Marina Jeruchmanowa, die neunzehnjährige Nachfahrin von Alexander Menschikow, einem Günstling Peters des Großen, war ebenso wie Olga Gretschina ein lerneifriges, behütetes Mädchen. In emotionaler wie sozialer Hinsicht bedeutete der Krieg für sie eine harte Ausbildung. Ihre erste Kriegsarbeit vollführte sie in einer »Konzertbrigade«, die Soldaten vor der Reise an die Front verabschiedete. »Die Bahndämme waren mit sitzenden oder liegenden Soldaten, teils in Gesellschaft schluchzender Verwandter, bedeckt. Und dann erschienen wir – vier kleine Mädchen mit Notenständern und Notenblättern – und spielten Quartette.« Sie hatte die Möglichkeit gehabt, sich mit dem Konservatorium nach Taschkent evakuieren zu lassen, war jedoch lieber bei ihrer Familie geblieben. Nach dem Beginn der Luftangriffe zogen alle in die sicherere Erdgeschosswohnung einer Tante: Vier Erwachsene, vier Kinder, vier Dackel und ein Baby drängten sich in einem Einzelzimmer. Der erste Todesfall des Haushalts ereignete sich Anfang Oktober, als Marinas Stiefvater, ein während der Säuberungen von 1937 unehrenhaft entlassener Marineoffizier, zwei Tage vor seiner Wiedereinsetzung einen Herzinfarkt erlitt. Die Familie konnte ein religiöses Begräbnis in der Verklärungskathedrale für ihn ausrichten und sein Grab mit einem großen Holzkreuz (das später als Feuerholz gestohlen wurde) markieren.
Marina und ihre jüngere Schwester Warwara verpflichteten sich als druschinnizy – freiwillige Helferinnen, überwiegend halbwüchsige Mädchen, die unter Leitung der Polizei häufig gefährliche Aufgaben übernahmen – am Arbeitsplatz ihrer Mutter, dem Hotel Europa, das nun als Lazarett diente. Das Hotel, ungefähr in der Mitte des Newski-Prospekts und als »Jewropa« bekannt – war das älteste und prächtigste in Leningrad. In den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gegründet, war es rund vierzig Jahre später, mit Aufzügen, Luftglocken und Zentralheizung, neu gebaut worden. Den beiden Mädchen erschien es als »Elysium … Alles war teuer und von hoher Qualität – Möbel, Teppiche, Vorhänge, Geschirr … Die Duschen hatten auch heißes Wasser, und die Wäscherei, in der eine gleichgültige Dame uns unsere Kittel aushändigte, funktionierte weiterhin. Überall herrschten Ordnung und Sauberkeit.« Zuerst arbeiteten sie im unteren Stockwerk in den Küchen für einen riesigen, rothaarigen »Zaren« von einem Chefkoch, der jeden Morgen in zeremonielles Weiß gekleidet war und dessen Bauch beim Gehen hin und her schwankte. Im »Großen Restaurant« im Erdgeschoss bedienten schlanke tatarische Kellner mit pomadisiertem Haar und »theatralischen« Manieren die Leichtverwundeten. »Sie lehrten uns, die Tische zu decken und unsere ›Gäste‹ zu begrüßen. Gott bewahre uns, wenn wir Speisen auf kalten Tellern servierten.« Der Oberkellner bedachte die Mädchen mit Strafpredigten, die er nur zu gern mit den schockierendsten Schimpfwörtern würzte. »Bei den ersten Malen wussten wir nicht, wo wir hinschauen sollten. Mama sagte energisch: ›Kinder, tut so, als hättet ihr nichts gehört.‹« Obwohl man ihnen offiziell verboten hatte, im Gebäude zu übernachten, zogen sie in aller Stille ein und ließen sich auf einem Balkon über dem »östlichen« Speisesaal nieder. Er hatte eine gewölbte Decke, einen vage an Ägypten erinnernden Verputz und mächtige Buntglasfenster, geschmückt mit Wikinger-Langbooten, die unter den Mauern einer alten Rus-Festung einen Fluss entlangsegelten. Obwohl Marina täglich fünfzehn Stunden ohne Bezahlung arbeitete, erinnerte sie sich dankbar an das Hotel. »Unser Jewropa verbarg und beschützte uns und gab uns Zeit, Atem zu schöpfen.«1
Sobald Marinas Mutter Molotows Kriegsankündigung gehört hatte, befahl sie ihren Töchtern als Erstes, Seife zu kaufen und den Herd in Gang zu setzen, damit sie suchari herstellen konnte, jene Zwiebäcke, die auf langen Reisen und in Zeiten der Lebensmittelknappheit als traditionelle russische Reserve dienen. Andere taten das Gleiche, und als sich der Belagerungsring schloss, gab es, wie Marina berichtete, auf dem Markt nur noch Dörrobst und blanchierte Mandeln, in den Läden unerschwinglich teuren Kaviar und im Kaufhaus »Passage« nutzlose Spielsachen und Sportgeräte zu kaufen.
1941 hatte ein fünfzigjähriger Russe bereits drei große Hungersnöte erlebt: die erste von 1891/92, als Dürre die Wolgasteppen heimsuchte, die zweite von 1921/22, verursacht durch Getreiderequirierung und den nachrevolutionären Bürgerkrieg, die dritte von 1932/33, als die Bolschewiki Bauernhöfe gewaltsam kollektivierten und dadurch ungefähr sieben Millionen Menschen zum Tode verurteilten. Leningrad, obwohl privilegiert in normalen Zeiten, war nun besonders verletzlich, da es stets Lebensmittelimporte aus dem fruchtbareren Süden benötigt hatte. Das von Sümpfen umgebene Dorf Mjasnoi Bor (»Fleischwald«, knapp nördlich von Nowgorod und Stätte einer katastrophalen Umzingelung im Frühjahr 1942) war nach den Rinderherden benannt, die dort auf dem Treck nach Norden zum Markt der Hauptstadt strauchelten. Obwohl die Kollektivierungshungersnot die Stadt weitgehend verschont hatte, waren zahlreiche Leningrader während des Bürgerkriegs in die Dörfer geflohen, um dort Nahrung zu suchen.
Gleichwohl hatten sich die Leningrader Behörden kläglich schlecht auf die Belagerung vorbereitet. Als die letzte Straße aus der Stadt hinaus am 8. September gesperrt wurde, blieben geschätzte 2,8 Millionen Zivilisten im Belagerungsring gefangen – davon 2,46 Millionen in der Stadt und weitere 343000 in den umliegenden Orten.2 Hinzu kamen weitere 500000 Soldaten und Matrosen, womit insgesamt rund 3,3 Millionen Menschen versorgt werden mussten. (Die Deutschen hatten die Leningrader Bevölkerung mit mehr als vier Millionen stark überschätzt, wahrscheinlich weil sie die aus den gefährdeten südlichen Vororten kommenden Familien für zusätzliche Flüchtlinge hielten. Folglich schätzten sie auch den Zeitpunkt, an dem in der Stadt der Hunger beginnen würde, falsch ein.3) Am Tag der Isolierung Leningrads flog der stellvertretende Handelskommissar Dmitri Pawlow aus Moskau ein und machte eine Bestandsaufnahme der Lebensmittelvorräte in Lagerhäusern, Fabriken, Armeedepots und anderen öffentlichen Einrichtungen. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass die Bevölkerung beim damaligen Konsumniveau kaum länger als einen Monat überleben würde. Man besaß Getreide und Mehl für fünfunddreißig Tage, Buchweizen, Reis, Grieß und Makkaroni für dreißig Tage, Fleisch und Vieh für dreiunddreißig, Speiseöl und Fette für fünfundvierzig sowie Zucker und Süßigkeiten für sechzig Tage.4 Flugzeuge für eine groß angelegte Luftbrücke standen nicht zur Verfügung (eine derartige Maßnahme wurde anscheinend nie in Erwägung gezogen), und obwohl die Leningrader Partei dreizehn Zugladungen Lebensmittel angefordert hatte, die vom Ladogasee mit Kähnen in die Stadt transportiert werden sollten, gab es an dem seichten und von Sandbänken durchsetzten westlichen Ufer des Sees keine Hafenanlagen, um sie entgegenzunehmen. (Erst am 9. September traf man die Entscheidung, Docks und Speicher in dem Datschendorf Ossinowez zu bauen.5) Wenn die Blockade nicht rasch gebrochen wurde, musste Leningrad mit den existierenden Vorräten überleben.
Das Versäumnis, genug Nahrungsmittel und Treibstoff anzusammeln, bevor sich der Belagerungsring schloss, war auf die gleiche tödliche Mischung aus Leugnung, Desorganisation und Missachtung von Menschenleben zurückzuführen wie das Versäumnis, die überzählige Zivilbevölkerung zu evakuieren. Auch die effektivste und fürsorglichste Verwaltung hätte ernste Mängel nicht verhindern können – Notvorräte existierten nicht, die Züge waren überladen, die fruchtbarsten Regionen des Landes wurden überrollt –, doch Irrtümer, Durcheinander und vor allem die Realitätsverweigerung der Führer verschlimmerten die Situation unnötig. Aufschlussreich ist eine Geschichte, die Anastas Mikojan, Mitglied des Staatlichen Verteidigungskomitees und zuständig für Handel und Nachschub, in seinen Memoiren erzählt. In den frühen Kriegstagen war ein Konvoi aus Zügen mit Militärbedarf, der laut überholten Mobilisierungsplänen westwärts fuhr, nicht in der Lage, seine Ziele zu erreichen. Da Mikojan wusste, dass Leningrad auf Getreide aus dem Süden angewiesen war, befahl er, die Züge in die Stadt umzuleiten:
Fest überzeugt, die Leningrader würden froh sein über diese Entscheidung, hatte ich die ganze Geschichte vorher nicht mit ihnen abgestimmt. Auch I.W. Stalin wußte nichts davon bis zu dem Zeitpunkt, da A.A. Shdanow ihn aus Leningrad anrief und erklärte, alle Leningrader Lager seien vollgestopft, und man möchte ihnen doch außerplanmäßig keine Lebensmittel mehr liefern …
Damals hielt niemand von uns eine Blockade Leningrads für möglich. Deshalb gab Stalin mir Anweisung, den Leningradern über die mit ihnen vereinbarte Menge hinaus keine Lebensmittel mehr zu schicken.6
Schdanow hatte Punkte für seinen Eifer gesammelt und sich gegenüber einem Rivalen behauptet: Die Züge fuhren anderswohin.
Auch als die Belagerung begonnen hatte, herrschten weiterhin Verwirrung und Selbstgefälligkeit. »Die Zuständigkeit für Lebensmittellieferungen«, erinnerte sich Pawlow,
lag bei zehn verschiedenen Wirtschaftsorganen. Da Anweisungen von ihren Hauptbüros in Moskau fehlten, verteilte jedes seine Produkte nach dem üblichen Verfahren … Mitte September telegrafierte die Zentralverwaltung der Zuckerindustrie in Moskau ihrer Leningrader Niederlassung, eine Reihe mit Zucker beladene Güterwagen aus Leningrad nach Wologda zu schicken, obwohl Leningrad seit dem 8. September blockiert war. Es gab viele ähnliche Fälle.
Obgleich vor Pawlows Ankunft in Leningrad die teuren »Kommerzläden« – im Juli eröffnet, um den beruhigenden Anblick gefüllter Regale zu bieten – bereits wieder geschlossen waren, verkaufte man in Kantinen und Restaurants weiterhin nicht der Rationierung unterliegende Produkte, die beträchtliche acht bis zwölf Prozent der gesamten Ausgaben an Öl, Butter, Fleisch und Zucker ausmachten. Auch die Herstellung von Bier und Eiscreme setzte sich fort, ebenso der Verkauf von Luxusartikeln wie Kaviar, Champagner und Kaffee.7
Am offenkundigsten war das Versäumnis der Behörden, die Lebensmittellager über die Stadt zu verteilen und dadurch das Risiko durch Luftangriffe zu verringern. Das Ergebnis war das erschreckende Feuer vom 8. September in den Badejew-Lagern, von dem die Leningrader damals glaubten, es habe fast sämtliche Vorräte vernichtet – die Luft soll vom Geruch brennenden Schinkens und Zuckers durchsetzt gewesen sein –, und der Brand gilt immer noch als Auslöser des schnellen Abgleitens in die Hungersnot. (»Es war der Zeitpunkt, als das Leben endete«, wie Marina Jeruchmanowa es ausdrückte, »und als das reine Existieren begann.«)
Pawlow bestreitet in seiner sonst recht unpersönlichen Darstellung die Bedeutung des Feuers heftig. Die Lagerhäuser seien voll von Kisten mit alten Unterlagen und Ersatzteilen gewesen, und der Brand habe nur 3000 Tonnen Mehl und 2500 Tonnen Würfelzucker erfasst, von denen ein Großteil zu Süßigkeiten verarbeitet worden sei. Doch was die öffentliche Moral betraf, so war das Badejew-Feuer unzweifelhaft eine Katastrophe. »Kurz danach«, erinnerte sich Jeruchmanowa,
wurden uns acht Kilogramm Linsen, etwas Krabbenfleisch in Dosen und ein paar andere Dinge ausgehändigt. Alle waren unzufrieden damit, dass man diese Zuteilungen nicht vor, sondern erst nach dem Feuer angeordnet hatte. Wahrscheinlich hätte es viel Mut gekostet, in jenen Tagen derartige Anweisungen zu geben. Aber warum hatten sie nicht genug Voraussicht?8
Zu den erfolgreicheren Initiativen der Leningrader Führung im Herbst 1941 gehörten ihre Bemühungen, Lebensmittel innerhalb des Belagerungsrings ausfindig zu machen und Speiseersatzstoffe zu ersinnen. Als Erstes versuchte man (was allerdings durch den Mangel an Transportmitteln behindert wurde), die Ernte aus der nicht besetzten Gegend im Osten und Norden der Stadt einzubringen. Für Landarbeiter (die keine Rationen erhielten) bedeutete dies einen fast so schweren Druck wie während der Kollektivierungshungersnot ein Jahrzehnt zuvor. Im November fiel zum Beispiel die Norm an Kartoffeln, die Landarbeiter behalten durften, auf 15 Kilo pro Person und Monat; der Löwenanteil musste den Requirierungsteams überlassen werden, die von den örtlichen Sowjet-Exekutivkomitees zusammengestellt wurden. Bauern, die ihre Kartoffeln versteckten, wurden »nach Kriegsgesetzen belangt« – mit anderen Worten, nicht spezifizierten strafrechtlichen Maßnahmen unterworfen.9 Man kommandierte zusätzliche Erntehelfer aus der Stadt ab, die allerdings so viel wie möglich von der Ernte nach Hause schleppten. »Auf den Hauptstraßen und in den Vorortstraßenbahnen«, wurde in einer offiziellen Mitteilung vom 16. September geklagt, »sind Hunderte von Menschen mit Säcken und Körben zu beobachten … Die Unterlassung dringender Aktionen zur Beendigung dieser Anarchie wird dazu führen, dass die ganze Ernte Privatleuten in die Hände fällt.«10 Durch eine Mischung aus Zwangskäufen, Beschlagnahme und »Spenden« blieb der Druck auf die Kolchosen während des ersten Belagerungswinters bestehen und brachte insgesamt 4208 Tonnen Kartoffeln und sonstiges Gemüse, Vieh, das 4653 Tonnen Fleisch lieferte, über 2000 Tonnen Heu, 547 Tonnen Mehl und Getreide sowie 179000 Eier ein. Drei Fünftel des Mehls und Getreides stammte aus den Privatbeständen der Bauern, ebenso mehr als ein Viertel des Viehs und über die Hälfte der Kartoffelmenge.11
In der Stadt mussten Einrichtungen, die Lebensmittel verarbeiteten und verteilten, ihre Gebäude nach vergessenen oder mangelhaften Vorräten absuchen lassen, um diese möglicherweise als Mehlersatz für die Brotherstellung abzugeben. In den Mühlen wurde Mehlstaub von Wänden und unter Dielen abgekratzt, Brauereien konnten mit 8000 Tonnen Malz aufwarten, und die Armee stellte den für die Pferde gedachten Hafer zur Verfügung. (Die Tiere erhielten stattdessen in heißem Wasser aufgeweichte und mit Salz besprenkelte Birkenzweige. Einen anderen Futterersatz aus gepressten Torfstücken und Knochenmehl rührten sie allerdings nicht an.) Getreidekähne, die nach Bombardements vor Ossinowez gesunken waren, wurden durch Marinetaucher geborgen, wonach man das Korn, das bereits zu keimen begann, trocknete und mahlte. (Das so entstandene Brot stank, wie Pawlow einräumte, nach Schimmel.) An den Docks entdeckte man große Mengen Leinsamenkuchen, die gewöhnlich in Schiffskesseln verbrannt wurden. Obwohl sie im Rohzustand giftig waren, ließen sich die Toxine bei hohen Temperaturen unschädlich machen, und auch die Leinsamen wurden für die Brotproduktion verwendet. Durch all diese Ersetzungen sowie durch Rationskürzungen sank der Leningrader Mehlverbrauch von täglich über 2000 Tonnen Anfang September bis zum 1. November auf 880 Tonnen.
Als der Herbst in den Winter überging, wurden die Ersetzungen immer exotischer und die mit ihnen hergestellten Lebensmittel, die man anstelle der auf den Karten versprochenen Produkte wie Brot, Fleisch, Fett und Zucker ausgab, immer weniger nahrhaft. In Güterbahnhöfen aufgefundener Leinsamenkuchen, der normalerweise als Viehfutter diente, wurde zur Fertigung grauer »Makkaroni« verwendet. Man verarbeitete 2000 Tonnen Schafdärme aus den Hafenanlagen zusammen mit Kalbsleder aus einer Gerberei zu »Fleischgelee«, dessen Gestank durch Gewürznelkenöl nicht überdeckt werden konnte. Seit Ende November enthielt Brot neben zehn Prozent Leinsamen weitere zehn Prozent hydrolisierte Zellulose, die man durch einen Prozess, den Chemiker an der Forstakademie entwickelt hatten, aus Fichtenspänen gewann. Da sie keine Kalorien enthielt, hatte sie allein den Zweck, Gewicht und Masse zu erhöhen, damit die nominelle Brotration mit einer geringeren Mehlmenge geliefert werden konnte. Die Laibe, die in Blechformen gebacken werden mussten, damit sie nicht auseinanderfielen, waren schwer und feucht, besaßen eine lehmartige Konsistenz und einen bitteren, grasähnlichen Geschmack. Um einen Teil der zwei Tonnen Pflanzenöl zu sparen, mit denen die Backformen jeden Tag eingefettet wurden, ersann man eine Emulsion aus Wasser, Sonnenblumenöl und »Seifenstock«, einem Nebenprodukt bei der Verarbeitung von Speiseöl zu Treibstoff. Dadurch erhielten die Laibe, wie Pawlow zugab, eine seltsame Orangefarbe, »aber die Qualitätsmängel waren recht erträglich, und das gesparte Öl ging an die Kantinen«.12
Eine andere Erfindung der Forstakademie war ein »Hefeextrakt« aus fermentiertem Birkensägemehl, der in Scheiben an Betriebsküchen verteilt und, aufgelöst in heißem Wasser, als »Hefesuppe« serviert wurde.
Jedes persönliche Schicksal während der Belagerung entschied sich am Rationierungssystem. Alle Krieg führenden Länder verfügten über ein solches System, und überall wurde es durch Korruption, Schiebereien und Betrug verfälscht. Doch im belagerten Leningrad verstärkten sich diese Mängel nicht allein durch die extremen Kriegsbedingungen, sondern auch durch die Brutalität und Unfähigkeit des Sowjetregimes. Auch die Konsequenzen vergrößerten sich. Anderswo führten schlechte Planung und kümmerliches Management zu bohrendem Hunger, langweiligen und kleinen Mahlzeiten, in Leningrad verursachten sie unzählbare zusätzliche Todesopfer.
Speisen waren in der Sowjetunion stets ein Mittel zur Nötigung und zur Belohnung der Bevölkerung gewesen, und in Extremfällen dienten sie dazu, die Nutzlosen zu beseitigen und die Nützlichen am Leben zu erhalten. Wie Lenin 1921, mitten in der Hungersnot des Bürgerkriegs, vor einer Allrussischen Lebensmittelkonferenz erklärte:
Es geht nicht nur darum, [Lebensmittel] gerecht zu verteilen, sondern die Verteilung muss auch als Methode, als Instrument, als Mittel zur Erhöhung der Produktion verstanden werden. Staatliche Unterstützung in Form von Nahrung darf nur jenen Arbeitern gewährt werden, die wirklich notwendig für die höchste Arbeitsproduktivität sind. Und wenn Lebensmittelverteilung als politisches Instrument benutzt werden soll, dann setzt es ein, um die Zahl derjenigen zu verringern, die nicht ganz und gar notwendig sind, und um diejenigen, die es sind, zu ermutigen.13
Diese Philosophie, charakterisiert durch die Parole »Du isst, wie du arbeitest«, wurde in den ersten sowjetischen Arbeitslagern, auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer, erprobt. Man teilte die Häftlinge in drei Gruppen: jene, die für Schwerarbeit geeignet waren, solche, die nur leichte Arbeit verrichten konnten, und Invaliden. Die erste Gruppe erhielt 800 Gramm Brot pro Tag, die zweite 500 und die dritte 400 Gramm. Wie erwartet, blieben die stärksten und relativ gut ernährten Gefangenen gesund, während die schwächsten, die sich mit der halben Ration begnügen mussten, noch mehr verfielen und starben. Das System, das (erfolglos) darauf abzielte, die Lager autark zu machen, wurde später im gesamten Gulag übernommen.14
Am anderen Ende der Skala diente die Ernährung dazu, die Hierarchie innerhalb des Establishments und des Parteiapparats zu kennzeichnen. »Geschlossene« Läden und Restaurants standen nur Parteimitgliedern oder Angestellten bestimmter Institutionen zur Verfügung, die Speiseangebote waren präzise abgestuft. In seinem epischen autobiografischen Roman Leben und Schicksal beschreibt der Kriegskorrespondent Wassili Grossman die sechs Menüs im Speisesaal des Physikinstituts der Moskauer Akademie der Wissenschaften:
Es gab sechs verschiedene Essenskategorien – für Doktoren der Wissenschaft, leitende wissenschaftliche Mitarbeiter, wissenschaftliche Mitarbeiter, leitende Laboranten, technisches Personal und Hilfspersonal.
Die größte Aufregung gab es um das Essen der ersten beiden Kategorien, die sich voneinander durch den dritten Gang unterschieden, Kompott aus Trockenobst oder Pudding.15
Ein anderer Journalist, ein britischer Kommunist namens John Gibbons, arbeitete während des Krieges für den Moskauer Rundfunk. Im Winter 1941/42, als die Nahrungsmittelknappheit überall in der Sowjetunion akut war, verärgerte ihn die Tatsache, dass sein Mittagessen am Arbeitsplatz aus trockenem Brot und aus Tee ohne Zucker bestand, während sein Chef, der im selben Büro saß, Schinken und Eier verspeiste. Obwohl er dies als Teil des Systems und als »zweifellos berechtigt« akzeptierte, war es gleichwohl »verdammt unangenehm, den Schinken und die Eier zu riechen. Umso mehr als der Chef dies für ganz normal hielt und mir nie auch nur ein Stück Schinken anbot.«16
Das Leningrader Rationierungssystem war dem des Gulag ähnlich. Obwohl offiziell »jeder nach seinen Bedürfnissen« versorgt werden sollte, reichte es in der Praxis (gerade) dazu aus, das Leben der für die Verteidigung der Stadt unerlässlichen Personen – Soldaten und Industriearbeiter – zu erhalten, während Büroangestellte, alte Menschen, Arbeitslose und Kinder zum Tode verurteilt wurden. Als man die Rationierung Mitte Juli einführte, wurden den Leningradern die gleichen Mengen zugeteilt wie den Moskauern: großzügige 800 Gramm Brot täglich für Handarbeiter, 600 Gramm für Büropersonal und 400 Gramm für Kinder und Arbeitslose, dazu ausreichend Fleisch, Fett, Getreide oder Makkaroni und Zucker. Erstaunlicherweise verringerte der Stadtsowjet die Rationen erst am 2. September, fast zwei Wochen nachdem die direkte Eisenbahnverbindung nach Moskau abgeschnitten worden war. Durch Pawlows Drängen folgte der ersten Reduzierung zehn Tage später eine zweite: auf 500 Gramm Brot für Handarbeiter, 300 für Büropersonal, 250 für Familienangehörige und 300 für Kinder. Zum Ausgleich wurden die Fett- und Zuckerrationen erhöht – im Rückblick ein schrecklicher Fehler. »Im Nachhinein«, gab Pawlow später zu, »könnte man sagen, dass in erster Linie die Fettration und auch die Zuckerration im September nicht hätten gesteigert werden sollen. Die rund 2500 Tonnen Zucker und 600 Tonnen Fett, die im September und Oktober verbraucht wurden …, wären im Dezember äußerst wertvoll gewesen.« Doch damals habe niemand geahnt, dass die Stadt so lange isoliert bleiben würde.17
Auf dem niedrigsten Stand, nach einer letzten Verringerung am 12. November, fielen die Rationen auf täglich 250 Gramm Brot für die 34 Prozent der Zivilbevölkerung, die als Handarbeiter eingestuft waren, und auf 125 Gramm (drei dünne Scheiben Brot) für alle anderen, außerdem auf lächerliche Mengen Fleisch und Fett. Für die Besitzer von Karten der unteren Kategorie waren dies offiziell 460 Kalorien pro Tag – weniger als ein Viertel der 2000 bis 2500 Kalorien, die ein Erwachsener durchschnittlich zur Beibehaltung seines Gewichts benötigt. Und sogar diese 460 Kalorien beruhten nur auf den offiziellen Angaben, denn in Wirklichkeit war Brot, wie wir erfahren haben, stark durch »Füllmasse« verfälscht, Fleisch gab es nicht, und an manchen Tagen wurden überhaupt keine Rationen ausgehändigt. Ernährungswissenschaftler, die später mit Hilfe von Überlebenden der Belagerung die langfristigen Konsequenzen von fötaler und kleinkindlicher Unterernährung erforschten, bezifferten die tatsächliche Menge, wenn man »Füllstoffe« berücksichtigt, eher auf täglich 300 Kalorien.18 Hätte man die erste Kürzung vom 11. September nur sechs Tage vorher durchgeführt, wären, wie Pawlow einräumte, fast 4000 Tonnen Mehl gerettet worden, und die letzte Kürzung hätte vermieden werden können.19
Zudem waren die Zuteilungen tödlich durch ihre Undifferenziertheit, was ältere Kinder und Heranwachsende anging. Kinder unter zwölf Jahren gehörten sämtlich derselben Kategorie an, was bedeutete, dass ein Elfjähriger nicht mehr als ein Kleinkind erhielt. Zwischen zwölf und vierzehn Jahren wurden sie als »Angehörige« eingestuft, selbst wenn sie arbeiteten und obwohl sie wegen ihrer raschen Entwicklung mehr Kalorien als Erwachsene benötigten. Ein Kind, das zwischen den beiden Rationskürzungen vom 12. September und 1. Oktober zwölf Jahre alt wurde, erlebte sogar, dass seine Brotration von täglich 300 auf 250 Gramm sank. Die Klassifizierungen waren, wie Pawlow einräumte, »ungerechtfertigt«, doch »die Situation machte es unmöglich, sie besser zu ernähren«.20 Ebenso unfair als »Angehörige« wurden nicht erwerbstätige Mütter behandelt, welche die Last auf sich nahmen, vor Brotläden Schlange zu stehen, um Waren zu feilschen und Brennstoff und Wasser nach Hause zu schleppen. Bezeichnenderweise erhielten »Angehörige« auch weniger Bedarfsartikel, etwa nur eine Schachtel Streichhölzer, nicht zwei wie die Arbeiter. Der Spitzname für die Angehörigenkarte lautete smertnik (»jemand, der dem Tod geweiht ist«).21
Die Übergabe der Rationen von Produktiven an Unproduktive wurde dadurch verhindert, dass Arbeiter keine Lebensmittel mit nach Hause zu ihren Familien nehmen durften. Eine Militärärztin hatte in das Lazarett, in dem sie arbeitete, ziehen müssen. Sie hatte ihre alte Mutter allein zurückgelassen und bat um Erlaubnis, einen Teil ihrer eigenen, relativ großzügigen Ration zu Hause zu verwenden. Der Antrag wurde abgelehnt, doch es gelang ihr, der Mutter durch einen Pfleger ein paar Nahrungsmittel zukommen zu lassen. »Ich musste dem Kommissar Bericht erstatten«, schrieb sie später, »und er versuchte, mir einzureden, ich hätte kein Recht, auf Nahrung zu verzichten und meine Gesundheit zu untergraben. Ich widersprach ihm nicht, erklärte jedoch, dass ich keine andere Wahl hatte, denn es sei meine heilige Pflicht, meine Mutter zu retten.«22 Hier wurden die Vorschriften, wie an vielen Arbeitsplätzen, nicht strikt durchgesetzt, doch anderswo durchsuchte man die Taschen der Beschäftigten, wenn sie das Gebäude verließen.
Immerhin duldeten die Behörden ein paar Ausnahmen von ihrem brutalen Utilitarismus. Als Schdanow hörte, dass viele bejahrte Wissenschaftler dem Tod nahe seien, soll er persönlich angeordnet haben, dass die städtischen Handelsorganisationen eine Liste der prominentesten Gelehrten anfertigten und zusätzliche Lebensmittelpakete schickten.23 Eine Nutznießerin war die Künstlerin Anna Ostroumowa-Lebedewa, die am 20. Januar 1942 ihre Tür öffnete und zu ihrem Erstaunen eine Frau in weißem Kittel vor sich sah. Die Besucherin hatte eine mit Butter, Fleisch, Hefe, Zucker und getrockneten Erbsen gefüllte Kiste bei sich. »Das ist Genosse Schdanow zu verdanken«, schrieb Ostroumowa-Lebedewa in ihrem Tagebuch, »denn er hat mein Alter bemerkt und es übernommen, mir Lebensmittel zu schicken. Ich schätze, dass die Menge ungefähr dem entspricht, was man in einem Monat mit einer Arbeiterkarte erhalten würde.«24 Sie und ihr Dienstmädchen Njuscha konnten zehn Tage von der Sendung leben, aber dies milderte ihre kritische Einstellung gegenüber dem System nicht. Die Angehörigenkarte war ihrer Meinung nach ein Todesurteil und eine »Schande«, die den Zweck hatte, Leningrad von alten Menschen und Hausfrauen – »überflüssigen Mäulern« – zu befreien.25
Die unvermeidlich größte Schwäche des Rationierungssystems war seine Anfälligkeit für Korruption. In den am stärksten romantisierten sowjetischen Darstellungen ist davon keine Rede; vielmehr wird die gesamte Bevölkerung, abgesehen von ein paar schwachen Menschen und Saboteuren, so dargestellt, als habe sie dem Feind treu und selbstlos Widerstand geleistet. Auch in den realistischeren Berichten, etwa dem Pawlows (in der Zeit von Chruschtschows kurzlebigem »Tauwetter« veröffentlicht), wird das Ausmaß erheblich untertrieben. Während die Autoren detailliert auf die Maßnahmen eingehen, mit denen Gaunereien und Fälschungen von Lebensmittelkarten durch die allgemeine Bevölkerung verhindert wurden, beschönigen sie Diebstähle und Bestechlichkeit innerhalb des Verteilungsnetzes. Obwohl »Egoisten« und »Heuschrecken« versucht hätten, das System zu schwächen, gelangte Pawlow zu dem Schluss:
… die von der städtischen Parteiorganisation ergriffenen Schritte ermöglichten es, die Bevölkerung vor Spekulanten, Schwindlern und »Schmarotzern« zu schützen. Das Vertrauen der Bewohner in das etablierte System der Lebensmittelverteilung wurde aufrechterhalten. Es gab wenig Nahrung, doch jeder Einzelne wusste, dass seine Ration an keinen anderen weitergeleitet werden würde. Er würde erhalten, was er erhalten sollte.26
Dieses Bild ist, wie aus privaten und amtlichen Unterlagen hervorgeht, viel zu rosig. Die Leningrader erhielten nicht das, was sie erhalten sollten – im Gegenteil, sie standen stundenlang in Dunkelheit und Kälte Schlange, nur um häufig viel weniger als die ihnen gebührende Ration – oder sogar überhaupt nichts – zu bekommen. Auch empfanden sie das System keineswegs als fair: Jeder Tagebuchautor klagt über korrupte Vorgesetzte und wohlgenährte Kantinenarbeiter und Ladenmädchen; jeder schildert, wie er möglichst Zusatzrationen ergaunerte und mit ihnen auf dem Schwarzmarkt handelte.
Auch die Parteiakten sind voll von Korruptionsfällen. Der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende des Petrograder Bezirkssowjets, heißt es abschätzig in einem Dokument, hätten, statt »eiserne Ordnung aufrechtzuerhalten«, regelmäßig unerlaubte Lebensmittellieferungen für den eigenen Bedarf und für Kollegen organisiert. »Genosse Iwanow verwandelte sein Büro außerdem in ein Schlafzimmer für sich selbst und seine Kollegin, Genossin Wolkowa, womit er sich der Anklage aussetzt, sexuelle Beziehungen mit einer Untergebenen gehabt zu haben.«27 Ähnliches spielte sich im Parteikomitee des Primorski-Bezirks ab, wo zwölf seiner Mitglieder, angeführt vom Ersten Sekretär und dem Vorsitzenden des Bezirkssowjets, Sonderzustellungen direkt von der örtlichen Kantinenverwaltung empfingen. »Vor den Festlichkeiten am 7. November [Tag der Revolution]«, berichtete ein NKWD-Ermittler,
belieferte die Kantinenverwaltung das Bezirkskomitee mit zehn Kilo Schokolade, acht Kilo Kaviar und verschiedenen Konserven. Am 6. rief das Komitee bei der Verwaltung an und forderte mehr Schokolade … Insgesamt wurden im November Lebensmittel im Wert von 4000 Rubeln unterschlagen … Kantine Nr. 13 hielt Zigaretten für sämtliche Komiteemitglieder – 1000 Päckchen – bereit, doch Sekretär Charytonow befahl der Kantine, sie nicht auszuhändigen, wobei er sagte: »Ich werde sie alle selbst rauchen.«
Nikita Lomagin, der Historiker, der sich am gründlichsten mit dem Petersburger Sicherheitsdienstarchiv befasst hat, merkt an, dass der Bericht erst Ende Dezember vorgelegt wurde, woraus zu schließen ist, dass die Polizei sich vorher ebenfalls bereichert hatte. Zudem habe keiner der beteiligten Parteifunktionäre sein Amt verloren.28
Statt unehrliche Funktionäre zu bestrafen, versuchte die Parteiführung in erster Linie, die Öffentlichkeit an Mogeleien zu hindern. Eine von Pawlows ersten Aktionen bestand darin, gegen die Verwendung nichtautorisierter oder vervielfältigter Lebensmittelkarten einzuschreiten. Das Meldesystem war, wie er bei seiner Ankunft in der Stadt im September bemerkte, der enormen Bevölkerungsbewegungen der vergangenen zwei Monate nicht Herr geworden, so dass manche Leningrader Karten im Namen von Freunden und Verwandten beantragen konnten, die in die Evakuierung oder an die Front gezogen waren. Durch strengere Kontrollen und Geldstrafen sank die Zahl der im Oktober ausgestellten Karten auf 2,42 Millionen – ein Rückgang von 97000 gegenüber dem Vormonat. Dies reichte nicht aus, weshalb der Stadtsowjet am 10. Oktober einen von Schdanow vorgeschlagenen Erlass verabschiedete, der die nochmalige Beantragung sämtlicher Karten vorsah. Zwischen dem 12. und 18. Oktober mussten die Leningrader ihre Identität in Hausverwalterbüros oder am Arbeitsplatz nachweisen, wofür sie einen »Neuzulassung«-Stempel auf ihrer Karte erhielten. Ungestempelte Karten wurden danach bei der Vorlage konfisziert. So beschnitt man die Zahl der in Umlauf befindlichen Brotkarten um weitere 88000, der Fleischkarten um 97000 sowie der Öl- und Butterkarten um 92000.
Sofort erhöhte sich die Zahl der Anträge auf Ersatzkarten. Sämtliche Bewerber erzählten laut Pawlow »mehr oder minder die gleiche Geschichte: ›Ich habe meine Karten verloren, während ich Schutz vor Bombenabwürfen oder Artilleriebeschuss suchte‹ … Oder, wenn ihr Gebäude zerstört worden war: ›Die Karte war in meiner Wohnung, als das Haus getroffen wurde.‹«29 Im Gegenzug befahl man, Ersatzkarten nur durch das zentrale Lebensmittelkartenbüro ausstellen zu lassen, und dann auch nur in den am besten belegten Fällen. So entwickelte sich das Antragsverfahren für die Bewerber von dem vertrauten, öden Gerangel mit kleinlicher Bürokratie buchstäblich zu einem Kampf ums Überleben – zu einer »unheimlichen Verbindung«, wie Lidia Ginsburg es ausdrückte, »der alten (amtsüblichen) Formen mit einem neuen Inhalt (dem Hungertod eines Menschen)«:
Aber es gab noch immer die gleichen, traditionellen Typen von Sekretärinnen.
Zum Beispiel den unter Verwaltungsangestellten ziemlich verbreiteten sadistischen Typ. Das ist die boshafte Sekretärin … Setzt man sie … auf eine Stelle, wohin die Menschen kommen, wenn sie ihre Karte verloren haben, so spricht sie laut und in einem ausgemacht abweisenden Tonfall mit ihnen, wobei sie den Triumph der Verwaltung kaum unterdrückt.
Daneben gibt es auch die verträumte Sekretärin – man sieht ihrer Kleidung die Blockade noch nicht an – mit ihren schönen, noch immer mit Lidschatten geschminkten Augen. Sie hängt ihren eigenen Gedanken nach. Sie schaut den Menschen gutmütig an, dabei ist es ihr einziger Wunsch, sich den Störenfried schleunigst vom Hals zu schaffen, und ihre Ablehnung kommt träge und sogar ein wenig klagend (sie beklagt sich über die Störung). Schließlich gibt es noch den Typ der sachlich-nüchternen Frau … Ihre Ablehnung ist majestätisch, aber ausführlich, gespickt mit Belehrungen und Begründungen. Und obwohl ihr einziges Interesse dem gilt, was sie selbst sagt, wird es dem Menschen, der ohne seine Lebensmittelkarten höchstwahrscheinlich nur noch ein paar Tage zu leben hat, einen Augenblick lang leichter ums Herz.30
Ebenfalls im Dezember verfügte man, dass Karten nur in vorher festgelegten Geschäften eingelöst werden konnten. Da manche Läden deutlich besser waren als andere, mussten die Lenigrader einen weiteren Kampf auf Leben und Tod mit der Bürokratie ausfechten, um sich in dem Geschäft der eigenen Wahl registrieren zu lassen. (Dem Tagebuchschreiber Iwan Schilinski, der an seiner lokalen Verkaufsstätte Nr. 44 verzweifelte – unehrlich geführt und überlaufen von »randalierenden Großmüttern« –, gelang es, zu einem besser organisierten »Gastronom« überzuwechseln, indem er den Geschäftsführer mit seiner Pelzmütze bestach.31)
Trotz allem: Kein Rationierungssystem hätte die gesamte Bevölkerung von Leningrad tatsächlich retten können. Zu viele Münder mussten gefüttert werden, und der Lebensmittelvorrat war zu klein. Auch war das System kein komplettes Debakel, denn immerhin gelang es, Nahrungsmittel unter Bedingungen zu sammeln und zu verteilen, die auch einen vollständigen sozialen Zusammenbruch hätten nach sich ziehen können. Andererseits gab es unzweifelhaft schwere und vermeidbare Mängel, die unzählige Opfer kosteten. Im Lauf der Belagerung wurde es zu einer der häufigsten Betrügereien, den Tod von Verwandten zu verbergen, um ihre Lebensmittelkarte bis zu deren Erlöschen am Monatsende benutzen zu können. Auf diese Weise konnten Ehemänner, wie Schilinski über seine Nachbarn in einem aufgeteilten Holzhaus im nördlichen Vorort Nowaja Derewnja verzeichnete, ihren Witwen und Kindern posthum »Leben spenden«. »Sie werden bis Monatsende in der Kälte aufbewahrt«, schrieb er Ende Januar 1942, »und liefern Brot mit Hilfe ihrer Karten. Das geschah mit Serebrjannikow und Ussatschow, die beide im Schuppen verwahrt werden – genauso Syropatow und Fjodorow. Es spielt sich überall in der Stadt ab – so viele mehr sind tot, doch verborgen.«32