sagte Ulrich, der sich aus seiner Argumentationskette gerissen fühlte und seinen Zorn über die beiden Mitbrüder nicht bezähmen konnte.
»Du kannst es nicht wissen, denn du hast es nicht vernommen«, erklärte Peter verträumt.
»Und du wirst zwei Psalmen beten für deine Blasphemie gegenüber einem Engel unseres Herrn«, sagte der Prior. Er räusperte sich und zerrte energisch am Vorderteil seiner Kutte. »Wir können uns nicht einfach damit abfinden, dass die Reliquie verschwunden ist. Mag sein, dass dein Glaube stark genug ist, Bruder Ulrich, aber bei den einfachen Brüdern ist es nicht so. Sie brauchen etwas, woran sie ihren Glauben festmachen können. Du hast doch gesehen, wie Konrad reagiert hat.«
»Wir haben das Kreuz, wir haben die Hostie, wir haben …«
»Engelschöre«, sagte Emmeran. »Stimmen wie Honig und Morgentau!«
»Das ist meine Herde. Lieber nehme ich die Strafe des ehrwürdigen Abts für mein Versagen auf mich und gestehe, dass ich es nicht vermocht habe, meine Schäfchen auf den Weg von Citeaux zu führen … als dass ich zulasse, dass diese Gemeinschaft zerfällt! Wir werden den Schädel wiederbeschaffen, und wenn wir ihn aus den Klauen des Verderbers persönlich reißen müssen.« Remigius zerrte seine Kukulle halb hinter dem Leibstrick hervor. »Wer begibt sich auf diese Pilgerfahrt?«
Schweigen breitete sich aus. Ulrich, der sich wegen Remigius’ Zurechtweisung noch immer wie ein gescholtener Novize fühlte, seufzte innerlich. Das Schweigen zog sich so in die Länge, dass es peinlich wurde. Remigius packte seine Kukulle, schien plötzlich aber keine Kraft mehr zu haben, sie noch weiter herauszuzerren.
»Er ist in den Himmel emporgefahren, ehrwürdiger Vater«, flüsterte Emmeran und lächelte entrückt.
»O Wunder …!«, sekundierte Peter.
Fredegar räusperte sich. »Willst du denn wirklich die Brüder in die sündige Welt schicken, auf der Suche nach Sankt Albos Schädel? Sie werden alle miteinander verderben.«
»Nicht die Brüder«, verbesserte Remigius ihn mit leiser Stimme. »Einen Bruder.«
»Einer? Einer allein ist da draußen verloren. Bedenke doch, wie die Welt heutzutage aussieht: gestrandete, verrohte Heimkehrer von der Pilgerfahrt, Kaiser Rotbart und der Herzog von Schwaben tot, der zweite Sohn des Kaisers noch ohne wirkliche Macht, eifersüchtige Barone, die danach trachten, das Vermögen wiederzuerlangen, das sie auf der Pilgerfahrt verloren haben, verlotterte Edelleute, Krankheiten, verderbte Weiber, Gurgelabschneider, Menschen wie Bruder Antonius …«
»Deshalb muss es einer sein, der Erfahrung in der sündigen Welt hat und mit den schurkischen Kräften des Teufels umzugehen versteht.«
Fredegar verschränkte die Arme über der Brust. »Du kannst doch wohl nicht mich meinen, ehrwürdiger Vater!«
Remigius, der zierliche, kleine, kahlköpfige Mann, der in jedem Gespräch um einen Kopf größer wirkte als seine Gesprächspartner, gab den Blick des alten Kriegers zurück. Wieder einmal erkannte Ulrich, dass Remigius tatsächlich sehr klein war. Selbst Fredegars Gestalt, an der Tunika und Kukulle nur so schlotterten, als führe ständig der Wind hindurch, wirkte massig im Vergleich zu ihm. Remigius’ Hände klammerten sich in die unordentliche Tuchfahne, als die seine Kukulle über dem Strick um seine Hüften hing.
»Wen sonst, Bruder Fredegar?« Er wies auf die anderen. In Ulrich stieg Empörung auf, mit Emmeran und Peter in einen Topf geworfen zu werden. Er öffnete den Mund, doch Emmeran kam ihm zuvor. »Engelschöre …«, seufzte der Sakristan.
»Ehrwürdiger Vater, ich bin von Otterberg hierher gekommen, um deinem Vorgänger und dir in der Unterweisung der Mönche in den heiligen Regeln von Citeaux beizustehen. Ich wollte es nicht, aber unser Vater Abt hat Demut von mir gefordert, und ich bin ihm gefolgt, ohne dass ich es in all den Jahren, die ich nun in dieser Gemeinschaft lebe, jemals bereut hätte. Ich leiste auch dir Gefolgschaft, wie die Regeln es gebieten, aber ich werde nicht gegen das Gelübde verstoßen, das ich beim Verlassen der Welt getan habe: Ich kehre nicht mehr dorthin zurück. Nun kannst du mich strafen, wie du es für richtig hältst und wie ich es verdient habe, aber es wird nichts daran ändern, dass ich meinem Schwur treu bleibe.«
Fredegar senkte die Arme an beiden Seiten herab und neigte den Kopf vor Remigius. In dieser Haltung blieb er stehen. Ulrich hatte nie zuvor erlebt, dass der alte Mann so viel an einem Stück geredet hatte. Remigius seufzte.
»Du hast keine Strafe verdient, Bruder Fredegar. Mir wäre lieber, du würdest … ich brauche dich dort draußen.«
»Die Gemeinschaft braucht den Schädel nicht.«
»Wir sind noch nicht so weit.«
»Dann sollten wir diese Möglichkeit dankbar annehmen, um zu lernen und zu wachsen.«
Remigius zerrte seine Kukulle doch noch ein Stück hervor. »Die Gemeinschaft wird auseinander brechen«, zischte er.
»Wird sie nicht. Glaube daran!«
»Doch, sie wird.« Remigius atmete tief aus. »Du hast Recht mit allem, was du gesagt hast, Bruder Fredegar, und doch rufe ich: Herr vergib mir, die Gemeinschaft wird daran zerbrechen!«
Fredegar gab Remigius’ Blick zurück. Ulrich, der noch immer neben den beiden stand, als wäre er lediglich ein architektonischer Bestandteil der Kapelle, fühlte die Blicke, als würden sie seine Eingeweide zusammenpressen. Remigius war seit zwei Jahren Prior; seine erste Amtshandlung hatte darin bestanden, an der Tür zu der kleinen Kammer neben der Tagestreppe, die den Mönchen das Parlatorium und dem Prior das Auditorium war, die zweite Regel des Benedikt anzubringen (Remigius hatte sie mit eigenen Händen geschrieben und illuminiert, während der Nacht vor seiner Weihe, in der er sich auf das Amt vorbereitete): Wisse, dass die Verantwortung auf den Hirten fällt, wenn es bei seinen Schafen einen Missertrag gibt.
Prior Remigius, der gute Hausvater seiner kleinen Gemeinschaft. Wenn sie scheiterte, scheiterte Remigius’ ganzes Leben.
»Ich kann nicht selbst gehen, das weißt du, Bruder Fredegar. Nicht in einer Zeit wie dieser. Wenn ich die Gemeinschaft jetzt allein lasse …«
»Ich gehe«, platzte Ulrich heraus.
Schweigen.
Langsam wurde Ulrich sich bewusst, was er da gesagt hatte.
Remigius starrte ihn an. Fredegar wandte den Kopf. Ulrich spürte den leeren Schrein zu seiner Linken und die Schatten in den Augen des Schädels so deutlich, als wäre Sankt Albo immer noch bei ihnen.
»Ich gehe!«, bekräftigte Ulrich und bemühte sich, seine Stimme fest klingen zu lassen.
Remigius starrte ihn immer noch an.
»Unsinn«, sagte der Prior dann und wandte sich Fredegar zu. »Im Namen des Herrn, der da sagte: ›Lass diesen Kelch an mir vorübergehen, aber Dein Wille geschehe‹, bitte ich um deinen Gehorsam, Bruder Frede …«
»Nein, warte!« Ulrich hob die Hände. »Du darfst nicht verlangen, dass Fredegar gegen sein Gelübde verstößt. Ich nehme die Bürde freiwillig auf mich!«
»Bruder Ulrich, ich erkenne deine Begeisterung für die Rettung unseres Heiligen an, umso mehr, da niemand besser weiß als ich, wie sehr du dich immer dafür eingesetzt hast, dass die Reliquie beerdigt wird und wir den gemeinen Brüdern beibringen, ihren Glauben nicht an Symbolen festzumachen.« Remigius’ Augen funkelten. »Um nicht zu sagen, ich weiß, wie sehr du Sankt Albos sterbliche Reste gehasst hast.«
»Ehrwürdiger Vater, ich …«
»Erzähl mir nichts, Bruder Ulrich. Ich bin der Schäfer dieser Herde und erkenne, was meine Schäfchen bedrückt. Du bist nicht der Richtige für diese Aufgabe. Fredegar wird sie übernehmen.«
»Nein!«, rief Ulrich. »Du machst einen Fehler.«
»Ich danke dir für die Bereitschaft, Fredegar das Kreuz abzunehmen, Bruder Ulrich, aber …«
»… auch der Herr Jesus Christus hat es einen anderen tragen lassen!«
»Das reicht jetzt«, befand Remigius. »Ulrich, ich erinnere dich an die Geschichte, als alle Brüder in die Stadt ausschwärmen mussten, nur weil du …«
»Diese Geschichte ist maßlos übertrieben worden!«
»Es ist ein Zeichen …«, sagte Fredegar plötzlich.
Remigius schloss die Augen. »O bitte, nicht auch noch du.«
»Ja, Bruder, ein Zeichen!«, jauchzte Emmeran.
»… das für Bruder Ulrich gemeint ist«, beendete Fredegar unbeeindruckt seinen Satz.
»Was soll das heißen?« Ulrich stellte fest, dass er und Remigius gleichzeitig gesprochen hatten.
»Ich bin der Ansicht, hier zeigt sich Gottes Plan am Werk«, erklärte Fredegar. »Der Allmächtige hat Ulrichs Angst vor der Reliquie erkannt, und er will, dass ihr euch aussöhnt. Wie könnte das besser geschehen als indem du ihn aus der Diaspora der Habgier und Gewinnsucht befreist? Der Herr hat den schnöden Dieb als Werkzeug benutzt, um dich und den heiligen Albo einander näher zu bringen, Ulrich!«
»Aber das ist …«
»… vollkommen im Einklang mit den heiligen Regeln von Citeaux, ehrwürdiger Vater.«
»Er wird den Schädel niemals finden. Er hat seit Jahren die Nase nicht aus unserem Kloster hinausgestreckt!«
»Es kommt auch nicht darauf an, ob der Schädel gefunden wird oder nicht.«
»Natürlich kommt es darauf an! Der Schädel ist das Symbol für unsere Gemeinschaft und muss erhalten bleiben.«
Remigius und Fredegar starrten sich an. Ulrich, der seine Zunge nur mit Mühe bezähmte, weil er wusste, dass jedes Wort von seiner Seite Remigius’ Ablehnung nur weiter gefördert hätte, sah, dass die Hände des Priors zitterten. Armer Remigius, dachte er, du hast Angst, dass dein Lebenswerk vom Erfolg eines Versagers wie mir abhängt. Herr, hilf mir. Ob ich auch durch ein dunkles Tal wandle, du bist bei mir, das weiß ich wohl; dennoch fürchte ich mich. Wie um alles in der Welt konnte ich mich nur dazu hinreißen lassen, diese Aufgabe schultern zu wollen? Herr, gib, dass Remigius sich nicht von Fredegar überzeugen lässt.
Laut hörte er sich sagen: »Ich bitte um die Absolution, ehrwürdiger Vater, damit ich unbelastet losziehen kann.«
Remigius zerrte hilflos an seiner Kutte.
»Das ist ein schlechter Traum«, murmelte er.