Für die amerikanische und besonders für die britische Regierung bedeutete die Partnerschaft mit den Sowjets stets eine Belastung. In den beiden ersten Kriegsjahren war die Sowjetunion nicht nur öffentlich für die Weltrevolution eingetreten, sondern auch mit Hitler verbündet gewesen (was sogar die am wenigsten nationalistischen Russen am liebsten vergessen würden). Außerdem herrschte in den USA und Großbritannien heftiger Ärger über den sowjetischen Einmarsch nach Finnland, in dessen Verlauf die beiden Regierungen ernsthaft erwogen, eine gemeinsame Expeditionsstreitmacht zur Unterstützung der Finnen auszusenden. Erst als die UdSSR ihrerseits von Deutschen überfallen worden war, wurde sie jäh vom Feind zum Freund.
Als Churchill die Nachricht hörte, war ihm klar, dass er der Öffentlichkeit seine Kehrtwendung nur schmackhaft machen konnte, wenn er zwischen dem russischen Volk und dessen Regierung unterschied. Dies tat er zum ersten Mal in einer denkwürdigen Rede, die unmittelbar vor Barbarossa gesendet wurde und in der er seine Unterstützung für das gewöhnliche russische Volk verkündete. Andererseits bekräftigte er seine unveränderte Ablehnung des Kommunismus.4 Die Informationsdienste der Regierung wurden angewiesen, seinem Beispiel zu folgen, doch es war nicht leicht, ein Gleichgewicht herzustellen. Die BBC, die verpflichtet wurde, einen großzügigen Anteil russischer Literatur und Musik auszustrahlen, sich jedoch von jeglicher Ideologie fernzuhalten, stützte sich in erster Linie auf Klassiker des neunzehnten Jahrhunderts (eine Rundfunkbearbeitung von Krieg und Frieden mit Celia Johnson als Natascha und Leslie Banks als Pierre war ein großer Erfolg), auf Volkslieder und Rimski-Korsakow. Die Rundfunkanstalt brauchte sechs Monate für die Genehmigung, die »Internationale« zu senden (»wir wurden aufgefordert, es nicht zu übertreiben«), und »Redner« mussten sich mit fernen historischen Themen zufriedengeben, besonders wenn sie dem linken Flügel angehörten. (Über Bernard Pares, den geachteten Gründer der Londoner School of Slavonic and East European Studies, befand man, dass er »mit Peter dem Großen nicht viel Schaden anrichten« könne.1) Der Massenhunger in Leningrad – über die gelegentliche Bemerkung hinaus, dass es in der Stadt »mit Lebensmitteln schlecht bestellt« sei – wurde nicht erwähnt. Stattdessen unterstrich man die kulturellen Verluste (Inber schrieb für ausländische Leser einen moralisierenden Artikel über Geschossschäden an einer Büste Röntgens, des Entdeckers der Röntgenstrahlen) und ihre entschlossene Verteidigung. (Ein gewisser Professor Ogorodnikow – »mit dem Mantel eines Infanteristen angetan und einem Gewehr in den Händen« – sandte dem Königlichen Astronomen brüderliche Grüße.2) Ein Vorschlag, die BBC solle ihre eigenen russischsprachigen Programme direkt in die Sowjetunion ausstrahlen, blieb fruchtlos: Als der Sowjetbotschafter Iwan Maiski darauf angesprochen wurde, habe er laut Außenminister Anthony Eden »gescheut wie ein junges Fohlen«.3
Anfang 1942 machte eine Neuigkeit die Runde, die diese Schwierigkeiten auf brillante Art zu überwinden versprach: Dmitri Schostakowitsch hatte im belagerten Leningrad an einer neuen Sinfonie geschrieben. Der mit seiner Tolle und seiner eulenhaften Brille jünger wirkende Komponist war bei Kriegsausbruch vierunddreißig Jahre alt. Mit dreizehn war das frühere Wunderkind ins Leningrader (damals Petrograder) Konservatorium eingetreten und sechs Jahre später zum sowjetischen musikalischen Establishment gestoßen, als seine Erste Sinfonie von dem großen deutschen Dirigenten Bruno Walter aufgeführt wurde. 1936 kehrte sich seine Karriere dramatisch um, als seine Oper Lady Macbeth von Mzensk, die zwei Jahre vorher eine erfolgreiche Premiere gefeiert hatte, plötzlich von der Prawda als »Chaos statt Musik« geschmäht wurde. Nachdem er in den späten dreißiger Jahren ständig mit einer Verhaftung hatte rechnen müssen, wurde er (wie Anna Achmatowa) nach der deutschen Invasion in die Gemeinschaft zurückgeholt. Er schrieb nicht nur Lieder für die Soldaten, sondern hob auch werbewirksam Schützengräben aus, bewarb sich um Aufnahme in die Volkswehr und wurde mit einem lächerlichen, altmodischen Feuerwehrhelm aus Messing auf dem Dach des Konservatoriums fotografiert. Am 17. September 1941, etwas über eine Woche nach dem Beginn der Belagerung, lud man ihn ins Rundfunkhaus ein, wo er für die Nation einen Text verlas, welcher dem »Der Feind steht vor den Toren«-Leitartikel der Leningradskaja prawda vom Vortag stark ähnelte. Er spreche, wie er den Hörern mitteilte, von der Front. Aber obwohl sich außerhalb der Stadtmauern eine tödliche Schlacht anbahnte, ging das Leben innerhalb der Mauern normal weiter, was durch die Tatsache bewiesen wurde, dass Schostakowitsch zwei Stunden zuvor den ersten Satz einer neuen Sinfonie vollendet hatte.
Der Erste, dem er die Grundzüge des neuen Werkes an einem »aschgrauen, bedrückenden Tag« vortrug, war sein Sekretär Isaak Glikman:
Er sagte, daß er mich sehen wollte, um mir den Anfang einer beabsichtigten Komposition zu zeigen, die vielleicht niemand brauchen könne, wo doch dieser unheilvolle Krieg tobe.
Nach kurzem Zögern setzte er sich an den Flügel und spielte die erhabene, wunderschöne Exposition der Siebten Symphonie und das Variationsthema, das die faschistische Invasion darstellt. Wir waren beide sehr aufgewühlt. Man muß sagen, daß Dmitri Dmitrijewitsch beim Spielen seiner neuen Werke nicht selten Tränen in die Augen traten.
Wir versanken in Schweigen. Er unterbrach es mit den folgenden Worten (die ich mir aufgeschrieben habe): »Ich weiß nicht, wie sich das Schicksal dieses Stückes entwickeln wird«, und er fügte nach einer Pause hinzu, »unausgelastete Kritiker werden mir sicher den Vorwurf machen, daß ich den ›Bolero‹ von Ravel nachahmen würde. Sollen sie mir den Vorwurf machen, so jedenfalls klingt in meinen Ohren Krieg.«4
Ähnlich gerührt war der Komponist Bogdanow-Beresowski. Er gehörte zu einer Gruppe von Musikern, denen Schostakowitsch zwei Tage nach seiner Rundfunkansprache eine längere Version vorspielte:
Einstimmig baten wir ihn, sie noch einmal zu spielen. Aber die Sirenen ertönten – ein weiterer Fliegeralarm. Schostakowitsch schlug uns vor, eine kurze Pause zu machen, während er seiner Frau und seinen Kindern Galina und Maxim half, den Luftschutzkeller zu erreichen. Uns selbst überlassen, saßen wir schweigend da. Worte schienen unangemessen für das, was wir gerade gehört hatten.5
Die Behörden, die den Propagandawert des neuen Werkes erkannten, evakuierten Schostakowitsch und seine Familie Anfang Oktober mit dem Flugzeug nach Moskau. Von dort reisten sie in einem überfüllten Zug (eine schreckliche halbe Stunde lang galt das Manuskript der Sinfonie als verloren) in die Wolgastadt Kuibyschew. Obwohl man sie dort mit mehreren anderen Familien in ein Schulzimmer stopfte und trotz tiefster Sorge um seine Mutter, seine Schwester und seine angeheirateten Verwandten, die in Leningrad zurückgeblieben waren, gelang es Schostakowitsch, die Orchestrierung der Siebten Sinfonie in Kuibyschew abzuschließen.
Die verschiedenen Premieren – in Kuibyschew am 5. März 1942, in Moskau (im Säulensaal des Kreml) am 29. März, in London und New York im Juni und Juli – wurden zu Sensationen. »Die Siebte Sinfonie«, jubelte die Prawda nach der Aufführung in Kuibyschew, »ist aus dem Gewissen des russischen Volkes hervorgegangen … Hitler konnte Schostakowitsch nicht einschüchtern; Schostakowitsch ist ein russischer Mensch.«6 Olga Berggolz, die das Moskauer Konzert besuchte, wünschte sich leidenschaftlich, dass ihr verstorbener Mann hätte dabei sein können: »Oh, welch ein Kummer, dass ich Kolja nichts davon erzählen kann. Wie schrecklich und ungerecht, dass er sie nicht hört … Im Innern weinte ich ständig, während ich dem ersten Teil lauschte, und ich war so erschöpft durch die unerträgliche Spannung, dass der mittlere Abschnitt irgendwie verschwand. Ob man sie in Leningrad gehört hat?«7 Für Alexander Werth, der ebenfalls in Moskau anwesend war, spiegelte die Sinfonie das »unendliche Mitleid mit dem russischen Volk« wider, und der finstere Flöten- und Trommelmarsch, der elfmal mit stets wachsender Lautstärke wiederholt wird, gab für ihn dem Gefühl Ausdruck, dass »das nackte Böse mit all seiner erstaunlichen, arroganten, unmenschlich beängstigenden Kraft« das Land überwältigte.8
Die Londoner Premiere der Sinfonie – am ersten Jahrestag von Barbarossa – wurde überall im Empire gesendet. Im ersten Satz, verkündete der Ansager mit einer, wie man ihn instruiert hatte, »aufrichtigen« und »enthusiastischen« Stimme, würden zwei Themen eingeführt. Das erste sei »offen und kräftig wie die einfachen, gebräunten Gesichter der Millionen sowjetischer Männer und Frauen, die sich am Sonntag, dem 22. Juni letzten Jahres, inmitten eines friedlichen, glücklichen Lebens versammelten«. Das zweite symbolisiere den deutschen Überfall – »das Thema der Faschisten – brutal, gefühllos, unversöhnlich« (Hinweise auf ihren »tückischen« und »hämischen« Charakter wurden aus dem Manuskript gestrichen). »Wenn Sie Ohren haben zu hören und ein Herz zu fühlen«, schloss der Ansager klangvoll, »werden Sie mir gewiss zustimmen, dass diese Musik eine Geschichte des edlen Heldentums, des unauslöschbaren Glaubens an den Sieg erzählt.«9 Es folgte eine BBC-Proms-Aufführung unter dem Stab von Sir Henry Wood, zu der sich sechstausend Menschen in die Albert Hall drängten.
In New York löste die Sinfonie ein Gerangel zwischen den großen Dirigenten Leopold Stokowski und Arturo Toscanini aus, die beide energisch auf die Sowjetbotschaft einwirkten, damit ihnen die Ehre der Erstaufführung zuteil wurde. Toscanini und sein NBC-Orchester setzten sich durch, und obwohl Schostakowitsch dessen Interpretation insgeheim nicht ausstehen konnte (»Er macht Hackfleisch aus ihr und übergießt das Ganze dann mit einer abscheulichen Sauce«), waren Millionen von Amerikanern an ihren Radios gebannt. Die Zeitschrift Time feierte das Ereignis, indem sie »Feuerwehrmann Schostakowitsch« auf dem Cover zeigte; die Zeile darunter lautete: »Trotz der Bomben, die in Leningrad explodierten, hörte er die Akkorde des Sieges.« Während der Saison 1942/43 wurde die Sinfonie zweiundsechzigmal in den Vereinigten Staaten aufgeführt, und viele Konzerte gerieten zu öffentlichen Demonstrationen für eine zweite Front. Entschlossen, nicht wieder von NBC ausgeschaltet zu werden, zahlte CBS der Sowjetregierung 10000 Dollar für Schostakowitschs nächste, noch ungeplante Sinfonie. Der Komponist selbst war, obwohl die Sowjetpresse ihn in den Himmel hob, von alledem entnervt. Später verglich er jeden neuen Erfolg mit einem neuen Sargnagel.10
Die letzte und ergreifendste Premiere der Siebten Sinfonie wurde am 9. August 1942 in Leningrad selbst abgehalten. Man hatte die angeseheneren Orchester der Stadt evakuiert, bevor sich der Belagerungsring schloss, weshalb das Rundfunkkomitee-Sinfonieorchester unter Karl Eliasberg die Aufgabe übernahm. Obwohl das Orchester durch die Wehrpflicht erheblich geschwächt worden war, setzte es seine Auftritte auch im Winter der Massentode fort. Es hatte sein letztes öffentliches Konzert (mit Werken von Tschaikowski) am 14. Dezember im eiskalten, blau-weißen Großen Saal der Philharmonie gegeben, und seine letzte Live-Sendung (Ausschnitte aus Rimski-Korsakows Schneeflöckchen) hatte am Neujahrstag 1942 stattgefunden. (Der erste Tenor, I.A. Lapschenkow, hielt seine Arie kaum durch und starb am selben Abend.) Ein paar Wochen später hörte Berggolz, wie Makogonenko einen Vermerk diktierte: »Erster Geiger – tot. Fagottist – dem Tode nahe. Erster Schlagzeuger – tot.«11 Insgesamt waren siebenundzwanzig Mitglieder des Orchesters umgekommen.
Ende Februar 1942 gab das Rundfunkkomitee bekannt, dass man das Orchester neu gründen wolle, und forderte alle noch in der Stadt vorhandenen Musiker auf, sich registrieren zu lassen. Als nur sechzehn darauf eingingen, humpelte Eliasberg aus dem stazionar im ehemaligen Hotel Astoria von Wohnung zu Wohnung und drängte die Bettlägerigen zum Aufstehen. Die ersten Proben dauerten, wie sich eine Oboistin erinnert, nur vierzig Minuten, und es berührte sie peinlich, dass die Gesichter einiger ihrer Freunde schmutzig vor Ruß waren und dass ihnen Läuse über den Kragen krochen. Mahlzeiten wurden bereitgestellt, doch die meisten nahmen die Zusatzverpflegung mit nach Hause zu ihren Familien. Ein erstes Konzert – man spielte Walzer und Auszüge aus Der Nussknacker und Schwanensee – fand am 5. April in dem riesigen Alexandrinski-Theater statt. Die Oboistin beobachtete, wie Eliasberg aufs Podest kletterte:
Karl Iljitsch kam mit gestärktem Hemd und im Frack heraus. Aber als er die Arme hob, zitterten ihm die Hände. Er erschien mir wie ein Vogel, der gerade angeschossen worden war und jederzeit zu Boden stürzen konnte … Nach einer Weile hörten seine Hände auf zu zittern, und er fing an zu dirigieren.
Nach dem ersten Stück applaudierte das Publikum, doch man hörte keinen Laut, da alle Fausthandschuhe trugen. Wenn man die Menge betrachtete, ließ sich nicht feststellen, wer ein Mann und wer eine Frau war. Die Frauen hatten ihren ganzen Körper eingehüllt, und die Männer trugen Umhänge und Schals oder sogar Frauenpelzmäntel. Danach fühlten wir alle uns so inspiriert, weil wir wussten, dass wir unsere Aufgabe erfüllt hatten und dass unsere Arbeit weitergehen würde.12
Die Proben für Schostakowitschs Werk begannen Mitte Juli, nur ein paar Wochen vor der Premiere. Gedacht für acht Hörner, sechs Posaunen, fünf Pauken, zwei Harfen und mindestens zweiundsechzig Streichinstrumente, überstieg die Sinfonie die Mittel des Rundfunkkomitees bei Weitem. Man forderte zusätzliche Bläser von Militärkapellen an und gab ihnen Lebensmittelkarten für Handarbeiter. Mikrofilme der Partitur trafen mit dem Flugzeug aus Schweden ein, und jeder Musiker kopierte seinen eigenen Teil per Hand. Die männlichen Musiker wurden mit Jacketts und die weiblichen mit dunklen Kleidern ausgestattet (allerdings schienen sie, wie die Oboistin berichtet, an Gestellen zu hängen). Am Morgen des Konzerts – am ersten Jahrestag des Datums, an dem Hitler angeblich ein Siegesbankett im Leningrader Hotel Astoria hatte abhalten wollen – veranstaltete General Goworow eine spezielle Abwehraktion, um Störungen durch Luftangriffe oder Sperrfeuer zu verhindern. In dem mit Würdenträgern gefüllten Auditorium geriet die Aufführung zwar einigermaßen holprig, doch die Atmosphäre war überwältigend. »Manche weinten«, erinnerte sich eine Frau aus dem Publikum,
denn nur so konnten sie ihre Erregung zum Ausdruck bringen, andere waren zu Tränen gerührt, weil sie das durchlebt hatten, was die Musik nun mit solcher Macht darstellte, oder weil sie um diejenigen trauerten, die sie verloren hatten, oder weil sie allein die Tatsache, in der Philharmonie zu sein, nicht verkraften konnten.
Während des Finales standen alle auf. »Es war unmöglich, im Sitzen zuzuhören. Unmöglich.«13 Die Deutschen, die hörten, wie die Musik aus Lautsprechern über das Niemandsland hinwegdröhnte, sollen in jenem Moment begriffen haben, dass der Krieg im Osten nie siegreich für sie enden würde. Leningrad war unbesiegbar, genau wie Mutter Russland.
Es ist eine wunderbare Geschichte, die im Rückblick jedoch überzeugender klingt als damals an Ort und Stelle. Wenige Tagebuchschreiber erwähnen das Konzert, und wenn, dann höchstens nebenher. Die chamäleonhafte Siebte – mal bedrohlich, dann nervös, erschreckend oder überweltlich – eignete sich vielleicht besser für den Sommer 1941, in dem Schostakowitsch sie komponierte, als für das betäubte und entleerte 1942. Vera Inber, die der Leningrader Premiere beiwohnte, verzeichnete bald nach ihrer Heimkehr: »… es dünkte mich, daß dies alles Leningrad gilt: das rasselnde Nahen der deutschen Panzer. Aber die strahlende Vollendung steht noch bevor.«14 Später wurde die Sinfonie zu einer Schachfigur des Kalten Krieges: Man spielte sie bis zum Überdruss in der Sowjetunion und tat sie im Westen als bombastisches Beispiel des Stalinismus ab. Schostakowitsch konnte seinen Namen erst posthum, durch von Freunden geschriebene Memoiren, reinwaschen. Er erklärte, bei der Komposition des berühmten »faschistischen« Flöten- und Trommelmarsches habe er nicht nur an die Nationalsozialisten gedacht, sondern auch »an ganz andere Feinde der Menschheit … Ich empfinde unstillbaren Schmerz um alle, die Hitler umgebracht hat. Aber nicht weniger Schmerz bereitet mir der Gedanke an die auf Stalins Befehl Ermordeten. Ich trauere um alle Gequälten, Gepeinigten, Erschossenen, Verhungerten. Es gab sie in unserem Lande schon zu Millionen, ehe der Krieg gegen Hitler begonnen hatte.«15
Die zweite große erhebende Geschichte von 1942 ist die der Leningrader Kinder. Zu Beginn der Belagerung machten Kinder unter zwölf Jahren nicht ganz 20 Prozent der Zivilbevölkerung von 2,4 Millionen aus. Bis Mai waren 170000 entweder gestorben oder über die Eisstraße evakuiert worden; Tausende mehr hatten ihre Eltern verloren oder wurden aus anderen Gründen nicht mehr versorgt.16 Eine der am häufigsten zitierten Aufzeichnungen jener Zeit, mit Bleistift über die Seiten eines kleinen Adressbuchs gekritzelt, ist die der zwölfjährigen Tanja Sawitschewa:
28. Dezember 1941 um 12.30 Uhr morgens – Schenja starb. 25. Januar 1942 um 3 Uhr nachmittags – Oma starb. 17. März um 5 Uhr morgens – Ljoka starb. 13. April um 2 Uhr morgens – Onkel Wasja starb. 11. Mai um 4 Uhr nachmittags – Onkel Joscha starb. 13. Mai um 7.30 Uhr morgens – Mama starb. Die Sawitschews sind tot. Alle sind tot. Nur Tanja ist noch übrig.
Seit Januar suchten Gruppen von Zivilschutzarbeitern, hauptsächlich junge Frauen um die zwanzig, »tote« Wohnungen auf, um Kinder wie Tanja mitzunehmen. Sie wurden in Empfangszentren der Miliz gebracht, ähnlich denen, die man fünf Jahre vorher für die Nachkömmlinge von Säuberungsopfern eröffnet hatte. Von dort gelangten Drei- bis Dreizehnjährige in 130 neue Kinderheime (98 in der Stadt, 32 in umliegenden Orten und Dörfern), die zwischen Januar und März eingerichtet worden waren. Bis Jahresende nahmen die Heime 26250 Kinder auf; davon waren 54 Prozent verwaist, und 30 Prozent hatten nur noch einen Elternteil, der beim Militär diente.17
Ältere Kinder wurden Zivilschutzteams oder Fabriken – entweder direkt oder durch Vermittlung von Gewerbeschulen – zugeteilt. Die vierzehnjährige Galina Wischnewskaja, die von ihrem Vater und ihrer Stiefmutter in Kronstadt zurückgelassen worden war, schloss sich einer nur aus Frauen bestehenden Zivilschutzbrigade an. Sie wohnte in Kasernen, trug einen Overall und lernte, Bretter auf den Schultern zu tragen, zerbrochene Rohre auszugraben, Wodka zu trinken, Machorkas zu rauchen und Jazzmelodien für Seeleute zu singen. Es war, wie sie es in ihren Erinnerungen ausdrückte, »kein Institut für hochgeborene junge Damen«. Auf diese Weise habe sie das wirkliche Leben kennengelernt.18
Ein anderes überlebendes Kind – von damals acht Jahren – war Irina Bogdanowa. Mehrere Tragödien hatten ihre Familie bereits während des Terrors heimgesucht, als man ihre Großeltern väterlicherseits in die Verbannung nach Archangelsk schickte und als ihr Vater, ein Journalist bei der Leningradskaja prawda, Selbstmord beging. Irina, ein dralles, hübsches Mädchen mit weißen Socken und blonden Zöpfen, wurde von ihrer Mutter (einer oft abwesenden Geologin), ihrer Tante und ihrer Großmutter in einer Wohnung in der Barmalejew-Straße an der Petrograder Seite aufgezogen. Im Februar 1942 fiel eine Erwachsene nach der anderen der Ruhr zum Opfer, und schließlich blieb Irina allein mit den Leichen ihrer Mutter und ihrer Großmutter zurück. Zehn Tage später wurde sie von einer einundzwanzigjährigen Zivilschutzarbeiterin gefunden, die sie der Miliz mit ihrer Kleidung und ihrer unbenutzten Lebensmittelkarte übergab (»Wie ehrlich es unter solchen Umständen von ihr war, die Karte nicht an sich zu nehmen!«, ruft Irina heute aus). Auf ihr Anmeldeformular schrieb jemand zuerst »Junge« und korrigierte den Eintrag dann zu »Mädchen«. Die Tage, die sie allein verbracht hatte, sind wie ausradiert, und Irina erinnert sich als Erstes daran, dass sie in einem großen, hellen Raum aufwachte, wo sie feststellte, dass das Mädchen, mit dem sie ein Bett teilte, tot war. Dies kam nicht selten vor: Von den 4508 Kindern, die ihn zehn vorstädtische Heime eingewiesen wurden, starben 682, zumeist innerhalb von Tagen nach ihrem Eintreffen.19
Im Frühjahr und Sommer 1942 evakuierte man die Waisenhäuser – mit insgesamt 38080 Kindern – auf das »Festland«.20 Von einer überlasteten Ortsverwaltung zur anderen geschoben, waren sie häufig wochenlang unterwegs und landeten in der tiefsten Provinz, fern von medizinischer Versorgung und dem Verkehrs- und Nachrichtenwesen. Ein extremer Fall war Kinderheim Nr. 82, dessen 135 Waisen in zwei kleinen unbeleuchteten Hütten in einer winzigen westsibirischen Siedlung untergebracht wurden, fünfundzwanzig Kilometer vom nächsten Telegrafen und achthundert Kilometer von der Eisenbahn entfernt.21 Irina Bogdanowa fand sich mit ihrem Kinderheim Nr. 57 in einem Dorf in der Gegend von Jaroslawl wieder. Das dortige Leben sei »schwer, aber gut« gewesen. Die Kinder schliefen auf Heumatratzen und mussten ernsthafte Arbeit leisten: Sie sammelten Pilze und Beeren – nichts davon durfte gegessen werden, bevor die Norm nicht erfüllt war – und wurden geächtet, wenn man sie beim Diebstahl von Lebensmitteln erwischte. Irina musste sich vor der ganzen Schule entschuldigen, nachdem sie auf dem Heimweg von der Dorfbäckerei Brotkrumen aus einem Laib gepickt und sie mit Lindenknospen vermischt hatte: »Sie waren süß und klebrig und passten so gut zum Brot – noch heute erinnere ich mich an den Geschmack.«22
Für Kinder wie für Erwachsene brachte die Erholung natürlich noch anderes als nur bessere Rationen mit sich. Überlebende erzählen von hartnäckiger Sorge, Stumpfsinn, Misstrauen gegenüber Erwachsenen und Besessenheit von Nahrung. Auf die Frage, ob sie gern Pfefferkuchen möge, verstand ein in den Ural evakuiertes Mädchen den Sinn der Worte nicht: »Ich saß da und überlegte, was dieses ›Schön‹ oder ›Nicht schön‹ bedeutete … Was ist das für eine Wendung: ›Ich möchte nichts essen‹?« Abends schlich sie hinaus und grub auf einem Acker nach Brot, das ihrer Meinung nach wie Kartoffeln unter der Erdoberfläche wuchs. »Ich glaubte, nur ein kleines Loch buddeln zu müssen, und dann würde ich einen frischen Laib finden. Den würde ich mitnehmen und mich satt essen.«23 Eine Ärztin gab den Kindern auf ihrer Station Zeichenmaterial. Eines skizzierte ein Zifferblatt mit der Überschrift: »Dies ist unsere Uhr. Sie lässt uns wissen, wann wir das nächste kleine Stück Brot essen dürfen.« Ein neunjähriger Junge zeichnete ein großes schwarzes Quadrat.24 Vera Inber wurde gebeten, einen Erzählungswettbewerb zu beurteilen. Eine Teilnehmerin stellte sich die Gemüsesorten, die sie auf ihrer Schulparzelle anbaute, als winzige Personen mit grünen Beinen und Köpfen vor. Diese Zwerge liefen die Treppe eines Wohngebäudes hinauf, um ein schmächtiges Mädchen mit goldenen Haaren zu retten, und sie sprinteten durch Artilleriefeuer zu einem Unterstand der Roten Armee.25 Andere Kinder horteten zwanghaft Essbares, sammelten Brotkrümel in Streichholzschachteln, wurden zu Stotterern oder sprachen überhaupt nicht mehr.26 Für die Lehrer bestand eines der erfreulichsten Anzeichen der Erholung darin, dass ihre Schüler wieder anfingen, sich schlecht zu benehmen. Ein Mädchen, das sich bei der Schuldirektorin melden musste, weil sie hinaus auf die Straße gelaufen war, begriff erst später, warum die Frau in Tränen ausgebrochen war: »Jetzt verstehe ich, warum sich die Lehrer freuten, denn das war das erste kindliche Vergehen, überhaupt kehrten die Kinder ins Leben zurück, das war klar und für sie äußerst erfreulich.«27
Durch eine Schule wurde auch Olga Gretschina gerettet – allerdings nicht als Schülerin, sondern als Erzieherin. Seit Kriegsbeginn hatte sie Schützengräben ausgehoben, in Fabriken gearbeitet, Schnee geräumt, war mehrere Male knapp dem Tod durch Luftangriffe entgangen und hatte ihre Mutter durch die Hungersnot verloren. Ihr sechzehnjähriger Bruder Wowka war zu einem Fremden geworden, der nur noch selten in der Wohnung erschien. In solchen Fällen hatte er merkwürdige neue Gegenstände bei sich: Kleidungsstücke, ein Fahrrad und Gläser mit halb verfaulten eingelegten Tomaten, die er sich, wie er abenteuerlicherweise behauptete, von Verwandten geliehen oder in den Kellern des Smolny gefunden habe. »Schon jetzt«, schrieb Olga, »war er nicht mehr derselbe glückliche kleine Elefant, den alle meine Schulfreundinnen verehrten, etwas feige und nicht sehr scharf auf den Unterricht.« Im Mai 1942 klärte sich die Sache auf, als sie erfuhr, dass er wegen Diebstahls verhaftet worden sei – nicht nur aus Brotläden, sondern auch von Nachbarn und Verwandten, darunter zwei unverheiratete Tanten, deren Lebensmittelkarten er an sich genommen hatte, um für sie die Rationen abzuholen. Er hatte sein Versprechen nicht gehalten, und die beiden Frauen waren verhungert. Obwohl Olga die Milizreviere abklapperte und sich den langen, stillen Schlangen vor dem Kresty-Gefängnis anschloss, blieb sie bis zum Sommer des folgenden Jahres im Dunkeln über ihren Bruder. Dann wurde ihr offiziell mitgeteilt, dass er in einem Lager bei Jaroslawl an »Dystrophie« gestorben sei.
Nach Wowkas Verhaftung erlitt Olga einen Nervenzusammenbruch. Sie war gezwungen, die letzten Wertsachen der Familie an eine habgierige Schulfreundin zu verkaufen (das Teeservice, das ihre Eltern zur Silberhochzeit geschenkt bekommen hatten, brachte nur ein paar Rubel ein, ein Eichentisch war zwei Kilo Hirse wert). Olga hatte das Gefühl, an allen Seiten von Verlust und Verrat bedrängt zu werden, sie wurde von Halluzinationen gequält und verfiel in eine tiefe Depression. Nachdem sie im Rundfunk gehört hatte, dass Kindergartenpersonal gesucht werde, meldete sie sich zur Lehrerausbildung, wo sie jedoch nur in der letzten Reihe saß und schlief:
Ich wachte selten auf und konnte nichts aufschreiben und mich an nichts erinnern. Zum Glück fanden keine Prüfungen statt, denn ich wäre bei allen durchgefallen. Unter den Studentinnen waren ein paar sympathische Mädchen, aber ich sprach nur wie ein Roboter mit ihnen, und sie hielten mich wahrscheinlich für geistig behindert. Damit hatten sie sogar recht, denn ich kann mich seit Juni an nichts erinnern: nicht an das, was ich aß, wem ich begegnete – an keine Einzelheiten meines damaligen Lebens. Mir war nicht so, als würde ich sterben, sondern als wäre ich bereits tot.28
Ihre Erlösung war das Internat Nr. 43, eine straff geführte, gut vernetzte Einrichtung in einem stattlichen Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert, das einen Block von der Eremitage entfernt an der Newa lag (und dort heute noch liegt). Die Direktorin entsandte die magere, bebrillte Zwanzigjährige mit ihrem um das Haupt gewundenen Zopf und geflickten Socken sofort zur Kartoffelernte in die Schulkolchose, wo sie mit Kohlsuppe aufgepäppelt wurde, tagsüber mit der »Nase in der Erde« döste und sich an den langen, fahlen Abenden ihren Kolleginnen – hauptsächlich gerade verwitwete Universitätsdozentinnen – anvertraute. Im September kehrten sie in die Stadt zurück, und Olga erhielt den Auftrag, Schulbücher auszubessern (»Es war sehr schwer, den Leim, der aus reinem weißem Mehl hergestellt war, nicht zu essen«), bevor sie eine Klasse von fünfunddreißig »nicht mehr hungernden und recht lebhaften« Vierjährigen übernahm. »Sie hüten keine Kinder«, erklärte ihr die Direktorin, »sondern Sie erziehen sie.«
Es war eine außergewöhnliche Arbeit. Die Lehrerinnen wohnten, zusammen mit hundertzwanzig Vier- bis Siebenjährigen, in der Schule. Nachts schliefen sie, solange sie keine Kinder in den Luftschutzkeller bringen mussten, auf zusammengeschobenen Tischen. Tagsüber unterrichteten sie nicht nur, sondern schürten auch den Ofen, schleppten Wasser zwei Treppen aus dem unbeleuchteten Keller eines Nachbargebäudes hinauf, wuschen und trockneten Laken (Olga hatte sechs Bettnässer in ihrer Gruppe), reinigten Toiletten, klappten Feldbetten auf und zu (viermal am Tag, Nachmittagsschläfchen mitgerechnet) und rasierten den Kindern zur Entlausung die Köpfe. Abends besserten sie die Kleidung der Zöglinge aus, indem sie Knöpfe und Elastikbänder neu verwendeten. Es gab keine Seife, keine Zahnpasta und so wenig Geschirr, dass alle aus Untertassen tranken. Zudem zog man das Personal außerhalb der Schule zu »freiwilliger« Arbeit heran: Sie mussten Gebäude demolieren, um Feuerholz zu gewinnen, und in einem nahen Militärlazarett Bettpfannen leeren. Den Erziehern war war es verboten, vor den Kindern über den Krieg zu sprechen – diese sollten »in eine Welt der Fantasie, der Märchen und der Kunst befördert« werden. Doch die Realität machte sich unvermeidlich bemerkbar. Auf Spaziergängen wetteiferten die Kinder darum, Patronenhülsen von den Flakgeschützen der Kirow zu finden, die am Newa-Ufer ankerte, und in den Pausen betrübten sie Olga durch ihre Spiele:
Heute entdeckten die Kinder irgendein Loch im Hof und fingen an, tiefer zu graben. Dabei sangen sie: »Los, los, grabt schneller. Unsere Kleinen sind drin. Die Deutschen haben sie alle getötet!«
Lida: »Mein Wowotschka ist drin!«
Rufa: »Und meine Lilenka und meine Oma!« …
Es war sehr schwierig, die Mädchen von diesem Spiel loszureißen, denn es faszinierte sie, und sie kehrten dauernd zu ihm zurück. Immer war es Rufa, mit fünf Jahren die Älteste in meiner Klasse, die damit anfing. Sie war schon früher im Kindergarten gewesen und hatte anscheinend bei ihrer Großmutter gewohnt, die eines Tages einschlief und nicht mehr aufwachen wollte. Und davor hatte es eine Lilenka – wahrscheinlich eine jüngere Schwester – gegeben, die ebenfalls für immer einschlief.29
Olga, die früher wenig mit kleinen Kindern zu tun gehabt hatte, war zunächst kaum in der Lage, ihr »Kollektiv« unter Kontrolle zu halten, doch mit der Zeit lernte sie, die Mädchen während der Mahlzeiten mit einem Spielzeug aus ihrer eigenen Kindheit – einer Hunde-Handpuppe mit glänzenden Augen und Schlappohren – zu beruhigen und sie während der Luftangriffe mit einer Geschichte über einen Zaubertopf abzulenken, der so viel süße goldene Kascha hervorbrachte, dass sie aus dem Haus strömte und die Stadt überschwemmte. »Eine Menge Energie, Zeit und Kraft« ging in die Vorbereitungen für den Neujahrstag 1943 ein. Die Kinder mussten nicht nur primitive Gedichte zum Lob von Woroschilow rezitieren, die vom städtischen Erziehungsamt verteilt worden waren, sondern sich auch als Schneeflocken, Kaninchen und Bären verkleiden. Eine Lehrerin übernahm die Rolle der Snegurotschka, der Enkelin von Großväterchen Frost, und jonglierte mit Schneebällen aus Baumwolle. Tante Motja, die unbestechliche achtzigjährige Schulköchin, backte piroschki aus sorgfältig gehortetem Mehl. Olga blieb bis Herbst 1944, als sie ihr Studium fortsetzte, in der Schule. Dort war sie nicht nur vor der Verzweiflung gerettet worden, sondern hatte auch »einen Platz in der Welt« erobert. Später schrieb sie: »Nun dachte ich, dass ich Menschen benötigte und dass sie mich vielleicht auch benötigten.«