Die Blockade hatte begonnen. Fehler waren gemacht worden, und die Tragödie sollte sich nun mit einer – vom heutigen Standpunkt aus – scheußlichen Unvermeidlichkeit entfalten. Damals jedoch schienen die Ereignisse noch in der Schwebe zu sein. Kaum jemand rechnete mit einer Belagerung: Entweder würden die Deutschen rasch zurückgeschlagen oder Leningrad würde fallen.
Überall an der Ostfront schien die Wehrmacht nun kurz vor dem Sieg zu stehen. Im Norden hatte Leebs Heeresgruppe Nord Leningrad umzingelt. Acht Wochen zuvor hatte die Heeresgruppe Mitte Smolensk erobert und war nun nur noch rund dreihundertzwanzig Kilometer von Moskau entfernt. Außerhalb Kiews schickte sich die Heeresgruppe Süd an, vier Sowjetarmeen einzukreisen, um kurz danach die Stadt selbst einzunehmen. Die Außenwelt hielt es für durchaus möglich, dass das Sowjetregime gestürzt oder zu einem demütigenden Frieden gezwungen werden würde. (»Alle ergehen sich in Voraussagen darüber«, schrieb George Orwell in London, »wie langweilig die Freien Russen sein werden … Man hat Visionen von Stalin in einem kleinen Laden in Putney, wo er Samoware verkauft und kaukasische Tänze vorführt.«2) Am 4. September hatte Stalin seinen Botschafter Iwan Maiski mit einem halb verzweifelten, halb drohenden Schreiben zu Churchill entsandt. Er gab zu, dass die russische Front »zusammengebrochen« sei; deshalb müsse Großbritannien bis Jahresende eine zweite Front in Frankreich oder auf dem Balkan eröffnen, um dreißig oder vierzig deutsche Divisionen abzulenken. Wenn Sowjetrussland besiegt werde, fragte der Botschafter, wie könne Großbritannien dann den Krieg gewinnen? »Obwohl keine einzelne Formulierung diese Annahme rechtfertigte, konnten wir uns des Eindrucks nicht erwehren«, telegrafierte Churchill nach dem Treffen an Roosevelt, »die Russen spielten mit dem Gedanken an einen Separatfrieden.«3
Schdanow und Woroschilow wagten erst am 9. September, einen Tag später, Stalin mitzuteilen, dass Schlüsselburg gefallen war. Sein Antworttelegramm – ominöserweise auch von Malenkow, Molotow und Berija unterzeichnet – strotzte vor Verachtung:
Wir sind angeekelt von Ihrem Verhalten. Sie tun nichts anderes, als uns über die Kapitulation dieses oder jenen Ortes zu informieren, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie Sie planen, all diesen Verlusten von Städten und Bahnhöfen ein Ende zu setzen. Die Art, wie Sie uns über den Verlust von Schlüsselburg unterrichteten, war empörend. Ist dies das Ende Ihrer Verluste? Vielleicht haben Sie bereits beschlossen, Leningrad aufzugeben? Was haben Sie mit Ihren KW-Panzern angefangen? Wo haben Sie sie in Stellung gebracht, und warum gibt es keine Verbesserung an der Front, obwohl Sie über so viele verfügen? Keine andere Front hat auch nur die Hälfte Ihrer KW-Quote. Was tun Ihre Flugzeuge? Warum unterstützen sie die Soldaten auf dem Schlachtfeld nicht? Kuliks Division ist Ihnen zu Hilfe gekommen – wie wird sie von Ihnen eingesetzt? Dürfen wir auf irgendeine Besserung an der Front hoffen, oder ist Kuliks Hilfe verschwendet wie die KWs? Wir verlangen, dass Sie uns zwei- oder dreimal pro Tag über die Situation ins Bild setzen.4
Schon vor der Nachricht über Schlüsselburg hatte Stalin beschlossen, neue Befehlshaber zu ernennen. Am Vortag hatte er seinen Generalstabschef, Georgi Schukow, in den Kreml geladen und ihm befohlen, mit einer Notiz für Woroschilow nach Leningrad zu fliegen; darin stand schlicht: »Übergeben Sie Schukow den Befehl über die Armeegruppe und fliegen Sie unverzüglich nach Moskau.«
Der dreiundvierzigjährige Schukow – mit kahlem Quadratschädel, brutalem Willen, einem brillanten taktischen Gespür und dem Mut, Stalin in militärischen Angelegenheiten die Stirn zu bieten – war der herausragende sowjetische Befehlshaber des Zweiten Weltkriegs. Er hatte sich zwei Jahre zuvor einen Namen gemacht (und sich zugleich, wie er vermutete, den Klauen des NKWD entzogen), als er einen japanischen Vorstoß in die Sowjet-Mongolei zurückschlug. Im Winter 1942/43 sollte er die spektakulären Umzingelungsaktionen bei Stalingrad lenken und im Frühjahr 1945 die Rote Armee im Triumph in Berlin einmarschieren lassen. Die drei Herbstwochen 1941, in denen er den Deutschen vor Leningrad Einhalt gebot, trugen einen weiteren Teil zu der Legendenbildung bei.
Wie Schukow in seinen Memoiren erzählt, brach er in Moskau bei grauem, regnerischem Wetter gleich am selben Tag auf, nachdem er mit Stalin gesprochen hatte. Er nahm zwei vertraute Helfer aus mongolischen Tagen mit: die Generale Michail Chosin und Iwan Fedjuninski.5 Bei ihrem Anflug auf Ladoga lichteten sich die Wolken, und ihre Maschine wurde von zwei Messerschmitts entdeckt, die sie über die Wasseroberfläche jagten, bis sie von vorgeschobenen Flakgeschützen zur Umkehr gezwungen wurden. Nach der sicheren Landung auf einem Heeresflugplatz ließen sich die Generale direkt zum Smolny fahren, wo die Wache sie am Tor anhielt. Diese verlangte »unsere Passierscheine. Natürlich besaßen wir keine. Ich nannte meinen Namen, aber das half auch nicht. Dienst ist Dienst! ›Sie werden warten müssen, Genosse General‹, sagte der Posten und rief nach dem Wachhabenden. Es vergingen fast fünfzehn Minuten, bis der Kommandant des Stabes die Erlaubnis zur Einfahrt in den Smolny erteilte.«
Schukow betrat das Hauptquartier, wo nach seiner Schilderung eine Atmosphäre des trunkenen Defätismus herrschte. Eine Sitzung des Leningrader Militärrats war im Gange; man entwarf Pläne für die Zerstörung der städtischen Versorgungsunternehmen und wichtigsten Fabriken sowie für die Versenkung der Baltikflotte. Durch Schukows Ankunft änderte sich die Stimmung: »Die Lage war kritisch! Es gab aber noch einige ungenutzte Möglichkeiten. Letztlich wurde beschlossen, die Stadt bis zum äußersten zu verteidigen.«6 Die ganze Nacht hindurch diskutierte der Rat darüber, wie man die Verteidigungsstellungen von Leningrad am besten stärken könne, besonders um Pulkowo, einen Vorort, der an einer kleinen Hügelkette (auf der das älteste Observatorium Russlands stand) zwölf Kilometer südlich der Stadt lag. Zu Schukows Improvisationen gehörten der Umbau von Flakgeschützen für das Nahkampffeuer auf Panzer, die Abordnung von Matrosen der Baltikflotte zur Infanterie und der Transport von Marinegeschützen aus den blockierten Schiffen der Flotte an die schwächsten Frontsektoren. Unter den Kanonen, die man nach Pulkowo schickte, waren auch die des Panzerkreuzers Aurora, dessen Leerschuss aus einer Vorderdeckkanone den Beginn der Oktoberrevolution signalisiert hatte. Außerdem verlegte Schukow einen Teil der 23. Armee, die den »unterwürfigen« Finnen an der karelischen Meerenge gegenüberstand, nach Süden zur Bekämpfung der Deutschen, und er gab die Pläne zur Versenkung der Baltikflotte auf. »Wenn sie sinken soll«, erklärte er, »dann in der Schlacht, mit feuernden Geschützen.« Chosin wurde Generalstabschef der Nordwestfront, und Fedjuninski fuhr zur Inspektion der 42. Armee nach Pulkowo. Die Moral dort sei angeschlagen, meldete er. Das Hauptquartier habe den Kontakt zu den Fronteinheiten verloren und verlagere sich selbst weit nach hinten, in den Keller einer Fabrik der Kirow-Werke. »Übernimm die 42. Armee«, befahl Schukow ihm, »und zwar schnell.«7
An vorderster Front machte Schukows Ankunft zunächst nicht viel aus, hier blieb es so chaotisch wie eh und je. Wassili Tschekrisow war ein neununddreißigjähriger Chefingenieur in der Sudomech-Werft. Er hatte ein langes Gesicht, große, ernste Augen und einen dünnen Schnurrbart. Während des Terrors war er degradiert worden und hatte vorübergehend seinen Parteiausweis verloren. Diese Erfahrung hatte ihn jedoch nicht vorsichtiger werden lassen. Im Lauf der Belagerung sollte er in einen zunehmenden Konflikt mit seinen korrupten Vorgesetzten geraten, und er war immer wieder schockiert über die Kluft zwischen Parteirhetorik und Realität. Am 1. September hatte man ihn mit einem Trupp zu einem Dorf bei Puschkin entsandt, wo sie armierte Feuerstellungen – mit dem Spitznamen »Woroschilow-Hotels« – bauen sollten. Die Szene, auf die er stieß, wiederholte sich in jenem September überall an der Ostfront: Scharen von Bauern, die überladene Wagen fuhren oder mit Bündeln auf der Schulter dahinstapften; ein berittener Bote, der sich laut rufend durch die Menge drängte; unrasierte Offiziere in zerknüllten Wintermänteln; Soldaten, die sich auf einer Parkbank Tee kochten; ein Junge, der eine Ziege an einer Schnur hinter sich herzog. Tschekrisows Vorschlag, die Unterstände weiter hinten zu bauen, wurde, wie er seinem Tagebuch anvertraute, nicht geschätzt. Später, in der Dämmerung, konnte er die Feuer von drei brennenden Dörfern sehen.
In den folgenden beiden Tagen wurde die Gegend immer stärkerem Geschützfeuer ausgesetzt, wodurch Tschekrisow und seine Leute gezwungen waren, bei Nacht zu arbeiten. Da es ihnen an Kränen und Traktoren fehlte, schleppten sie Wasser in Eimern und Betonklötze per Hand heran. Ihr Quartier teilten sie mit einer Gruppe achtzehn- und neunzehnjähriger Krankenschwestern, die, wie die Männer, in Schichten auf dem Fußboden oder auf Tischen schliefen. »Von den elf«, notierte Tschekrisow erbittert, »ist nur eine im Besitz einer Decke. Uns geht es nicht anders, aber wir haben wenigstens Mäntel. Es ist erst unser vierter Tag, doch sie sind schon seit anderthalb Monaten hier. Könnte das Hauptquartier sie wirklich an keinem besseren Ort unterbringen?« Am 11. September erlebte er seinen ersten Bombenangriff und war erschüttert über die Furcht und Bestürzung in den Gesichtern der Menschen. »Es war interessant, als blicke man in einen Spiegel. Sah meines wirklich genauso aus?« Zwei Mitglieder seiner Gruppe – Jungen von noch nicht zwanzig Jahren, die ein paar Tage zuvor Cognac geschlürft und »im Partisanenstil« vor den Krankenschwestern geprahlt hatten – waren durch den Angriff schwer verletzt worden, und einer starb über Nacht. Tschekrisow begleitete die Leiche zurück nach Leningrad:
In der Fabrik begegnete man der Nachricht teilnahmslos, schob sie beiseite. Man ließ uns dort nicht einmal seinen Sarg aufstellen, weshalb wir ihn zu seiner Familie brachten. Ihr Zimmer ist sogar ohne den Sarg sehr klein, und wir konnten uns kaum darin umdrehen. Heute ist er beerdigt worden. Ich wollte zur Beerdigung gehen, aber ich konnte es nicht ertragen, zu seiner Wohnung zurückzukehren – oder, genauer gesagt, seiner Mutter erneut ins Gesicht zu schauen. Sie ist ganz und gar untröstlich. Besser, keine Tränen sehen zu müssen.
An der Front traf er auf eine noch schlimmere Verwirrung als je zuvor. »Die Verbindung mit Puschkin ist verloren gegangen«, schrieb er am 16. »Wir fuhren nach Schuschari, wohin wir unsere mobilen Geschützstellungen bringen sollen, aber es gibt keine Transportmittel, und wir wissen nichts mit den Geschützen anzufangen. Die Situation ist bis ganz nach oben die gleiche.« Im Hauptquartier, wo er um Fahrzeuge bat, »schienen zehn Personen jedes Problem lösen zu wollen«:
Mein Eindruck ist, dass sie zumeist gewöhnliche Bürokraten in Militäruniform sind. Gestern hatte ich es endlich satt. Ich erklärte ihnen, dass wir im Schlamassel steckten. Vermutlich waren viele von ihnen meiner Meinung … Hier ist ein Beispiel – etwas, das sich tatsächlich in Pawlowsk zutrug. Die Lastwagenfahrer, die uns mit Ersatzteilen versorgen, müssen Lieferscheine ausfüllen, jeweils mit einer Abteilungsnummer genau wie in der Stadt. Der Transportleiter warnte mich, dass alles korrekt erledigt werden müsse, doch dass ein bestimmter Fahrer unerfahren sei und Hilfe benötige. Sein Formular auszufüllen dauerte dreißig Minuten, und das an der Front! Oh, wie wir Papier anbeten! Die Deutschen haben wahrscheinlich ein einfaches Verfahren für all das …
Die Etappe ist voll von Stabsoffizieren jeden Ranges. Alle laufen herum und wirken besorgt. Ich bin sicher, dass eine gute Hälfte von ihnen nichts tut. Ja, was die Führung angeht, erweist unsere Armee sich als ziemlich schwach. In den Fabriken findet man genug Desorganisation, aber hier ist es noch zehnmal schlimmer. Werden sie die Dinge denn nie anpacken?8
Während Tschekrisow sich damit abmühte, seine Unterstände zu bauen, die ohnehin bald gestürmt werden würden, war die achtundzwanzigjährige Anna Selenowa – eine energische und ernste junge Frau mit einer runden Brille und emanzipiert kurz geschnittenen Haaren – ein paar Kilometer weiter damit beschäftigt, die endgültige Evakuierung von Zar Pauls Pawlowsker Palast mit seinen Kuppeln und Kolonnaden zu organisieren. Es war, wie sie sich erinnerte, eine Zeit »unglaublicher Eile. Man hatte die Fenster des Palastes mit Brettern vernagelt. Da es keinen Strom gab, arbeiteten wir bei Kerzenlicht, oder wir verbrannten Taue und Papierfetzen.« Nachdem sie den, wie sich zeigen sollte, letzten Lastwagen nach Leningrad hatte beladen lassen, lief sie hinein, um die Bibliothek noch einmal zu überprüfen:
Ich ging hinunter, rannte an den Schreibtischen und Schränken entlang und öffnete alle Türen. Und im letzten Schrank entdeckte ich ein paar Mappen. Ich machte eine auf und erstarrte. Hier waren sämtliche Originalpläne von Rossi [dem Architekten]. Dann öffnete ich die größte, und es schwirrte mir vor den Augen. Hier waren Camerons Zeichnungen – und Gonzagos, Quarenghis, Woronichins. Man hatte meine Anweisungen nicht befolgt. Diese unbezahlbaren Dokumente würden zurückgelassen werden.
Die Mappen passten nicht in eine der Standardkisten, deshalb mussten wir eine besondere Box anfertigen. Zum Glück waren die Tischler noch da. Ich nannte ihnen die Maße, aber sie erwiderten: »Wir haben kein Holz mehr.« Also befahl ich ihnen, eine Truhe, die Kissen enthielt, auseinanderzubrechen. Während die Kiste gezimmert wurde, entschloss ich mich, einen Akt des Vandalismus zu begehen. Mich quälte die Tatsache, dass die einzigartigen Gobelinbezüge von Woronichins Möbeln aus dem Griechischen Saal zurückgelassen werden sollten. Die Stühle konnten wir nicht retten, aber die Gobelins. Jedes Stück war mit Hunderten winziger vergoldeter Nägel befestigt. Wahrscheinlich hätte ich mich nicht überwinden können, sie zu berühren, wenn nicht genau in jenem Moment eine Kanone abgefeuert worden wäre. Unter diesen Umständen griff ich nach einer Rasierklinge und schlitzte die Polster so dicht wie möglich an den Nägeln auf. Dann legten wir die Mappen, mit den Gobelins dazwischen, in die neue Kiste.
Als Nächstes musste man sich um die Skulpturen des Palastes kümmern, die in den nackten Galerien nun schmerzlich schön wirkten. Sorgfältig schoben Selenowa und ihr Personal die Werke in eine unauffällige Ecke des Schlosskellers und mauerten sie ein. Damit sich die neue Wand ihrer Umgebung anpasste, wurde sie mit Schlamm und Sand beschmiert. Die über den Park verstreuten Statuen – Apoll, Merkur, Flora, Niobe mit ihren weinenden Kindern – wurden an Ort und Stelle vergraben. Auf den weißen Marmor von Justitia und Pax schrieb ein Arbeiter: »Wir werden zurückkommen und euch holen«, bevor er sie vergrub und die Stelle mit gefallenen Blättern tarnte.
Die Rote Armee befand sich nun auf ganzer Linie auf dem Rückzug. Als Selenowa den Palast am Morgen des 19. September betrat, stellte sie zu ihrem Ärger fest, dass verstaubte Militärmotorräder nachlässig zwischen den Fliederbüschen von Zarin Maria Fjodorownas holländischem Garten geparkt waren. In ihrem Büro saß ein Major, der die Kurbel eines Telefons drehte:
Ich war erstaunt über die Müdigkeit seines Gesichts. Jemand grunzte am anderen Ende des Kabels, und er erwiderte (offenbar nicht zum ersten Mal), dass er nicht eingehängt habe, dass die Verbindung schlecht sei und dass er über nicht mehr Männer verfüge. Die Person am anderen Ende knurrte immer noch wütend. Der Major legte den Empfänger ganz langsam nieder, und ich begann: »Könnten Sie Ihren Soldaten sofort befehlen, ihre Motorräder aus den Privatgärten zu entfernen?« Er fragte: »Wessen Privatgärten?« Und dieser arme, erschöpfte Major musste sich eine ganze Vorlesung über Cameron anhören.
Am Abend erhielt Selenowa einen Anruf von der Leningrader Museumsverwaltung und erfuhr, dass sie zur Direktorin von Pawlowsk ernannt worden sei – eine nichtige Beförderung, da sie gleichzeitig offiziell die Verantwortung für die »rasche Evakuierung« erhielt. »Dann brach der Anruf ab, weshalb ich nichts erklären konnte … Ich wusste, dass wir abfahren mussten, doch wie konnten wir all die Kisten, die wir vorbereitet hatten, und die Dinge, die noch nicht verpackt waren, im Stich lassen? Nein, lasst uns weiterarbeiten!« Da keine Lastwagen mehr aus Leningrad eintreffen würden, beschlagnahmte sie mehrere Pferdekarren:
Nachdem wir den letzten Kutscher verabschiedet hatten, erschien ein grüner MK. Ein kleiner Leutnant sprang aus dem Wagen und fragte mit einer unerwartet lauten, herrischen Stimme: »Wer sind Sie und was tun Sie hier?« Ich erklärte, dass ich die Direktorin des Palastmuseums und -parks sei, und stellte die anderen als meine Kollegen vor. Der Leutnant explodierte: »Aber alle in der Stadt sind evakuiert worden.«
»Wir organisieren die Evakuierung selbst und warten auf Fahrzeuge.«
»Es wird keine geben! Sie haben Glück, dass ich hergekommen bin, um mich zu überzeugen, dass alle aus dem Divisionshauptquartier verschwunden sind. Steigen Sie sofort in mein Auto!«
»Ich kann nicht aufbrechen, selbst wenn Sie es verlangen, denn ich bin auf Befehl des Oberkommandos hier.« Und ich nannte ihm die Nummer des Befehls.
»Sie verstehen nicht! Pawlowsk ist nicht an der Front, nicht einmal im Frontbereich. Es ist die deutsche Etappe!«
Eine Sirene ertönte, und Selenowa lief ins Untergeschoss des Palastes, das zu einem Luftschutzkeller gemacht worden war. Samowaren und Nähmaschinen ausweichend, verkündete sie einer Schar von Frauen und Kindern, dass Pawlowsk aufgegeben worden sei; wer in die Stadt wolle, werde zu Fuß gehen müssen. Während sie sprach, stürmte ein Förster herein und rief: »Im Park sind deutsche Motorradfahrer. Ich habe sie selbst gesehen. Neben den Weißen Birken!« Selenowa begriff rasch, dass die Frauen sich nicht von der Stelle rühren würden. Also ging sie nach oben, leerte den Inhalt ihrer Schreibtischschublade in eine Aktentasche und machte sich zu Fuß in Richtung Leningrad auf.
Sie brauchte die ganze Nacht, um die Strecke zurückzulegen, wobei sie in Stadtschuhen über Felder und durch Schrebergärten stolperte und sich beim Dröhnen von Artilleriefeuer in Gräben duckte. Unterwegs passierte sie den benachbarten Palastort Puschkin, wo in letzter Minute die gleichen Rettungsbemühungen wie in Pawlowsk – Tafelgeschirr wurde in frisch geschnittenem Gras verpackt, Silber in Zar Nikolaus’ Marineuniformen gewickelt – stattgefunden hatten. Als sie den Alexanderpark durchquerte, sah sie Rinaldis Chinesisches Theater unter Flammen zusammenstürzen; in Kolpino erhellte die brennende Ischorsker Fabrik den Himmel wie eine falsche Morgenröte. Näher bei Leningrad waren die Straßen nicht mehr von so vielen Kratern übersät, und sie wurde von einem Armeelastwagen voll Verwundeter mitgenommen. Der Fahrer setzte sie ab, sobald sie mit einer Straßenbahn in die Stadt fahren konnte. Um 10 Uhr erreichte sie schließlich die Isaakskathedrale, in deren großen, »trüben, grimmigen, kalten und feuchten« Räumen sie sich die gesamte Belagerung hindurch aufhalten sollte – zusammen mit dem Personal und den geretteten Beständen aller anderen aufgegebenen Sommerpaläste.9
Am selben Tag, als die Deutschen in Pawlowsk einzogen, eroberten sie auch den Nachbarort Puschkin. Hier wurde ihre Ankunft für eine geordnete Evakuierung ebenfalls zu spät bekanntgegeben. Einmal schickte man Ortsansässige, die nach Leningrad geflohen waren, sogar wieder heim, weil ihnen Aufenthaltsgenehmigungen fehlten. Die leidenschaftlich antibolschewistische Olga Ossipowa betrachtete mit ironischer Distanz, wie ihre Freunde und Bekannten um eine Entscheidung rangen. Eine Spaltung, schrieb sie am 17. August, habe sich zwischen »Patrioten« und »Defätisten« entwickelt: »›Patrioten« versuchen, sich so schnell wie möglich evakuieren zu lassen, während die Letzteren, wie wir, dies mit allen Mitteln vermeiden wollen.« Sie und viele andere zogen es vor, den Berichten über NS-Gräueltaten keinen Glauben zu schenken. »Natürlich«, redete sie sich in ihrem Tagebuch ein, »ist Hitler nicht das Ungeheuer, als das unsere Propaganda ihn darstellt … Menschen, denen die Juden in Deutschland, die Neger in Amerika und die Inder in Indien leidtun, vergessen unsere eigenen ausgeplünderten Bauern, die wie Küchenschaben ausgerottet wurden.« Sogar einige ihrer jüdischen Freunde stimmten ihr zu. »Von vielen Juden haben wir gehört: ›Warum sollen wir ausreisen? Na ja, vielleicht werden wir eine Weile in Lagern sitzen müssen, aber dann werden sie uns entlassen. Schlimmer als jetzt kann es nicht sein.‹«
Während die Kämpfe näherrückten, stieg die Besorgnis. Ossipowas Nachbarin, eine frühere Parteiangehörige, verbrachte den Abend des 2. September damit,
dass sie zwischen ihrem Zimmer und der Müllhalde auf dem Hof nebenan hin- und herlief, die Arme voller Lenin-Werke in rotem Einband. Wenn sie die Bücher des großen Genies nicht dem Müll anvertraute, kam sie hin und wieder zum Plaudern und zu einer Zigarette bei uns vorbei. Sie beklagte ihr Los und jammerte über die Sowjetregierung. Ich sehe nun ein, dass die Sowjetmacht auf keinem guten Weg ist, denn NF ist keine Frau, die von ihren Emotionen beherrscht wird. Sie wuchs unter den Sowjets auf und hat sämtliche Stufen der Parteileiter, von den höchsten bis zu den niedrigsten, beobachten können. All das hat sie zu einer Zynikerin werden lassen, und sie glaubt nicht mehr an den kommunistischen Unsinn, an den idealistischen Traum. Es ist amüsant, sie zu betrachten, aber sie sollte sich vor den Deutschen in Acht nehmen, da sie mit drei Juden verheiratet war und ihre Tochter Halbjüdin ist. Und sie selbst hat kommunistische Federn am Schnabel.
Im Halbdunkel des überfüllten Luftschutzbunkers wurden ungewöhnlich freimütige Gespräche geführt. Die Menschen redeten, schrieb Ossipowa, »über Dinge, die wir vor dem Krieg nicht im Schlaf oder nicht einmal in betrunkenem Zustand erwähnt hätten, außer in der Gesellschaft von engsten Vertrauten. Ich sitze hier, schreibe ganz offen mein Tagebuch, und niemand schenkt mir die geringste Aufmerksamkeit.« Als die Geschosse in Puschkin einzuschlagen begannen, zogen ihre Nachbarn und sie dauerhaft in ihre Keller. Ossipowa sehnte sich nach dem, was sie für Befreiung hielt. »Wir sitzen den ganzen Tag lang nur«, notierte sie am 15. September. »Völlige Verwirrung scheint sich ausgebreitet zu haben. Wir fragten: Wo sind die Deutschen? In Kusmino. Das bedeutet, dass sie in ungefähr zwei Stunden hier sein werden.« Zwei Tage später waren die Straßen immer noch leer:
Noch keine Deutschen. Wir gingen in den Ort. Überwältigende Stille … Überhaupt kein Zeichen von den Behörden. Wenn sie hier sind, dann verstecken sie sich. Alle haben Angst, dass unsere Leute kommen könnten und nicht die Deutschen … Wenn es die Deutschen sind, dürfte es ein paar unwichtige Einschränkungen geben und dann FREIHEIT. Wenn es die Roten sind, werden wir mehr von diesem hoffnungslosen Dahinvegetieren und höchstwahrscheinlich Repressionen erleben …
Am folgenden Tag erhielt sie den ersten unbehaglichen Hinweis darauf, dass die Nazis tatsächlich ganz anders waren, als sie es sich nach der Schullektüre von Heine und Schiller vorgestellt hatte. Sie hob ein antisemitisches Propagandablatt auf, das ein deutsches Flugzeug abgeworfen hatte. »Welche Mittelmäßigkeit, Dummheit, Grobheit. ›Schlagt den Jidden, den Politruk. Seine Fresse verlangt nach einem Ziegelstein!‹ Und welch eine vulgäre, verstümmelte Sprache … Ist es möglich, dass wir uns irren, dass die Deutschen wirklich so schlimm sind, wie die Sowjetpropaganda sie darstellt?« Am 19. September war das Warten endlich vorbei. »Es ist soweit«, schrieb sie frohlockend in ihr Tagebuch, »DIE DEUTSCHEN SIND GEKOMMEN! Zuerst war es schwer zu glauben. Wir kletterten aus dem Luftschutzkeller und sahen zwei wirkliche deutsche Soldaten dahinschreiten. Alle eilten auf sie zu … Die alten Frauen hasteten zurück in den Keller und holten Süßigkeiten, Zuckerstücke und Weißbrot hervor.« Der Eintrag endet: »KEINE ROTEN MEHR! FREIHEIT!«
Es war ein verhängnisvoller Irrtum – oder vorsätzliche Blindheit. Einer derjenigen, die aus Puschkin nach Leningrad flohen, war der Komponist Bogdanow-Beresowski, der in einem Flügel des Katharinenpalasts gewohnt hatte, bevor er mit den übrigen Mitgliedern des Musikerverbands zum Verladen von Bauholz in die Leningrader Docks geschickt wurde. Kurz nach dem Fall von Puschkin stieß er auf eine frühere Nachbarin, die die Übernahme des Ortes miterlebt und sich dann zu Fuß in die Stadt aufgemacht hatte:
Sie erzählte uns schreckliche Dinge … Eine gewöhnliche Deutschlehrerin an der Mittelschule von Puschkin übernahm eine »Führungsrolle«, indem sie sich freiwillig als Dolmetscherin meldete und verschiedene Kommunisten identifizierte, darunter die reizende Anetschka Krassikowa von der Palastverwaltung. Anetschka – hübsch, jung, immer fröhlich – kam häufig bei uns vorbei. Ihr Gesichtchen wurde nicht einmal durch den Kneifer verdorben, obwohl er überhaupt nicht zu ihr passte. Ihr Mann und ihr fünfjähriger Junge konnten rechtzeitig abreisen, aber sie war für die Luftschutzbunker des Palastes zuständig, in denen sich ein großer Teil der Ortsbevölkerung versteckte. Dadurch schaffte sie es nicht, sich mit einem Lastwagen oder zu Fuß zu entfernen. Die Faschisten erschossen sie und verschiedene andere auf dem Rasen gegenüber dem Exerzierplatz, neben dem Monogramm-Tor, nachdem sie zuerst ihre eigenen Gräber hatten graben müssen. Ein altes jüdisches Paar – die Litschers vom rechten Flügel – wurde aufgehängt (die alte Dame war so stolz auf ihren Jungen, den Panzerfahrer!). Das Gleiche geschah mit drei Juden vom linken Flügel, zwei von ihnen großohrige Jungen von vielleicht sieben oder acht Jahren, die früher immer an unseren Fenstern vorbeirannten.10
Der ersten Jagd der Deutschen auf die Juden und Kommunisten von Puschkin folgte bald ein Befehl, dass alle Juden am 4. Oktober zur »Registrierung« im Büro der Kommandantur – gegenüber dem Kino »Avantgarde« an der Ecke der Ersten-Mai-Straße – erscheinen sollten. Mehrere hundert Menschen, hauptsächlich Frauen, Kinder und alte Leute, folgten dem Befehl. Von der Kommandantur ließ man sie zum Katharinenpalast marschieren und sperrte sie mehrere Tage lang ohne Lebensmittel und Wasser im Keller ein, bevor sie in Gruppen herausgeholt und auf dem Flugplatz oder in einem der Schlossparks erschossen wurden. Ihre Kleidung warf man aus einem Fenster in der zweiten Etage des Lyzeums – berühmt für seinen früheren Schüler Puschkin – zu der wartenden Menge hinunter.
Die Massenverhaftungen setzten sich mehrere Wochen lang fort. Am 20. Oktober wurden weitere fünfzehn Erwachsene und dreiundzwanzig Kinder vor dem Katharinenpalast erschossen. Nachdem die Leichen zwölf Tage lang im Freien gelegen hatten, warf man einige in einen Bombenkrater im Schlosshof und beerdigte die übrigen in den Gärten. Es gab Fälle, in denen Juden von ihren nichtjüdischen Nachbarn versteckt wurden, aber es kam auch zu Anzeigen, die, wie zur Zeit des Terrors, durch die Gier nach dem Wohnraum der Opfer motiviert waren. So geschah es der Buchhalterin des Katharinenpalasts und ihrem Mann. Sie wurden von einem der Tischler verraten, der in ihre Wohnung im rechten Palastflügel einziehen wollte; später arbeitete dieser Mann als Spitzel für die SS. Obwohl die jüdische Bevölkerung im Leningrader Gebiet relativ klein war (es lag außerhalb des zaristischen Ansiedlungsrayons), ließen die deutschen Behörden dort rund 3600 jüdische Zivilisten – fast alle in den ersten Besatzungswochen – ermorden.
Zur selben Zeit, als die Rote Armee Puschkin und Pawlowsk verlor, wurde sie auch aus Alexandrowsk, einer kleinen Vorstadt am Ende der südwestlichen Eisenbahnlinie Leningrads, und aus Pulkowo vertrieben. Die 5. Gardedivision der opoltschenije kämpfte bis zum Letzten, und ihre Knochen liegen noch heute zwischen wuchernden Rosenstöcken und Philadelphus in einem vernachlässigten Massengrab neben dem wiederaufgebauten Observatorium. Am Meerbusen nahmen Reinhardts motorisierte Divisionen Strelna und Peterhof ein, was die Isolation der sowjetischen 8. Armee im Kessel von Oranienbaum unterstrich. Nachdem Schukows Versuch einer Gegenoffensive gescheitert war, ordnete er die Einrichtung einer neuen Verteidigungslinie an: von den äußeren südwestlichen Vororten Leningrads durch Pulkowo und dann zur Newa an der Stelle, wo der Fluss auf halber Strecke zwischen dem Ladogasee und dem Meerbusen nach Norden schwenkt. Diesmal würde es, wie er am 17. September in einem typisch brutalen Kampfbefehl erklärte, keinen Rückzug geben:
1. Angesichts der außerordentlichen Bedeutung [der Pulkowo-Kolpino-Linie] gibt der Militärrat der Leningrader Front allen Kommandeuren, politischen Kadern und Linienkadern, die den markierten Bereich verteidigen, bekannt, dass jeder Kommandeur, Politruk oder Soldat, der den angezeigten Bereich ohne schriftlichen Befehl der Armeegruppe oder des Armeemilitärrats verlässt, auf der Stelle erschossen wird.
2. Der Befehl an führende und politische Kader ist bei Empfang zu proklamieren und weithin unter den Mannschaftsdienstgraden zu verbreiten.
Drei Tage später fügte Stalin hinzu, dass die Soldaten um Leningrad unter Androhung der Todesstrafe nicht zögern dürften, auf russische Zivilisten, die sich ihnen von den deutschen Linien her näherten, zu feuern:
An Schukow, Schdanow, Kusnezow und Merkulow.
Es wird gemunkelt, dass die deutschen Schurken, die auf Leningrad vorrücken, Individuen – alte Männer und Frauen, Mütter und Kinder – aus den besetzten Regionen voranschicken, damit sie unsere bolschewistischen Streitkräfte auffordern, Leningrad zu übergeben und den Frieden wiederherzustellen.
Außerdem heißt es, dass unter den Bolschewiki von Leningrad Personen zu finden seien, die es nicht für möglich halten, Gewalt gegen solche Individuen anzuwenden …
Meine Antwort lautet: Keine Sentimentalität. Vielmehr müssen dem Feind und seinen Komplizen, krank oder gesund, die Zähne zerschmettert werden. Krieg ist unerbittlich, und wer Schwäche zeigt oder Zaudern zulässt, wird als Erster eine Niederlage erleiden. Wer immer in unseren Reihen Zaudern erlaubt, wird für den Fall Leningrads verantwortlich sein.
Schlagt die Deutschen und ihre Geschöpfe, wer immer sie sind … Es spielt keine Rolle, ob wir es mit willigen oder unwilligen Feinden zu tun haben. Keine Gnade für die deutschen Schurken und ihre Komplizen …
Bitte, Befehlshaber sowie Divisions- und Regimentskommissare zu informieren, ebenso den Militärrat der Baltikflotte und die Befehlshaber und Kommissare von Schiffen.
[gezeichnet] J. Stalin11
Endlich hielt die Linie stand. Am 24. September – als seine vorderen Einheiten nur fünfzehn Kilometer von der Eremitage entfernt waren – gab Leeb schließlich zu, dass seine erschöpften und überstrapazierten Heere nicht weitermarschieren konnten, und bat um Genehmigung, in die Defensive zu gehen. Die Kämpfe verebbten, als sich beide Seiten zurückzogen und ihre erschütternden Verluste zählten. Innerhalb der deutschen Heeresgruppe Nord waren seit dem Beginn der Invasion 190000 Mann getötet oder verwundet worden sowie 500 Geschütze und 700 Panzer verloren gegangen.12 Die sowjetischen Einbußen fielen noch gravierender aus. Im selben Zeitraum waren bei der Baltikflotte und an der Nordwestfront insgesamt 214078 Mann getötet worden, in Gefangenschaft geraten oder verschollen (Kriegsgefangene machten wahrscheinlich 70–80 Prozent der Gesamtzahl aus); hinzu kamen 130848 Verwundete. Damit waren zwei Drittel der ursprünglichen Streitkräfte außer Gefecht gesetzt. Zudem hatten sie 4000 Panzer, ungefähr 5200 Geschütze und 2700 Flugzeuge verloren.13
In traditionellen Belagerungsgeschichten werden diese Tage von Mitte bis Ende September mit ihren erschöpfenden Schlachten und unbarmherzigen Demonstrationen militärischen Willens als Wendepunkt dargestellt. In neueren Interpretationen legt man den Nachdruck jedoch weniger auf Schukows (weiterhin unbezweifelte) taktische Brillanz, als auf einen früheren Strategiewandel der deutschen Seite. Nach dieser Version war weniger die Gegenwehr der Roten Armee ausschlaggebend, sondern eher die Entscheidung der Deutschen, ihren Konzentrationspunkt zu verlagern.
Seit der Einleitung von Barbarossa schwelte zwischen Hitler und seinen Generalen Unstimmigkeit darüber, ob Moskau oder Leningrad das wichtigere strategische Ziel sei. Hitlers ursprüngliche Weisung vom Dezember 1940, in der Barbarossa grob umrissen wurde, war eindeutig: Erst wenn die baltischen Länder, Leningrad und Kronstadt eingenommen, die Baltische Rotbannerflotte ausgeschaltet und die Leningrader Rüstungsbetriebe in deutschen Besitz gebracht worden waren, sollte der Vormarsch auf Moskau beginnen. Die Befehlshaber der Wehrmacht, angeführt von Generalstabschef Franz Halder, waren dagegen anderer Meinung: Die Hauptstadt und größte Metropole Russlands müsse an erster und Leningrad an zweiter Stelle stehen.
Diese Unstimmigkeit, die durch den Beginn von Barbarossa zunächst verdrängt worden war, kam Mitte Juli wieder zum Vorschein, als Leeb mehr Soldaten und Gerät für seine Heeresgruppe Nord anforderte. Eine parallel verlaufende Auseinandersetzung darüber, ob man eingekreiste russische Orte während des Vormarschs zunächst umgehen oder gleich besetzen solle, wurde zugunsten der Generale entschieden, doch in puncto Leningrad blieb Hitler fest. Seine Mahnungen hinsichtlich der Bedeutung von Moskau, murrte Halder am 26. Juli in seinem Tagebuch, sei ohne gültige Gegenargumente missachtet worden. Zehn Tage später, als sich die Wehrmacht Nowgorod näherte, machte Halder über General Paulus einen weiteren Versuch, die strategische Wichtigkeit Moskaus hervorzuheben, doch der Führer sei »bei seiner Melodie« geblieben: »1. Leningrad, wozu Hoth [Kommandeur der Panzergruppe 3 der Heeresgruppe Mitte] eingesetzt werden soll. 2. Ostukraine … 3. Erst in letzter Linie Moskau.« Am folgenden Tag versuchte Halder, General Alfred Jodl für sich zu gewinnen: »Bezüglich der einzelnen Ziele führe ich aus, daß das Ziel Leningrad mit den dafür angesetzten Kräften erreichbar ist. Wir brauchen und dürfen für dieses Ziel nichts ausgeben, was wir für Moskau brauchen. Für die Flanke Leeb besteht keine Gefahr … [Fedor von] Bock alle Kräfte für Moskau (Frage an den Führer, ob er darauf verzichten kann, vor Herbst Moskau zu liquidieren).«14
Zunehmend verärgert über Leebs Bitten um mehr Ressourcen und über Hitlers versuchtes Mikromanagement von Militäroperationen, wurde Halder durch eine Führerweisung vom 21. August, die mit den Plänen des Oberkommandos des Heeres nicht in Einklang zu bringen war, zu Rücktrittsgedanken getrieben. »Der Vorschlag des Heeres für die Fortführung der Operationen im Osten stimmt mit meinen Absichten nicht überein«, erklärte Hitler. »Das wichtigste, noch vor Einbruch des Winters zu erreichende Ziel ist nicht die Einnahme von Moskau, sondern die Wegnahme der Krim, des Industrie- und Kohlengebietes am Donez und … im Norden die Abschließung Leningrads und die Vereinigung mit den Finnen.« Erst wenn diese Ziele realisiert seien, fuhr Hitler fort, würden Streitkräfte für den Vormarsch auf die Hauptstadt zur Verfügung stehen.
Halder war außer sich. Hitlers Einmischung sei unerträglich, und der Führer trage die alleinige Verantwortung für »den Zickzack in seinen Einzelanordnungen«. Das Oberkommando des Heeres (OKH), das nun seinen vierten siegreichen Feldzug bestreite, solle »seinen guten Namen« nicht durch Hitlers neueste Anordnungen »beflecken« lassen, und die Behandlung von Brauchitschs, des Oberbefehlshabers des Heeres, sei »unerhört«. Halder schlug Brauchitsch vor, mit ihm zusammen seinen Rücktritt einzureichen, doch dieser lehnte ab, »weil es praktisch doch nicht zur Niederlegung des Amtes käme, also nicht geändert würde«.15 Der Streit wurde abgeschwächt, da Hitler erklärte, »es nicht so gemeint zu haben«. (»Jedenfalls ist das Ergebnis eitel Liebe und Freude«, notierte Halder am 30. August sarkastisch. »Alles ist wieder gut.«) Erst am 5. September waren die Differenzen überwunden, als Hitler endlich damit einverstanden war, dass Hoepners Panzergruppe 4, wenn Leeb Leningrad nicht innerhalb von zehn Tagen eingenommen habe, nach Süden zu versetzen sei und sich von Bocks Sturm auf Moskau anschließen solle.16 Nach Lage der Dinge hatten Leebs Proteste und seine Versprechen des bevorstehenden Sieges zur Folge, dass die Verlegung sich um drei Tage verzögerte, doch Halder hatte mit seiner Argumentation recht behalten. »Der Ring um Leningrad ist noch nicht so eng geschlossen, wie es wünschenswert wäre«, schrieb er, als die Panzer nach Süden schwenkten. »Ob man nach Herausnehmen der Pz.Div. 1 und der 36. mot. Div. noch weitere Fortschritte wird erwarten dürfen, ist fraglich. In Anbetracht des Kräfteverbrauchs von Leningrad … wird die Lage bis auf weiteres gespannt bleiben, bis der Hunger als Bundesgenosse wirksam wird.«17
Diese Umgruppierung schien damals keine überwältigende Rolle zu spielen. Auf deutscher Seite wurde sie als zeitweiliger Kompromiss betrachtet, auf russischer verstärkte sich das Gefühl einer sich abzeichnenden Katastrophe. Doch im Rückblick war es der Moment, in dem Deutschland seine beste Chance zur Eroberung Leningrads verpasste. Nie wieder, trotz über zweijähriger, fast unablässiger Kämpfe, sollte die Heeresgruppe Nord die Mobilität und Feuerkraft für einen umfassenden Frontalangriff auf die Stadt besitzen. Stattdessen wurde die Heeresgruppe Nord zum permanenten Stiefkind der Ostfront, das keine Verstärkungen mehr erhielt und sich nicht in der Lage sah, Soldaten in die Reserve zu verlegen, weil man befürchten musste, dass diese sofort anderswohin geschickt werden würden. Während Heere im Süden und in der Mitte Russlands hin und her marschierten, erstarrte die Front um Leningrad – ganz im Gegensatz zu Hitlers Planung für Barbarossa – im Schlamm und Blut eines Stellungs- und Grabenkrieges, in dem keine Seite trotz wiederholter Offensiven je die Kraft aufbrachte, die andere entscheidend zu schwächen.
Die Strategie der Wehrmacht – von Bodenangriffen über Aushungerung bis hin zu Luftangriffen – wurde offiziell in einer Kommandosache bestätigt, die am 28. September in Halders Namen in der Heeresgruppe Nord zirkulierte:
Auf Grund dieser Weisung der Obersten Führung wird befohlen:
1. Die Stadt Leningrad ist durch einen möglichst nahe an die Stadt heranzuschiebenden und dadurch Kräfte sparenden Ring einzuschließen. Eine Kapitulation ist nicht zu fordern.
2. Um zu erreichen, dass die Stadt als Zentrum des letzten roten Widerstandes an der Ostsee möglichst bald ausgeschaltet wird, ohne dass grössere eigene Blutopfer gebracht werden, ist die Stadt infanteristisch nicht anzugreifen. Sie ist vielmehr nach Niederkämpfen der Luftabwehr und der feindlichen Jäger durch Zerstörung der Wasserwerke, Lagerhäuser, Licht- und Kraftquellen ihrer Lebens- und Verteidigungsfähigkeit zu berauben. Die militärischen Anlagen und Verteidigungskräfte des Gegners sind durch Feuer und Beschuss niederzukämpfen. Jedes Ausweichen der Zivilbevölkerung gegen die Einschliessungstruppen ist – wenn notwendig unter Waffeneinsatz – zu verhindern.«18
Die Sorge, die deutsche Infanterie schonen zu müssen, erschien real. Straßenkämpfe in Smolensk waren die Heeresgruppe Mitte teuer zu stehen gekommen, und das gerade besetzte Kiew war im Chaos versunken, als das NKWD Dutzende von Bomben durch Fernbedienung detonieren ließ (in Hotels und wichtigen Gebäuden versteckt, töteten sie mehrere hohe deutsche Offiziere). Auch in Hitlers Tischgespräche schlich sich allmählich Frustration ein. Seine üblichen Fantastereien, seine Mann-von-Welt-Reiseberichte und seine durcheinandergewürfelten Ansichten waren nun mit Klagen über die Hartnäckigkeit der sowjetischen Verteidigung durchsetzt. Zum Beispiel grollte er am 25. September beim Mittagessen, dass jeder sowjetische Kommandeur, der die Befehle nicht erfülle, das Risiko auf sich nehme, seinen Kopf abhacken zu lassen. Deshalb zögen sie es vor, von den Deutschen ausgelöscht zu werden. Diese hätten die erbitterte Zähigkeit vergessen, mit der die Russen im Ersten Weltkrieg gekämpft hätten.19
In der Entscheidung, Leningrad nicht zu stürmen, spiegelte sich auch die größere Unschlüssigkeit der nationalsozialistischen Führung darüber wider, was mit den beiden russischen Hauptstädten zu tun sei, wenn sie in deutsche Hände fielen – eine Unschlüssigkeit, die vielleicht unterbewusst durch die Erinnerung an Napoleons Debakel vor Moskau gespeist wurde.1
Der ursprüngliche Plan hatte darin bestanden, einfach beide Städte – im Einklang mit Hitlers Jahrtausendvision von einem glänzenden, neu erbauten Ostreich – einzunehmen. »Feststehender Beschluß des Führers ist es, Moskau und Leningrad dem Erdboden gleich zu machen«, hatte Halder nach einem Treffen Anfang Juli notiert, »um zu verhindern, daß Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müßten.« Dies werde den Russen zudem einen vernichtenden psychologischen Schlag versetzen und »nicht nur den Bolschewismus, sondern auch das Moskowitertum der Zentren berauben«.20 Nun, während die Heeresgruppe Nord den Ring um Leningrad schloss, begannen Stabsoffiziere im Oberkommando – mit außerordentlicher Oberflächlichkeit und Unmenschlichkeit – zu erwägen, was in der Praxis mit der Zivilbevölkerung geschehen solle. In einer Planungssitzung vom 21. September wurden die Möglichkeiten erörtert:
1. Stadt besetzen, also so verfahren, wie wir es mit anderen russischen Großstädten gemacht haben:
Abzulehnen, weil uns dann die Verantwortung für die Ernährung zufiele.
2. Stadt eng abschliessen, möglichst mit einem elektrisch geladenen Zaun umgeben, der mit M.G.s bewacht wird:
Nachteile: Von etwa 2 Millionen Menschen werden die Schwachen in absehbarer Zeit verhungern, die Starken sich dagegen alle Lebensmittel sichern und leben bleiben. Gefahr von Epidemien, die auf unsere Front übergreifen. Ausserdem fraglich, ob man unseren Soldaten zumuten kann, auf ausbrechende Frauen und Kinder zu schießen.
3. Frauen und Kinder, alte Leute durch Pforten des Einschliessungsringes abziehen, Rest verhungern lassen:
a) Abschieben über den Wolchow hinter die feindliche Front theoretisch gute Lösung, praktisch aber kaum durchführbar. Wer soll Hunderttausende zusammenhalten und vorwärts treiben? Wo ist dann die russische Front?
b) Verzichtet man auf den Abmarsch hinter die russische Front, verteilen sich die Herausgelassenen über das Land [d.h. über das von deutschen Soldaten besetzte Territorium].
Auf alle Fälle bleibt Nachteil bestehen, dass die verhungernde Hauptbevölkerung Leningrads einen Herd für Epidemien bildet und dass die Stärksten noch lange in der Stadt weiterleben.
4. Nach Vorrücken der Finnen und vollzogener Abschliessung der Stadt wieder hinter die Newa zurückgehen und das Gebiet nördlich dieses Abschnitts den Finnen überlassen.
Finnen haben inoffiziell erklärt, sie würden Newa gern als Landesgrenze haben, Leningrad müsse aber weg. Als politische Lösung gut. Frage der Bevölkerung Leningrads aber nicht durch Finnen zu lösen. Das müssen wir tun.
Zum Abschluss wurde eine wenig plausible, dreistufige Lösung vorgeschlagen. Erstens würde die deutsche Regierung »vor der Welt feststellen«, dass Stalin Leningrad als militärisches Objekt behandele und Deutschland deshalb gezwungen sei, das Gleiche zu tun. Außerdem werde man erklären: »Wir gestatten dem Menschenfreund Roosevelt, nach einer Kapitulation Leningrads die nicht in Kriegsgefangenschaft gehenden Bewohner unter Aufsicht des Roten Kreuzes auf neutralen Schiffen mit Lebensmitteln zu versorgen oder in seinen Erdteil abzubefördern, und sagen für diese Schiffsbewegung freies Geleit zu (Angebot kann selbstverständlich nicht angenommen werden, nur propagandistisch zu werten).« Zunächst werde man die Stadt durch Bombardements schwächen und dann einzelne Pforten öffnen, um Wehrlose hinauszulassen: Der »Rest der ›Festungsbesatzung‹ wird den Winter über sich selbst überlassen. Im Frühjahr dringen wir dann in die Stadt ein (wenn die Finnen es vorher tun, ist nichts einzuwenden), führen das, was noch lebt, nach Innerrußland bzw. in die Gefangenschaft, machen Leningrad durch Sprengungen dem Erdboden gleich und übergeben den Raum nördlich von Newa den Finnen.« Die Planer räumten ein, dass diese Vorschläge nicht sehr befriedigend seien, und die Heeresgruppe Nord müsse, wenn es so weit sei, »einen Befehl bekommen, der wirklich durchführbar ist«.21
Die deutschen Marinechefs hatten ähnliche Vorbehalte – wiederum aus praktischen und propagandistischen, nicht aus humanitären Beweggründen. Ein der Heeresgruppe Nord zugeordneter Verbindungsoffizier schrieb am 22. September, dem Tag nach der holzschnittartigen Planungssitzung des Oberkommandos, an seinen Admiral und gab seinem persönlichen Zweifel Ausdruck, dass Leningrad vernichtet werden könne, »ohne dass ein deutscher Soldat seinen Boden betritt«:
M.E. lassen sich nicht 4–5 Millionen Menschen [sic!] so einfach umbringen. Ich habe das aus eigner Anschauung in Kowno gesehen, wo die Letten 6000 Juden erschossen haben, darunter Frauen und Kinder. Selbst ein so rohes Volk wie die Letten konnte dieses Morden schließlich nicht mehr ansehen. Die ganze Aktion verlief dann im Sande. Wieviel schwieriger wird das mit einer Millionenstadt sein.
Zudem würde das m.E. einen Entrüstungssturm in der ganzen Welt auslösen, den wir uns politisch nicht leisten können.
Die Zerstörung Leningrads bedeute auch, dass die Kriegsmarine die städtischen Werften nicht nutzen könne, die bei dem noch bevorstehenden Endkampf gegen Großbritannien und Amerika vielleicht hilfreich sein würden. »Schliesslich kann Leningrad auch später verschwinden, wenn wir den Seekrieg gewonnen haben.« Wie die Armeeplaner kam er auf den surrealen Einfall, man solle den Alliierten vorschlagen, Zivilisten – mit Ausnahme von wehr- und arbeitsfähigen Männern – mit Schiffen abzuholen. »Lehnt England/U.S.A. das Angebot ab, so tragen sie vor der Weltöffentlichkeit die Schuld am Untergang dieser Menschen. Nehmen sie es an, so sind wir die Sorge los und ihnen kostet es erheblichen Frachtraum.«22
Hitler, der »härteste Mann Europas«, wie er sich gern nannte, war verärgert über diese »Gefühlsduselei«. Am 25. September sagte er beim Abendessen, manch einer frage sich, wie der Führer eine Stadt wie St. Petersburg zerstören könne, doch offensichtlich gehöre er einer ganz anderen Art an.23 Vier Tage später bekräftigte er seine Entschlossenheit in einer Weisung an die Heeresgruppe Nord: Nach der Niederlage der Sowjetunion könne kein Interesse an der weiteren Existenz dieser Großstadt bestehen. Etwaige Übergabeangebote nach der Einkreisung der Stadt seien abzulehnen, da Deutschland nicht die Verantwortung für die Ernährung und das Überleben auch nur eines Teils der Bevölkerung übernehmen könne.24
Die formellen Befehle – Abweisung jeglicher Kapitulation, Zermürbung der Stadt durch Bombardements und Artilleriefeuer, Beschießung von Zivilisten, wenn sie sich den deutschen Linien näherten – wurden am 7. Oktober von Jodl erteilt. Damit endete die Diskussion allerdings noch nicht ganz. Generalfeldmarschall von Leeb, Befehlshaber der Heeresgruppe Nord, vertraute seinem Tagebuch an: »Es ist heute die Entscheidung des OKW [Oberkommando der Wehrmacht] bezüglich der Stadt Leningrad gekommen; danach darf eine Kapitulation nicht angenommen werden. In einem Schreiben der H. Gr. an das OKH wurde daraufhin angefragt, ob nicht in diesem Falle die russischen Truppen in die Kriegsgefangenschaft abgeführt werden können. Soll das nicht geschehen, so führt der Russe einen Verzweiflungskampf weiter, der unsererseits Opfer und wahrscheinlich schwere fordern wird.«25
Manche Offiziere sorgten sich auch weiterhin, ob es praktikabel sei, ihre Männer auf fliehende Zivilisten feuern zu lassen. Leebs Generalstabschef, der am 24. Oktober von einer Frontreise zurückkehrte, gab die Meinung eines Divisionskommandeurs weiter, dass seine Truppe einen solchen Befehl einmal ausführen werde, »ob sie aber die Nerven behält, bei wiederholten Ausbrüchen immer wieder auf Frauen und Kinder und wehrlose alte Männer zu schießen, bezweifelte er«. Zwar »bestehe volles Verständnis dafür, daß die Millionen Menschen, die in Leningrad eingeschlossen seien, von uns nicht ernährt werden können, ohne daß sich dies auf die Ernährung im eigenen Land nachteilig auswirkt«, doch die Befehle könnten »dazu führen, daß der deutsche Soldat dadurch seine innere Haltung verliert, d.h. daß er nach dem Kriege vor derartigen Gewalttätigkeiten nicht mehr zurückschrecke«. Der Anblick Tausender von Flüchtlingen, die durch Gattschina und Pleskau nach Süden strömten, habe bereits deutsche Soldaten demoralisiert, die in der Gegend Straßen repariert hätten, denn »wo diese hinziehen, wie sie sich ernähren, ist nicht festzustellen. Es besteht der Eindruck, daß diese Menschen über kurz oder lang dem Hungertode verfallen müssen.« Oberbefehlshaber von Brauchitsch schlug daraufhin vor, vor den eigenen Linien Minenfelder auszulegen, um der Truppe den unmittelbaren Kampf gegen die Zivilbevölkerung zu ersparen. Sobald die Einheiten der Roten Armee um Leningrad kapituliert hätten, könnten die deutschen Soldaten sogar zeitweilig in die Unterkunftsräume verlegt werden. »Auch dann wird ein großer Teil der Bevölkerung zu Grunde gehen, aber doch wenigstens nicht unmittelbar vor unseren Augen.«26
Letztlich blieb das Problem hypothetisch. Die Leningrader Führung versuchte nie, über eine Kapitulation zu verhandeln, und die gewöhnliche Leningrader Bevölkerung riskierte keinen Massenausbruch. Auch Deutschland hielt sich nicht an seine eigene verworrene Planung. Man ließ nie Lücken in den eigenen Linien, damit krankheitsverseuchte Überlebende der Hungersnot ins unbesetzte Russland fliehen konnten, im Gegenteil, Kähne und Lastwagen, die Flüchtlinge über den Ladogasee brachten, wurden wiederholt angegriffen. In den folgenden drei Wintern verfolgte die Wehrmacht eine klassische Belagerungsstrategie, indem sie Bewegungen von Menschen und Gütern in die Stadt und aus ihr heraus so gut wie möglich verhinderte und Luft- und Bodenbombardements einsetzte, um Lebensmittelvorräte, Versorgungsunternehmen, Fabriken, Krankenhäuser, Schulen und Wohnhäuser zu demolieren. (»Besonders kommt es darauf an«, hieß es in einer Führerweisung kurz vor den ersten Luftangriffen, »die Wasserwerke zu zerstören.«27) Die Hungersnot war keinesfalls ein unerwartetes und bedauerliches, wenngleich notwendiges Nebenprodukt dieser Strategie, sondern ihr Hauptbestandteil, der in Planungsdokumenten immer wieder gebilligt und von der Militäraufklärung mit großem Interesse verfolgt wurde.
Dies war ein Verbrechen nicht der Nationalsozialisten, sondern der Wehrmacht, wie die Deutschen erst in jüngerer Vergangenheit widerwillig einräumen. Goebbels und Himmler befürworteten die Ausrottung der Slawen enthusiastisch, hatten jedoch keinen wesentlichen Einfluss auf die Entscheidungen in Bezug auf Leningrad, die von Hitler, Halder, Brauchitsch, Jodl und Leeb gefällt wurden. Obwohl Angehörige des OKH in den Wochen nach dem Einmarsch in die Sowjetunion heftige Meinungsverschiedenheiten mit Hitler hatten, stützten sie sich dabei allein auf die militärische Zweckmäßigkeit. Ethische Überlegungen scheinen keinen einzigen hohen Offizier veranlasst zu haben, seine Haltung in Frage zu stellen, die vorhersehbar und vorsätzlich zum langsamen und qualvollen Hungertod von ungefähr einer Dreiviertelmillion nicht am Kampf Beteiligter, unter ihnen ein hoher Prozentsatz von Frauen und Kindern, führte.
Auch brauchte die Wehrmacht nach dem Krieg nicht vollauf Buße zu leisten. Jodl, Unterzeichner des amtlichen Befehls zur Belagerung von Leningrad, wurde vom Internationalen Gerichtshof in Nürnberg wegen Kriegsverbrechen verurteilt und gehängt. Leeb dagegen kam äußerst glimpflich davon. Er war im Dezember 1941 aus Krankheitsgründen in den Ruhestand getreten und wurde in Nürnberg zu lediglich drei Jahren Haft verurteilt. Sein Nachfolger als Chef der Heeresgruppe Nord, Georg von Küchler, obwohl zu zwanzig Jahren verurteilt, wurde bereits acht Jahre nach dem Krieg aus persönlichen Gründen entlassen. Von schmerzlicher Ironie war das Schicksal Franz Halders und Erich Hoepners, der die Panzergruppe 4 der Heeresgruppe Nord befehligte. Hoepner, obwohl ein fanatischer Rassist – die SS lobte ihn wegen seiner »besonders engen und herzlichen« Kooperation bei der Ermordung Zehntausender baltischer Juden28 –, schloss sich angesichts der drohenden Niederlage der Verschwörung vom 20. Juli 1944 gegen Hitler an. Nach dem Scheitern des Attentats wurde er verhaftet und neben den mutigen und ehrenhaften von Stauffenberg und von Trott hingerichtet. Halder, obwohl nicht an der Verschwörung beteiligt, wurde danach von Hitler inhaftiert, von den Amerikanern befreit und in Nürnberg als Zeuge der Anklage von der Strafverfolgung ausgenommen. Danach verbrachte er vierzehn bequeme Jahre als angesehener Leiter der deutschen Abteilung der kriegsgeschichtlichen Forschungsgruppe der U.S. Army. In dieser Rolle trug er dazu bei, den Kalten-Kriegs-Mythos von der »sauberen Wehrmacht« zu begründen, die nichts vom Holocaust gewusst habe und von einem wahnsinnigen Diktator in den Krieg getrieben worden sei. 1961, als die Abteilung aufgelöst wurde, verlieh ihm Präsident Kennedy die »Meritorious Civilian Service Medal«, die höchste Ehre, die ein Nichtamerikaner im dortigen Regierungsdienst erringen kann. Das Vorwort des Herausgebers zur amerikanischen Standardübersetzung von Halders Tagebuch, das in den späten achtziger Jahren veröffentlicht wurde, endet mit den Worten: »Er war ein hervorragender Soldat.«29