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22. Juni 1941

Fährt man von der früher Leningrad genannten Stadt sechzig Kilometer nach Südwesten, erreicht man das, was die Russen als Datschengegend bezeichnen: eine grüne, unbestellte Landschaft mit kleinen Seen, unbefestigten Feldwegen, hohen, rostfarbenen »Schiffskiefern« und Sommerhäusern aus verwittertem Holz, an die durchsackende, verglaste Veranden angebaut sind. Am Sonntagmorgen des 22. Juni 1941 sonnte sich Dmitri Lichatschow, ein fünfunddreißigjähriger Experte für mittelalterliche russische Literatur, mit seiner Frau und seinen Töchtern am von Uferschwalben wimmelnden Strand des Flusses Oredesch.

Das Ufer war steil, und ein Pfad führte oberhalb unseres Strandes daran entlang. Eines Tages, als wir an unserem Strand saßen, hörten wir Fetzen eines beängstigenden Gesprächs. Urlauber spazierten über den Pfad und redeten davon, dass Kronstadt bombardiert werde, anscheinend von irgendeinem Flugzeug. Zuerst überlegten wir, ob sie über den Finnlandfeldzug von 1939 sprachen, aber ihre aufgeregten Stimmen beunruhigten uns. Nach unserer Rückkehr zur Datscha erfuhren wir, dass der Krieg ausgebrochen war.

Am Mittag versammelten sich die Lichatschows mit anderen Urlaubern um einen Lautsprecher im Freien, um der formellen Kriegsankündigung zu lauschen. Der Redner war nicht Stalin, sondern der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Wjatscheslaw Molotow. »Männer und Frauen, Bürger der Sowjetunion«, begann er, »heute Morgen um vier Uhr griffen deutsche Soldaten – ohne Kriegserklärung und ohne Forderungen gegenüber der Sowjetunion – unser Land an.« Sein Tonfall ließ Schock und Kränkung erkennen. »Dieser Überfall hat trotz der Tatsache stattgefunden, dass es einen Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und Deutschland gibt – einen Pakt, dessen Bedingungen von der Sowjetunion gewissenhaft eingehalten wurden.« Am Ende fand er mitreißendere Worte: »Unsere Sache ist gut. Unser Feind wird vernichtet werden. Der Sieg wird unser sein.« Im Anschluss an die Sendung waren »alle sehr bedrückt und leise … Nach Hitlers Blitzkrieg in Europa erwartete niemand etwas Gutes.«2

Überall in Leningrad wurden geruhsame Mitsommerwochenenden auf ähnliche Art ruiniert. In ihrer Wohnung im Stadtzentrum, unweit von Potemkins Taurischem Palais, war Jelena Skrjabina schon früh aufgestanden, um vor einem Ausflug aufs Land noch ein paar Tipparbeiten zu erledigen. Der Sonnenschein, die kühle Morgenluft, die Stimme ihres Kindermädchens, das ihren fünfjährigen Sohn Jura vor der Tür beschwichtigen wollte – all das bedeutete, dass sie »heiter gestimmt, voller Vorfreude« war. Ihr älterer Sohn, der vierzehnjährige Dima, war bereits mit einem Freund aufgebrochen, um mitzuerleben, wie die Springbrunnen im Park des großen Barockpalastes Peterhof, draußen am Finnischen Meerbusen, angeschaltet wurden. Um neun Uhr rief ihr Mann aus seiner Fabrik an. Er teilte ihr aufgeregt mit, sie solle zu Hause bleiben und das Radio anmachen. Am Mittag hörten Jelena und ihre Mutter Molotows Ankündigung. »Das war es also: Krieg! Deutschland bombardierte bereits Städte der Sowjetunion. Molotows Rede klang stockend, hastig, als ginge ihm der Atem aus. Mit einemmal hatte man das Gefühl, ein Ungeheuer nähere sich drohend …« Jelena ging hinaus auf die Straße, auf der sich Menschenmengen drängten; »sie stürzten sich auf die Läden und kauften alles …, was ihnen in die Hände fiel«:

Viele gingen in die Sparkassen, um ihre Einlagen abzuheben. Diese Welle erfaßte auch mich. Auch ich versuchte, Rubel zu bekommen, die auf meinem Sparbuch waren. Aber ich kam zu spät: Die Kasse war leer, die Auszahlungen wurden eingestellt. Alles lärmte, beschwerte sich. Und der Junitag brannte lichterloh, die Hitze war unausstehlich heiß. Jemandem wurde übel, jemand zankte sich verzweifelt. Den ganzen Tag über war die Stimmung unruhig und gespannt. Erst gegen Abend wurde alles seltsam still. Es war, als hätten sich alle vor dem Schrecken verkrochen.3

Am selben Morgen um elf Uhr ging Juri Rjabinkin, ein magerer Fünfzehnjähriger mit einer Topffrisur und großen dunklen Augen, die Sadowaja-Straße entlang, um in den Gärten des Pionierpalastes (einst Anitschkow-Palast) neben der Anitschkow-Brücke an einem Schachwettbewerb für Kinder teilzunehmen. Ihm fiel auf, dass die Polizisten Gasmasken bei sich hatten und rote Armbinden trugen, doch er nahm an, dass es sich um eine der üblichen Zivilschutzübungen handelte. Als er seine Schachfiguren aufstellte, bemerkte er, dass eine Menschenmenge einen kleinen Jungen in der Nähe umringte. »Ich lauschte – und erstarrte. ›Heute morgen um vier haben deutsche Bomber Kiew, Schitomir, Sewastopol und andere Orte angegriffen‹, erzählte der Junge aufgeregt. ›Molotow hat im Rundfunk gesprochen. Wir sind jetzt im Krieg mit Deutschland!‹ … In meinem Kopf geht alles durcheinander. Ich begreif gar nichts. Ich habe drei Partien Schach gespielt und seltsamerweise alle drei gewonnen, dann bin ich heimgegangen.« Nach dem Abendessen wanderte er durch die stickigen, von Anspannung erfüllten Straßen und wartete zweieinhalb Stunden lang auf eine Zeitung – in der Schlange wurden »Witze gerissen« und es fielen »skeptische Bemerkungen« –, bis schließlich bekanntgegeben wurde, dass man keine Zeitungen, sondern »nur ein offizielles Bulletin« erhalten werde. »Die Uhr«, schrieb Rjabinkin mit jugendlicher Bedeutungsschwere spät am Abend in sein Tagebuch, »zeigt halb zwölf. Ein ernster, entscheidender Kampf ist im Gange, zwei antagonistische Gesellschaftsordnungen sind aufeinandergeprallt: Sozialismus und Faschismus! Von der Zukunft dieses großen historischen Kampfes hängt das Wohl der gesamten Menschheit ab.«4

Die Leningrader hätten eigentlich auf den Zweiten Weltkrieg – den Großen Vaterländischen Krieg, wie sie ihn noch heute nennen – besser als andere Sowjetbürger vorbereitet sein müssen, denn sie hatten aus nächster Nähe beobachtet, wie er sich anbahnte. Nach dem deutsch-sowjetischen Pakt vom August 1939 hatte die Sowjetunion nicht nur Ostpolen, sondern auch, im Juni 1940, die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland sowie die von Seen beherrschten südlichen Marschen Finnlands, nördlich von Leningrad, besetzt.

Vor allem der »Winterkrieg« mit Finnland bot einen Vorgeschmack auf die kommende Mühsal. Er wurde am 30. November 1939, drei Monate nach dem deutschen Einmarsch in Polen, begonnen, und die Russen erwarteten, dass er nicht lange dauern werde. »Wir brauchten bloß einmal auf den Tisch zu schlagen, dann würden die Finnen schon parieren«, erinnerte sich Chruschtschow. »Sollte das nicht klappen, könnten wir einen Schuß abfeuern, und die Finnen würden die Hände heben und sich ergeben. Das jedenfalls glaubten wir.«5 In Wirklichkeit wurde der Krieg zu einer Demütigung. Trotz ihrer winzigen Bevölkerung – 3,7 Millionen, verglichen mit fast 200 Millionen in der Sowjetunion – leisteten die Finnen hartnäckigen Widerstand und zwangen die Russen, eine überwältigende Zahl von Soldaten einzusetzen. Als die Rote Armee Finnland am 12. März 1941 endlich zur Kapitulation zwang, wonach sie die zweitgrößte Stadt Viipuri (heute das russische Wyborg) und die gesamte Landzunge zwischen dem Finnischen Meerbusen und dem Ladogasee annektierte, hatte sie mit 127000 Opfern einen hohen Preis zahlen müssen. Infolge der Gerüchte, die sich aus den Lazaretten verbreiteten, erhielten die Leningrader erste Hinweise auf die Schwächen des eigenen Heeres, was Führung, Ausrüstung und Ausbildung betraf. Den Soldaten mangelte es an Waffen, Munition, Winter- und Tarnkleidung. (»Sie hätten uns kein besseres Ziel bieten können«, berichtete ein finnischer Jagdflieger über eine Kolonne, die einen gefrorenen See überquerte. »Die Russen trugen nicht einmal weiße Parkas.«) In erster Linie fehlten ihnen gute Offiziere, da Stalin in seiner Paranoia den jüngsten Terror dazu benutzt hatte, die Streitkräfte zu zerstückeln. Zwischen 1937 und 1939 waren erstaunlicherweise 40000 Offiziere verhaftet und davon rund 15000 erschossen worden. Zu ihnen gehörten drei der fünf Marschälle der Sowjetunion, 15 von 16 Armeekommandeuren, 60 von 67 Korpsbefehlshabern, 136 von 169 Divisionskommandeuren und 15 von 25 Admiralen. Die Überlebenden (von denen 44 Prozent keine Sekundarschule besucht hatten) waren zumeist engstirnige Veteranen des Bürgerkriegs oder über ihre Fähigkeiten hinaus beförderte Subalternoffiziere, die zu viel Angst vor dem Kriegsgericht und dem Hinrichtungskommando hatten, um die Initiative zu ergreifen oder ihre Befehle den sich wandelnden Umständen anzupassen.6 Die Fehler des Winterkriegs wurden in den ersten Monaten nach der deutschen Invasion so exakt wiederholt, dass man im Rückblick von einer Generalprobe für das Hauptereignis sprechen könnte. Unzweifelhaft war dies der Eindruck der Finnen, die den Zweiten Weltkrieg – in dessen Verlauf sie halfen, Leningrad zu belagern, sich jedoch weigerten, es direkt anzugreifen – weiterhin als »Fortsetzungskrieg« bezeichnen.

In der Realität jedoch waren die ersten zweiundzwanzig Monate des Zweiten Weltkriegs den Leningradern, wie den meisten gewöhnlichen Russen, recht fern erschienen. »Irgendwo in Europa wurde Krieg geführt«, erinnerte sich ein Leningrader, »mittlerweile seit zwei Jahren – na und? … Es galt als unpassend, sich Gedanken über internationale Ereignisse zu machen, ›ungesunde Stimmungen‹, wie es hieß, zur Schau zu stellen.«7 Zwar hatten die Finnen verbissen gekämpft, doch die Feldzüge in Polen und den baltischen Staaten waren rasch und mühelos abgewickelt worden. Hitlers Sturmlauf durch Frankreich und die Niederlande im Frühjahr 1940 hatte in der westlichen Literatur belesene Intellektuelle wie die Dichterin Anna Achmatowa betrübt – sie schrieb unveröffentlichte Verse, in denen sie den Fall von Paris und den Londoner »Blitz« betrauerte –, aber die meisten glaubten dem Lautsprecher an der Straßenecke, den »Wandzeitungen« und den Agitatoren auf den endlosen Versammlungen am Arbeitsplatz: Diese verkündeten, die Kapitalisten würden einander in Stücke reißen und die Sowjetunion könne sich anschließend die Überreste einverleiben. Der Pakt mit Hitler sei befristet, und ein Krieg werde auf deutschem Boden ausgefochten und sogleich durch eine Volksrevolution innerhalb Deutschlands beendet werden. Arbeiter in der Leningrader Metallfabrik riefen nach dem nationalsozialistischen Überfall: »Unsere Truppen werden sie verprügeln. In einer Woche ist alles vorbei. Nein, nicht in einer Woche – schließlich müssen wir Berlin erreichen. Das wird drei oder vier Wochen dauern.«8 Sogar weltklügere Beobachter, die Hitlers Eroberung Jugoslawiens im April (ungeachtet eines sowjetisch-jugoslawischen Freundschaftsvertrags) und Churchills warnende Reden korrekt interpretieren konnten, waren bestürzt, als ihre Befürchtungen tatsächlich eintraten. Zum Beispiel schrieb die Altphilologin Olga Freudenberg, die Cousine von Boris Pasternak: »Das kam furchtbar überraschend, klang fast unglaubwürdig, obwohl es klar vorauszusehen war. Unvorstellbar war nicht dieser Überfall – wer hatte ihn nicht erwartet? … Unvorstellbar war der Einschnitt im Leben, daß dieser Tag so jäh einen Trennungsstrich zog zwischen Vergangenheit und Gegenwart.«9

Bekanntermaßen wurde auch die sowjetische Führung völlig überrascht. Stalin und seine Leute seien völlig passiv, vertraute Goebbels seinem Tagebuch einen Monat vor dem Überfall an, »wie Kaninchen angesichts einer Schlange«.10 Obwohl Historiker immer noch über die Hintergründe von Stalins Außenpolitik der Vorkriegszeit diskutieren, liegt auf der Hand, dass er zwar einen Krieg mit Deutschland erwartete, aber auch daran glaubte, den Konflikt durch Beschwichtigungsmaßnahmen zumindest bis zum folgenden Jahr hinauszögern zu können. Berichte des Sowjetbotschafters in Berlin über Hitlers Absichten wurden ignoriert, ebenso wie Militärinformationen über Truppenmassierungen westlich der neuen deutsch-sowjetischen Grenze. Britische Warnungen tat man als irreführend ab, da sie den Zweck hätten, die Angehörigen der Roten Armee zu »Soldaten Englands« zu machen. Bekanntermaßen schickte das Handelskommissariat noch bis zur Nacht des Einmarsches Getreide, Erdöl, Gummi und Kupfer nach Deutschland.

Stalins Bevollmächtigter in Leningrad war bei Kriegsausbruch Andrej Schdanow, ein dicker, blässlicher, kettenrauchender Lehrersohn, der zum Parteisekretär von Gorki (früher und nun wieder Nischni Nowgorod), dann ins Zentralkomitee und nach der Ermordung des Leningrader Parteichefs Sergej Kirow (wahrscheinlich auf Befehl Stalins) im Jahr 1934 in die Führung der Leningrader Parteiorganisation und zum Vollmitglied des Politbüros aufgestiegen war. Hingebungsvoll loyal und wie Stalin ein arbeitswütiger Autodidakt, gehörte er zu den wenigen Personen, die der Diktator duzte. Heute ist er dadurch am besten in Erinnerung, dass er die Verteidigung Leningrads leitete und nach dem Krieg eine tragikomische Amtszeit als Kulturkommissar absolvierte, in der er Anna Achmatowa als »halb Nonne, halb Hure« tadelte und Schostakowitsch auf dem Klavier politisch korrekte Melodien vorklimperte. Vor allem jedoch betätigte er sich als Massenmörder. Er beaufsichtigte nicht nur die Leningrader Säuberungen von 1937 bis 1939, sondern erweiterte sie auch, im Verein mit anderen Politbüromitgliedern, auf die Provinzen – in seinem Fall auf den Ural und das Mittelwolga-Gebiet. Seine Unterschrift ist, zusammen mit der Stalins und Molotows, unter Dutzenden von Todeslisten zu finden.

Wie Stalin hielt er die Erwähnung eines bevorstehenden deutschen Angriffs für so verfrüht, dass er Moskau am 19. Juni verließ, um einen sechswöchigen Urlaub in Sotschi am Schwarzen Meer zu verbringen. »Die Deutschen haben ihren besten Moment bereits verpasst«, hatte Stalin ihm versichert. »Es sieht so aus, als würden sie 1942 angreifen. Fahr in Urlaub.« Am Nachmittag des 21. Juni, ein Samstag, an dem Schdanow es sich an der Küste gemütlich machte, schwoll das übliche Rinnsal beunruhigender Berichte der Grenzposten zu einem Strom an: Sie meldeten weitere Eingriffe in den sowjetischen Luftraum, verdeckte Bewegungen von Panzern und Artillerie, den Bau von Pontonbrücken und die Räumung von Stacheldrahtverhauen. Kurz nach 21 Uhr überquerten mindestens drei Deserteure – ein litauischer und zwei deutsche Kommunisten – den Fluss Bug bis hin zu den sowjetischen Linien, wo sie Vernehmern mitteilten, welche Befehle gerade vor ihren Einheiten verlesen worden seien. Der Angriff werde um vier Uhr beginnen, sagte der Litauer, und »sie planen, euch ziemlich schnell zu erledigen«.11

Im Kreml wetteiferten Furcht und Leugnung immer noch miteinander. Das deutsche Außenministerium, ließ die Botschaft in Berlin verlauten, weigere sich, ihre halbstündlichen Anrufe entgegenzunehmen. Irgendwann am späten Abend unterrichtete der Kommissar für Verteidigung, General Semjon Timoschenko, Stalin telefonisch über die deutschen Deserteure, woraufhin er den Befehl erhielt, eine Krisensitzung von Politbüromitgliedern und hohen Generalen einzuberufen. Bei ihrer Ankunft hörte Stalin auf, hin und her zu gehen, und fragte: »Was werden wir tun?« Timoschenko und Generalstabschef Georgi Schukow beharrten darauf, sämtliche Grenztruppen in volle Kampfbereitschaft zu versetzen, doch Stalin war anderer Meinung: »Eine solche Direktive wäre voreilig. Vielleicht läßt sich die Sache noch auf friedlichem Weg in Ordnung bringen … Die Truppen der Grenzbezirke dürfen sich von keinerlei Provokationen verleiten lassen.« Erst eine halbe Stunde nach Mitternacht ließ er den Befehl erteilen, warnte jedoch, dass die Angriffe vielleicht nur provokativ gemeint seien, und forderte eine »verhüllte« Reaktion. Das Treffen endete um drei Uhr. Eine Stunde später, als Stalin gerade auf seinem Diwan einschlief, rief Schukow erneut an: Auf die größten Städte der westlichen Sowjetunion – Kiew, Minsk, Wilna, Sewastopol – würden Bomben abgeworfen. »Haben Sie mich verstanden, Genosse Stalin?«, fragte Schukow. Er wiederholte seine Worte, bevor er eine Antwort erhielt. Sogar Stalin musste nun zugeben, dass der Krieg begonnen hatte.12

Eine der ersten Regeln der Außenpolitik – zugleich eine Binsenweisheit – lautet: Es ist sinnlos, Russland anzugreifen. Warum also beschloss Hitler, der sich des katastrophalen Russlandfeldzugs von Napoleon sehr bewusst war, in die Sowjetunion einzufallen?

Seine Ziele waren, von der Planung des Feldzugs im Jahr 1940 an, nicht die der herkömmlichen Geopolitik. Er wollte nicht bloß nützliche Gebiete besetzen und ein neues Machtgleichgewicht herstellen, sondern eine Kultur und eine Ideologie und, wenn nötig, ein ganzes Volk auslöschen. Seine Vision für die neu eroberten Territorien war, wie er bei den Tischgesprächen in seinen verschiedenen Kriegshauptquartieren darlegte, die eines riesigen Reiches, das sich von Berlin nach Archangelsk am Weißen Meer und bis nach Astrachan am Kaspischen Meer erstreckte. Das ganze Gebiet, trug er seinem Architekten Albert Speer vor, dürfe keine asiatische Steppe mehr sein, sondern müsse europäisiert werden:

Bei unserer Besiedlung des russischen Raumes soll der »Reichsbauer« in hervorragend schönen Siedlungen hausen. Die deutschen Stellen und Behörden sollen wunderbare Gebäulichkeiten haben, die Gouverneure Paläste … Und um die Stadt wird auf 30 bis 40 Kilometer ein Ring gelegt von schönen Dörfern, durch die besten Straßen verbunden. Was dann kommt, ist die andere Welt, in der wir die Russen leben lassen wollen, wie sie es wünschen.13

Russische Städte sollten ihrer Wertsachen beraubt und zerstört werden (ein künstlicher See solle Moskau ersetzen), und man werde die entzückenden neuen Dörfer mit arischen Siedlern aus Skandinavien und Amerika bevölkern. Innerhalb von zwanzig Jahren, träumte Hitler, würden sich 20 Millionen von ihnen hier niederlassen. Die Russen – für Hitler die niedrigsten Slawen – sollten nach Sibirien deportiert, zu Leibeigenen gemacht oder schlicht ausgerottet werden wie die Eingeborenenstämme Amerikas. Die Niederschlagung jedes noch vorhandenen russischen Widerstands sei als sportliche Übung zu betrachten. Speer erinnerte sich an Hitlers Plan, alle paar Jahre einen kleinen Feldzug jenseits des Urals zu führen, um die Autorität des Reiches zu demonstrieren und die militärische Bereitschaft der Wehrmacht auf einem hohen Niveau zu halten. Wie es in einem späteren SS-Planungsdokument hieß, würden die stets mobilen Ostmarken des Reiches, ähnlich der North-West Frontier unter der britischen Kolonialherrschaft in Indien, »Deutschland jung erhalten«.

Diese Vorstellung ist so surreal, dass man geneigt ist, sie nicht ernst zu nehmen. Welchen Sinn hatte es, ein Land zu besetzen, um es zu vernichten? Woher sollten die Gelder für die neuen Straßen und Städte kommen? Woher die Millionen williger Siedler? Woher die Soldaten, die einen halben Kontinent in die permanente Sklaverei zwingen würden? Für die nationalsozialistische Führung jedoch war all das mehr als bloß Träumerei. Im Juli 1940, Wochen nach dem Fall Frankreichs, befahl Hitler seinem Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall Walther von Brauchitsch, und dessen Generalstabschef, Franz Halder, die Eroberung der Sowjetunion zu planen. Großbritannien könne gegenwärtig nicht besetzt werden, erklärte Hitler, und die einzige Möglichkeit, die britische Regierung zur Vernunft zu bringen und zum Friedensschluss zu veranlassen, ergebe sich durch die Ausschaltung der letzten Kontinentalmacht, die dem Reich prinzipiell feindlich gegenüberstehe. Von Brauchitsch und Halder widersprachen (wenn auch nicht in dem Maße, wie Halder nach dem Krieg behauptete), da sie es vorgezogen hätten, zunächst Großbritannien besiegt zu sehen. (»Barbarossa«, schrieb Halder am 28. Januar 1941 in seinem Tagebuch, »Sinn nicht klar. Den Engländer treffen wir nicht … Risiko im Westen darf nicht unterschätzt werden. Möglich sogar, daß Italien nach Verlust seiner Kolonien zusammenbricht und wir durch Spanien, Italien und Griechenland eine Südfront bekommen. Wenn wir dann gegen Rußland gebunden sind, wird die Lage weiter erschwert.«14) Genauso skeptisch war Außenminister Joachim von Ribbentrop, der den Pakt mit Molotow für seine größte Leistung hielt; er wies darauf hin, dass die UdSSR immer noch gewissenhaft ihr Versprechen erfülle, Getreide und andere Güter zu liefern.

Hermann Göring, Chef der Wirtschaftsplanung und zweitmächtigster Mann im Reich, machte sich Sorgen um Lebensmittel- und Arbeitskräfteknappheit. Aber Hitler befand sich auf dem Höhepunkt seiner Popularität und seines Ansehens und war es gewohnt, Untergebene einzuschüchtern: Die Zauderer verdrängten ihre Zweifel und akzeptierten das Unvermeidliche. Der einzige Angehörige der Führung, der in dieser Frage energisch handelte, war der labile Rudolf Heß, der seinen kuriosen Flug nach Schottland nur sechs Wochen vor der Invasion offenbar in der Hoffnung unternahm, durch Friedensverhandlungen mit Großbritannien einen Zweifrontenkrieg zu verhindern.

Die Planung für Barbarossa wurde im Dezember 1940 abgeschlossen, und man legte den Beginn auf den 15. Mai 1941. Sowohl das Datum als auch der Plan änderten sich bald (Italiens Bitten um Hilfe in Griechenland und Libyen führten zu einer Verzögerung, und der Angriff von zwei Seiten wurde zu einem Angriff auf drei Seiten), doch von Anfang an sollte der Feldzug mit beispielloser Härte geführt werden, wogegen die Wehrmacht beschämend wenig Einwände erhob. »Der Krieg«, schrieb Halder nach einer zweieinhalbstündigen Rede des Führers vor seinen versammelten Generalen am 30. März, »wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen … Die Führer müssen von sich das Opfer verlangen, ihre Bedenken zu überwinden.« Im Juni erließ das Oberkommando den sogenannten Kommissarbefehl, der vorsah, politische Offiziere unverzüglich zu erschießen. Weitere Befehle machten »Kollektivmaßnahmen« gegen Zivilisten möglich, »die an feindlichen Akten teilnehmen oder teilnehmen wollen«; außerdem wurde Militärgerichten untersagt, über Verbrechen – darunter Vergewaltigung und Mord – deutscher Soldaten an sowjetischen Zivilisten zu verhandeln. Im Grunde erhielten deutsche Offiziere die Freiheit, mit den Russen nach Belieben zu verfahren. Auch die rücksichtslose Beschlagnahme von Lebensmitteln wurde von Anfang an vorausgesetzt. Die Besatzungstruppen sollten sich von dem ernähren, was sie an Ort und Stelle requirieren konnten, selbst wenn es bedeutete, dass Zivilisten Hunger litten. Der Russe halte der Armut seit Jahrhunderten stand, scherzte Herbert Backe, Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, nach derber Nazi-Art. Goebbels witzelte, dass die Russen ihre Kosakensättel essen sollten, und Göring prophezeite das größte Massensterben in Europa seit dem Dreißigjährigen Krieg.15

Vor allem aber sollten die Bolschewiki rasch durch einen Blitzkrieg, geführt mit Panzern und motorisierter Infanterie, besiegt werden. Die Wehrmacht werde auf ihrem Vormarsch nicht warten, um jedes Widerstandszentrum einzunehmen, und auf keinen Fall dürfe sie sich auf statische Zermürbungsschlachten einlassen, durch die schon der Erste Weltkrieg verloren worden sei. Insgesamt solle der Feldzug nicht länger als drei Monate dauern. In den ersten Wochen werde man die Rote Armee durch große Schlachten vernichten, um die übrige Zeit dann Säuberungsaktionen zu widmen. Nach der Eroberung werde das ganze europäische Russland in aller Schnelle von einer Zivilregierung aus vier neuen Reichskommissariaten verwaltet werden, so dass die Soldaten heimkehren könnten.

Nicht nur weil Hitler ein Fantast war, sondern auch weil er die Sowjetgesellschaft völlig missverstand, kam es dazu nicht. Er überschätzte den Einfluss des russischen Antisemitismus bei Weitem, und er unterschätzte den Patriotismus und das Nationalgefühl der Landesbewohner. Genauso wenig wie die damaligen britischen und amerikanischen Meinungsbildner rechnete er damit, dass die meisten Russen, zumal sie in den beiden vorhergehenden Jahrzehnten von ihren Führern terrorisiert und in die Armut getrieben worden waren, einem ausländischen Überfall zähen Widerstand leisten würden. Man brauche nur die Tür einzuschlagen, erklärte er bekanntlich, und das ganze verrottete Gebäude werde zusammenkrachen. Die groben Schmähungen – die Slawen seien geborene Sklaven und bodenlos dumm –, die er in seinen Tischgesprächen ständig wiederholte, waren bezeichnend nicht nur für seinen Rassismus, sondern auch für seine geistige Trägheit, seine Selbstgefälligkeit angesichts eines riesigen, sich rasch wandelnden und geheimnisvollen Landes, über das seine Berater und er kaum etwas wussten. Ironischerweise entsprachen seine irrigen Annahmen den sowjetischen über Deutschland. Zu große Hoffnungen, erinnerte sich einer von Hitlers Generalen später, hätten auf dem Glauben beruht, dass Stalin angesichts schwerer Niederlagen von seinem eigenen Volk gestürzt werden würde. Dieser Glaube sei von Hitlers politischen Beratern genährt worden, und die Offiziere hätten in ihrer politischen Unkenntnis keine Einwände erheben können.16

Während der Krieg voranschritt, brachen Rivalitäten nicht nur zwischen den vielfachen, einander in ihren Kompetenzen überschneidenden Behörden aus, die für den besetzten Teil der Sowjetunion verantwortlich waren, sondern auch zwischen Ideologen, die die große Ausrottungsvision ihres Führers unterstützten, und Pragmatikern (oftmals Balten deutscher Herkunft). Sie empfahlen eine traditionellere Kolonialpolitik, etwa die Vereinnahmung ethnischer Minderheiten – insbesondere der Ukrainer – und die Umkehrung verhasster kommunistischer Maßnahmen, beispielsweise der Schließung von Kirchen und der Kollektivierung des Bodens. Doch selbst wenn Hitler besser über die Sowjetunion informiert gewesen wäre, hätte er den Rat der Pragmatiker wahrscheinlich missachtet. Der Überfall auf die UdSSR hatte durchaus rationale Rechtfertigungen, er sollte Berlin Agrarland und Ölquellen verschaffen und ein feindliches Regime beseitigen, aber er hatte vor allem auch rassische Gründe und zielte auf einen Vernichtungskrieg ab. Bolschewiki, Juden, Slawen – sie alle wurden als Ungeziefer, Vieh, Geschwüre, Gift eingestuft, und allein ihre Existenz bedeutete ein Gräuel für den nationalsozialistischen Traum. Die Ermordung oder Versklavung dieser Menschen war nicht bloß ein Mittel im Kampf um die territoriale Vorherrschaft, sondern auch einer ihrer Zwecke.