12

»Wir waren wie Steine«

Maria Maschkowa, Akquisitionschefin in der Öffentlichen Bibliothek, einem stattlichen graublauen, im frühen neunzehnten Jahrhundert entstandenen Gebäude an der Ecke Alexanderplatz, Newski-Prospekt, schrieb am 17. Februar 1942:

Tag um Tag vergeht, und mir kommt es bereits zu spät vor, ein Tagebuch zu beginnen. Nicht wiederholbare, erschreckende Dinge geschehen und werden vergessen. Die übrigen, die Belanglosigkeiten, bleiben uns im Gedächtnis. Heute traf ein Stapel Briefe ein, und ich wurde daran erinnert, dass sich außerhalb Leningrads ein ganz anderes Leben abspielt. Dort können die Menschen sich kein Hundertstel von dem vorstellen, was wir durchmachen.

Durch das Fenster höre ich Artilleriebeschuss. Früher störte er mich nicht, doch nun denke ich beklommen: »Irgendwo bricht ein Gebäude zusammen, und Menschen werden zerquetscht.« Aber was ist das schon, verglichen mit allem, was bereits geschehen ist? Wir alle sind krank. Olga Fjorodrowna [Maschkowas Schwiegermutter] geht es sehr schlecht – was normal ist, denn in einem Raum nach dem anderen liegen Tote, eine Leiche für jede Familie. Es ist fast einen Monat her, seit Anna Jakowlewna Sweinek verhungerte. Sie liegt immer noch in ihrem eiskalten, schmutzigen Zimmer – schwarz, vertrocknet, mit gebleckten Zähnen. Niemand hat es eilig, sie zu säubern und zu beerdigen; alle sind zu schwach, um sie zu beachten. Zwei Zimmer weiter liegt noch eine Leiche: ihre Tochter Asja Sweinek, die ihre Mutter um zwölf Tage überlebte, bevor sie ebenfalls dem Hunger zum Opfer fiel. Asja starb zwei Schritte von meinem Bett entfernt. Wsewolod [Maschkowas Mann] und ich schleiften sie hinaus, da es in unserem Zimmer zu warm für eine Leiche war.

Fast vor meinen Augen starb N.P. Nikolski, ein Freund von Wsewolod und [früherer] Abgeordneter des Obersten Sowjets. Man brachte ihn auf einem Schlitten herbei, damit er in einem Sanatorium wieder auf die Beine kommen konnte … In Wsewolods Büro fiel er ins Koma und starb rasch. Dort, auf dem Sofa, blieb er zwölf Tage lang, da niemand sich in der Lage fühlte, ihn zu beerdigen. Insgesamt hat die Bibliothek mindestens hundert Menschen verloren …

Die Einstellung der Bürger zum Tod, der Tod selbst und die Bestattung haben sich stark vereinfacht. Zuerst war es sehr schwierig. Fertige einen Sarg an – es ist schwer, einen zu besorgen, denn sie kosten 500–700 Rubel –, lass ein Grab schaufeln, was mit Brot bezahlt werden muss … Dann erschienen Mietsärge, und danach wurden die Toten nur in Laken und Decken gehüllt und auf Schlitten zu den Leichenhallen gebracht. So beerdigte ich W.F. Karjakin, Sinaida Jepifanowas Mann … und nicht einmal meine abgestumpften Nerven waren allem gewachsen, was ich sah …

Asja zog nach dem Tod ihrer Mutter bei uns ein … Als sie dann auch starb, konnte ich ihre Lebensmittelkarten zu meinem Kummer nicht benutzen, denn eine Freundin von ihr war zwei Tage zuvor mit ihnen verschwunden. Kartendiebstahl ist beängstigend und verbreitet … In Läden und auf den Straßen hört man häufig einen schrillen, aufwühlenden Schrei – und man weiß, dass jemandem die Karte gestohlen oder ein Stück Brot aus den Händen gerissen worden ist. So etwas wirkt unerträglich deprimierend, und das Einzige, was uns rettet, ist Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid.1

Wie war es, all das zu durchleben? Viele Tagebucheinträge versiegen im Januar oder Februar, weil die Verfasser zu erschöpft waren, um zu schreiben, oder weil ihnen die Worte fehlten. Andere verdichten sich zu knappen Aufzeichnungen über den Tod von Verwandten und über Lebensmittel, die man erlangt und verzehrt hat. Dagegen werden andere Tagebücher, wie das der Dichterin Olga Berggolz, weitschweifiger: Sie entwickeln sich zu langen, sich wiederholenden Ergüssen der Verzweiflung, des Unglaubens, der Schuld, des Zorns und der Furcht. Fragt man einen aus der schwindenden Zahl von Überlebenden, wie er jene Belagerungsmonate im Gedächtnis hat, so enthält seine Antwort wahrscheinlich die Worte cholod, golod, snarjady, poschary (Kälte, Hunger, Granaten, Brände). Es ist eine feste Formel, ein Stenogramm, das mit den sich reimenden Endsilben auch als Litanei dienen könnte.

In erster Linie führte der Belagerungswinter zu einer Verengung der Existenz: auf das eiserne Dreieck Wohnung, Brotschlange und Wasserquelle sowie auf unmittelbare Angehörige und Nachbarn. Abgeschieden in ihren dunklen, kalten Wohnungen, abhängig von Schlitten, hausgemachten Lampen und geborgenem Brennstoff, verglichen die Leningrader sich mit Höhlenmenschen, mit Robinson Crusoe und den Polarforschern. Das Vorkriegsleben, das damals so schlecht organisiert zu sein schien, erschien Lidia Ginsburgs »Blockademann« nun wie »ein Märchen«:

Wasser, das aus der Leitung kam; Licht, das anging, wenn man auf einen Knopf drückte; Essen, das man sich einfach kaufen konnte …

Aus jenem anderen Leben stammen die Radierung über dem Bücherregal und auf ihm der Tonkrug von der Krim – ein Geschenk. Die Frau, die ihm diesen Krug geschenkt hatte, war nun auf dem »Festland«, wie man hier den von den Deutschen nicht besetzten Teil der Sowjetunion nannte, und die Erinnerung an sie wurde für N. unverbindlich und vage. Im Winter, als das Chaos völlig die Oberhand gewann, schienen die Vase und sogar die Bücherregale zur selben Kategorie zu gehören wie die Prachtbauten der reichen Kaufmannsfamilie Pogankin in Pskow oder die Ruinen des Kolosseums; es schien, als würden sie nie mehr eine praktische Bedeutung erhalten …2

Mit der Verengung der physischen Welt ging eine Verengung der Gefühlswelt einher. Überlebende erzählen, sie seien »wie Wölfe« oder, häufiger noch, »wie Steine« gewesen – Roboter ohne Gefühle oder Interessen außer dem, ihr eigenes Leben zu verlängern. Der Anblick eines Fremden, der auf der Straße zusammenbrach – was im November und Dezember noch ein moralisches Dilemma ausgelöst hatte: sollte man stehen bleiben, helfen und damit riskieren, keine Lebensmittel für die eigene Familie heimzubringen, oder sollte man vorbeigehen? –, war im Januar und Februar kaum noch der Aufmerksamkeit wert. Am 13. Januar machte sich Alexander Boldyrew zum Wissenschaftlergebäude auf, um sich dort »Sojasuppe« ausschenken zu lassen. Dabei erfuhr er, dass ein Nachbar, »der in den beiden letzten Monaten ganz alt und wackelig geworden war«, auf der Straße kollabiert sei, wonach vorbeikommende Soldaten ihn ins Haus geschleppt hätten. »Er ist immer noch da, auf der Treppe, und scheint zu sterben. Aber ich ging nicht hinein, sondern begab mich zum Mittagessen. Der Hin- und Rückweg nimmt all meine Kraft, meine tägliche kleine Reserve, in Anspruch. Golowan war ebenfalls unterwegs zum Essen, aber seine Reserve reichte nicht aus.«3 Die Pförtner, bemerkte ein anderer Tagebuchschreiber, forderten Personen, die sich auf den Stufen ihres Gebäudes ausruhten, zum Weitergehen auf, denn wenn ein Passant starb, war es die Pflicht des Türstehers, ihn zur Leichenhalle zu befördern. »War die Person jedoch gut gekleidet, zeigte der Pförtner sich höflicher und bot sogar einen Stuhl an, denn er wusste, dass er später die Kleidung an sich nehmen konnte.«4 Genauso verkümmerten die Emotionen innerhalb von Familien. Der Tod geliebter Ehemänner oder Eltern weckte bloß noch die Erleichterung über eine zusätzliche Lebensmittelkarte und dazu die Sorge, wie man sich der Leiche entledigen sollte.

Für fast jeden war es unmöglich, an etwas anderes als an Nahrung zu denken. Sie zu beschaffen, zuzubereiten, aufzubewahren, zu berechnen, wie lange sie ausreichen würde – all diese Dinge wurden zuallgemeinen Obsessionen, genau wie die Erinnerungen an vergangene Mahlzeiten. »Wenn er eine Straße entlang ging«, schrieb Ginsburg über ihren »Blockademenschen«,

rief er sich dabei der Reihe nach alles ins Gedächtnis, was er am Morgen oder am Vortag gegessen hatte, er überlegte, was er heute noch alles essen könne, oder verlor sich in Berechnungen, die sich stets um Zuteilungen und Lebensmittelmarken drehten. Und er grübelte so vertieft und angestrengt, wie er es früher nur getan hatte, wenn er beim Schreiben über etwas äußerst Wichtiges nachdachte …

Hatte es denn im früheren Leben nicht schon einmal etwas Ähnliches gegeben? Ach ja, natürlich – es ist genau wie bei einer mißglückten Liebesbeziehung …5

Andere wurden von »Brotmanie« ergriffen: Sie stellten sich vor, eine Scheibe Schwarzbrot nach der anderen in Sonnenblumenöl zu tunken oder einen endlosen Vorrat von Weißbrötchen zu vertilgen. (Der Schriftsteller Warlam Schalamow, der zur selben Zeit in den Goldminen von Kolyma hungerte, schrieb: »Wir alle hatten den gleichen Traum über Roggenbrote, die wie Meteore oder Engel vorbeiflogen.«) Neue Verhaltensregeln entstanden im Zusammenhang mit dem Essen. Manche Familien verzehrten alles, was sie für den Tag erhalten hatten, in einem Zug, während andere es auf drei »Mahlzeiten« verteilten. Speisen konnten zusammengelegt und für alle zu gleichen Teilen oder nach den jeweiligen Bedürfnissen aufgetischt werden, oder jedes Familienmitglied durfte das essen, »was ihm laut seiner Ration zustand«. Die Zubereitung wurde zu komplizierten Ritualen ausgedehnt. Die Schilinskis mischten Teeblätter, die sie mehrere Male benutzt hatten, mit Salz und aßen sie mit einem Teelöffel. Boldyrews vierjährige Tochter bekam Wutanfälle, wenn der Tisch nicht ordnungsgemäß gedeckt war und wenn »Mahlzeiten« nicht mit einer festgelegten Formel eingeleitet wurden: »Der Tee ist so kalt, dass Fliegen und Mücken darauf Schlittschuh laufen und Schlitten fahren, und man darf ihn ohne Tasse und ohne Löffel trinken, direkt aus der Untertasse.« (»Dies«, schrieb ihr Vater, »wird bei jeder Tasse ungefähr fünfmal rezitiert wie ein seltsamer, fast widerwärtiger Zungenbrecher … eine kindliche Reaktion auf das Chaos der Umgebung.«6) Die Traditionen der Gastfreundschaft lösten sich unweigerlich auf. »Ich weiß, dass sie Hunger hat«, notierte Klara Rachman über die gerade verwitwete, verlauste Mutter einer Schulfreundin, die um duranda bettelte. »Aber sie sollte begreifen, dass es in solchen Zeiten peinlich ist, um etwas zu bitten.« (Rachmans eigener Vater, ihr »geliebter Papotschka«, sollte im März sterben.)7

In jener Zeit griffen die Leningrader zu den abwegigsten Ersatzmitteln: Sie kratzten getrockneten Leim von der Rückseite der Tapeten und kochten Schuhe und Gürtel auf (allerdings entdeckten sie, dass sich die Gerbereiverfahren seit den Tagen Amundsens und Nansens geändert hatten, weshalb diese Produkte zäh und ungenießbar blieben). Auf den Straßenmärkten verkaufte man »Badajew-Erde«, die unter den verbrannten Überresten der Badajew-Lagerhäuser ausgegraben worden und angeblich mit verkohltem Zucker durchsetzt war. Igor Krugljakow und sein Schulfreund schlichen an Wächtern vorbei, um sich zu bedienen:

Ich fand etwas, das ein Stück Zucker zu sein schien, und steckte es mir in den Mund. Ich lutschte es auf dem gesamten Heimweg. Es löste sich nicht auf, aber es schmeckte süß. Zu Hause spuckte ich es in meine Hand, und es war nur ein gewöhnlicher Stein … Mama schimpfte uns natürlich aus, aber da sie mich nicht kränken wollte, tat sie so, als hätte ich ein wenig Zucker mitgebracht. Sie verrührte ihn mit Wasser, und es war, als tränken wir süßen Tee.8

Sich selbst Lebensmittel zu versagen, um sie anderen geben zu können – was Hunderttausenden von Leningradern gelang –, wurde zu einem Akt der Nächstenliebe und der höchsten Selbstbeherrschung.

Im Januar waren Jelena Kotschina und ihr Mann zu Freunden gezogen. Als sie am 1. Februar in ihre eigene Wohnung zurückkehrte, fand sie die Tür geöffnet und die Möbel zerstückelt vor. »›Warum zerhackst du unsere Möbel?‹, fragte ich die Nachbarin. ›Wir frieren‹, lautete die lakonische Antwort. Was konnte ich darauf sagen? Sie hat zwei Kinder, und die frieren wirklich.« Vier Tage später lag eine Leiche in ihrem Bett, »so flach, dass die Decke dort, wo Kopf und Füße sein sollten, nur leicht erhöht war. Nachdem ich ein Stuhlbein abgehackt hatte, verließ ich meine Wohnung, ohne mich zu erkundigen, wer der Tote war.« Zwei Tage später waren noch zwei Leichen hinzugekommen. »Anscheinend haben die Nachbarn in meinem Zimmer eine Leichenhalle eingerichtet. Nur zu – Tote stören mich nicht.«9

Am häufigsten wurden sich die Leningrader des Ausmaßes der Tragödie bewusst, wenn sie ihre »Höhlen« verließen, um die Beerdigung eines Verwandten zu arrangieren. Als Dmitri Lichatschows mürrischer Vater, der so talentiert Holz gehackt hatte, im März starb, wusch er ihn mit Toilettenwasser, bedeckte seine Augen mit Rubelmünzen aus dem achtzehnten Jahrhundert, nähte ihn in ein Laken ein und band ihn an einen breiten Doppelschlitten, den er aus zwei kleineren, verbunden durch ein Sperrholz, hergestellt hatte. Als Erstes schleppten seine Frau und er die Leiche zur Wladimir-Kathedrale, wo ein Priester den Bestattungsgottesdienst verrichtete und den Toten mit Erde besprenkelte (eine zweite Handvoll fügte er im Namen einer Frau hinzu, deren Sohn an der Front verschollen war). Dann brachten sie seinen Vater zu einer neu eröffneten »Leichenhalle« auf dem Gelände eines Konzertsaals, wo Tausende von Verstorbenen im Freien aufgestapelt waren. Lichatschow wollte einen Lastwagenfahrer überreden, seinen Vater mit der ersten Ladung zur Beerdigung mitzunehmen. Sonst, fürchtete er, werde man das Leichentuch aufreißen und dem Toten die Goldzähne ziehen. Doch der Fahrer weigerte sich.10

Olga Gretschinas Mutter starb am 24. Januar zu Hause. Entschlossen, ihr das bestmögliche Begräbnis zuteil werden zu lassen, kauften Olga und ihr jüngerer Bruder Wowka für Brot und zweihundert Rubel einen Sarg vom Pförtner. Obwohl der Sarg wegen des Holzmangels ein wenig zu kurz war, machten sie ihn im Rahmen des Möglichen präsentabel, indem sie ihn mit einem Laken und einer Decke auskleideten und einen Spitzenbesatz aus einem Schal ihrer Mutter anfertigten. Erstaunlicherweise konnte Olga Frauenhaarfarn in einem fast leeren Blumenladen am Newski-Prospekt erstehen. »Der Sarg sah gut aus«, erinnerte sie sich:

Ich war mit meiner Arbeit zufrieden, ohne je daran zu denken, welchen Zweck sie hatte … Es kam mir einfach sehr merkwürdig vor, diese weiße Gestalt unter dem Laken anzusehen. Warum, wer ist das? Ich schaute sie an, und es war nicht Mama, sondern der Tod selbst – ein mit Haut überzogener Schädel, Hände, die wie Hühnerkrallen aussahen (diese Erinnerung verfolgte mich so sehr, dass ich fünfundzwanzig Jahre lang kein Huhn mehr ausnehmen konnte). Da sie es nicht ist, muss ich sie so schnell wie möglich loswerden, und dann wird alles in Ordnung sein. Mit einer Art fröhlicher Energie machte ich mich an die Organisation. Ich besorgte ein Grab und lud unsere Verwandten ein …

Die Zusammenkunft wurde durch ihren Onkel Serjoscha verdorben, der sonderbar gekleidet eintraf, wie ein Kind wimmerte und dauernd wiederholte, dass er Suppe haben wolle (er starb ein paar Wochen später). Unterstützt vom Sohn des Pförtners, zerrten sie den Sarg auf einem Schlitten von der Majakowski-Straße zum Suworow-Prospekt, vorbei am Smolny und über die Bolscheochtinski-Brücke zum Bolscheochtinskoje-Friedhof. Während sie sich den Friedhofstoren näherten, kamen sie immer häufiger an »Mumien« vorbei, die, in Bettlaken oder alte Vorhänge eingewickelt, am Straßenrand zurückgelassen worden waren. Ein Sarg war behelfsmäßig aus einem Sofa angefertigt und mit einem Kranz aus purpurn gefärbten Holzspänen geschmückt worden; ein Kind lag im Gehäuse einer altmodischen Uhr. Olgas Mutter dagegen erhielt ein »richtiges Grab, auf Bestellung ausgehoben, doch nicht sehr tief«, und ein Kreuz aus Brettern, auf dem ihr Name und ihre Lebensdaten mit unauslöschlicher Schrift eingetragen worden waren.11

Überlebende der Belagerung verspürten den unwiderstehlichen Drang, ein Muster hinter den Todesfällen zu finden – eine Begründung dafür, wer am Leben blieb und wer starb. Laut einer Version gingen die Besten – die »edlen, zurückhaltenden, gewissenhaften«, wahren Petersburger – als Erste dahin, weil sie in einem darwinistischen Ringen den Kürzeren zogen. Nach einer anderen (verbreiteteren) Ansicht waren Zurückhaltung und Gewissenhaftigkeit dagegen äußerst nützlich: Um zu überleben, habe man gewisse Maßstäbe wahren müssen. Das heißt, man wusch sich die Haare, rasierte sich, fegte das Zimmer, deckte den Tisch für die »Mahlzeiten«, putzte sich die Zähne mit Holzkohle, aß die Katze nicht auf, leckte seinen Teller nicht ab, ließ den Toiletteneimer nicht überfließen und warf keinen Kot aus dem Fenster. »Wenn jemand aufhörte, sich Hals und Ohren zu waschen«, berichtete ein Überlebender, »wenn er nicht mehr zur Arbeit ging, seine Brotration in einem Rutsch aß und sich dann hinlegte und zudeckte, dann weilte er nicht mehr lange auf dieser Welt.«12

Diese Regeln galten auch für Kinder. Jelena Kotschina und ihr Mann zogen Ende Januar bei der äußerst disziplinierten Familie eines Kollegen ein, weil sie sich ein wärmeres Zimmer erhofften (nur um sofort enttäuscht zu werden). Seine Kinder, »blass wie Kartoffelsprossen«, saßen tagsüber bewegungslos nebeneinander,

so mit Gehorsam gesättigt wie ein Schwamm mit Wasser. N.A.’s Frau Galja und ihr Kindermädchen arbeiten, als wären sie Aufziehuhren. N.A. setzt sie jeden Morgen in Betrieb und gibt ihnen ihre Aufträge für den Tag … Er sieht der Funktionsweise seines Haushaltsapparats aufmerksam zu, erhöht oder verringert die Belastung, verkleinert oder vergrößert die Ration genau im richtigen Moment. Er verwahrt das Brot in seinem Schreibtisch, wiegt es dreimal am Tag und händigt jedem die ihm zustehende Portion aus.13

Lichatschow und seine Frau ließen ihre vierjährigen Töchter Dichtung auswendig lernen, zum Beispiel Auszüge aus Eugen Onegin – die Ballszene und Tatjanas Traum – sowie ein Liebesgedicht von Anna Achmatowa. Die Mädchen benahmen sich laut Aussage seiner Frau »wie Heldinnen. Wir hielten die Vorschrift ein, nicht über Speisen zu sprechen, und sie gehorchten! Bei Tisch baten sie nie um Essen, waren nie ungezogen, sondern schrecklich erwachsen, langsam, ernst. [Den ganzen Tag] saßen sie dicht an der burschuika und wärmten sich die Hände.«14 Eine andere Haushaltsvorschrift besagte, dass man sich täglich wusch, zumindest Gesicht und Hände, und dass man sich, nachdem die Toilette eingefroren war, auf dem Boden erleichterte, zu dem die Familienmitglieder mühelos Zugang hatten, da sie in der fünften Etage wohnten. (»Zum Glück«, verzeichnet Lichatschow, »brauchten wir uns nur einmal pro Woche oder sogar nur einmal alle zehn Tage dorthin aufzumachen … Als es im Frühjahr wärmer wurde, erschienen oben im Flur braune Flecke. Wir hatten immer die gleichen Stellen aufgesucht.«)

Zusammengedrängt in einer Gemeinschaftswohnung an der Petrograder Seite, unterstützten die Mitglieder von Dmitri Lasarews erweiterter Familie einander genauso bereitwillig. Obwohl zwei Angehörige des Haushalts – ein Freund der Familie und sein Schwiegervater – im Winter starben, wurde die Wohnung (wie Marina Jeruchmanowas Zimmer im Jewropa) zu einer »Arche«. Lasarew und seine Frau lenkten die Kinder – eine sechsjährige Tochter und eine neunjährige Nichte – ab, indem sie ihnen vorrevolutionäre Detektivgeschichten vorlasen und Scharaden mit ihnen spielten. Eine, an die ihre Töchter sich erinnerten, betraf das Wort blokada. Für die Silbe blok spielten sie eine Szene aus einem Gedicht von Alexander Blok nach, für ad – auf Russisch »Hölle« – einen Teufel, der eine Seele in einer Bratpfanne brutzeln ließ. Für das ganze Wort taten sie so, als zögen sie stolpernd einen Schlitten durchs Zimmer.15

Doch die Tagebücher und Erinnerungen stammen fast definitionsgemäß von Familien, denen es gelang, durchzuhalten und zusammenzustehen. Sehr vielen gelang es nicht, und die Beschreibungen derjenigen, die den Kampf aufgaben – gekennzeichnet durch die stets verschlossene Tür; durch Dunkelheit, Gestank und Kälte; durch stille Gestalten unter aufgehäuften Decken; durch irres Gemurmelte –, sind zahlreich und nahezu identisch. Mit einer Mischung aus Abscheu und Mitleid verzeichnete Maria Maschkowa die Auflösung von benachbarten Familien in der Sadowaja-Straße 18 (die meisten Mieter waren, wie sie, Angestellte der Öffentlichen Bibliothek). Eine Nachbarin, kurz zuvor noch Oberhaupt eines »starken, wachsamen, energiegeladenen« Haushalts, hatte miterlebt, wie ihr Mann zur Armee eingezogen wurde, wie ihre Eltern vor dem Tod in Gezänk und Diebstahl verfielen und wie ihre Tochter in ein Kinderheim gebracht wurde. Danach interessierte sie sich nur noch fürs Essen: »[Ihr] überwältigender Wunsch ist es, endlos zu essen, Speisen zu schmecken und zu genießen … Die Heimatbesuche ihres Mannes erschreckten sie, denn sie hatte Angst, dass er ihre Brotportion mitnehmen würde. Ich erkenne diesen Geisteszustand wieder – er ist auch in mir, in Olga, in jedem.«16 Eine andere Frau wendete sich gegen ihren zehnjährigen Sohn, nachdem er seine Lebensmittelkarte verloren hatte:

Was mich immer wieder erstaunen wird, ist die Metamorphose, die diese liebende Mutter durchlebt hat. Früher zogen wir sie immer damit auf, dass sie so viel Wirbel um ihren Igorjok machte … Nun aber hat sie sich in eine Wölfin verwandelt, denn der Hunger hat sie ihrer Menschlichkeit beraubt. Ihr einziges Interesse richtet sich darauf, einen Brocken Essen von Igor zu erhaschen, und ihre einzige Befürchtung ist die, dass er ihr einen Brotkrumen wegnehmen oder ihr einen Löffelvoll Suppe, hergestellt aus ihrem Getreide, stehlen könnte. Als ich mit ihr darüber sprechen wollte, wie Igor zu helfen sei, hörte sie mir nicht einmal zu. Sie wurde von der Angst gequält, dass er ihre Karte in die Hände bekommen oder ihr Brot essen würde. Kategorisch erklärte sie: »Ich habe Hunger, ich will leben. Igor und sein Hunger sind mir egal. Er hat seine Karte verloren, also soll er sich selbst um das Problem kümmern.« Sie wird nichts mit ihm teilen, denn sie muss überleben. Alles andere interessiert sie nicht. Sie ist von Zorn und Neid auf jeden erfüllt, der noch auf den Beinen ist … Igor stand nur da, sagte nichts und verschlang ein Stück Brot, das die Nachbarn ihm aus Mitleid gegeben hatten. Sie rief wütend: »Glaub seinen Klagen nicht! Sieh mal, mit was für einem Riesenstück Brot er sich gerade vollgestopft hat, während ich hungrig und schwach hier liege.« Igor ist, trotz des Grauens und der Tragik seiner Situation, ruhig und beschwert sich nie. Vielleicht ist er nicht mehr zurechnungsfähig.17

Für die Mieter von Gemeinschaftswohnungen, die sich Küche, Badezimmer und Flur teilten, war der Zusammenbruch von Nachbarn ein sehr nahes Ereignis. Der neunjährige Igor Krugljakow, der durch die eiserne Disziplin seiner Mutter und Großmutter am Leben erhalten wurde (niemand durfte vom Tod sprechen, und seine Schwester und er mussten täglich zehn Minuten draußen im Schnee stehen, damit sie Licht und Luft bekamen), hörte, wie sich das Paar im Nachbarzimmer zuerst stritt, bevor beide handgreiflich wurden und dann ein Hämmern an der Wand ertönte, als die Frau ihr Baby erschlug.18

Ein perfekter Überlebender war der Iranologe Alexander Boldyrew. Gut aussehend, egoistisch und von beißenden Humor, war er den Säuberungen von 1936/37 entgangen, indem er sich lange mit Magengeschwüren im Krankenhaus aufhielt oder Forschungsreisen in ferne Teile Zentralasiens unternahm. Bei Kriegsausbruch entzog er sich der Einberufung mit Hilfe seiner Geliebten, einer Kollegin in der Eremitage, die ihren schwer geprüften Ehemann veranlasste, bei Museumsdirektor Jossif Orbeli Fürsprache für Boldyrew einzulegen. Obwohl dieser kein Parteimitglied war, nutzte er während der Belagerung unermüdlich seine Beziehungen und ließ sich nicht nur in der Eremitage, sondern auch im Wissenschaftlergebäude und im Orientalischen Institut registrieren. So konnte er in jedem täglich ein »Mittagessen« zu sich nehmen. Von der Eremitage verschaffte er sich ebenfalls eine Arbeiterlebensmittelkarte und erstaunlicherweise 1417 Rubel als Entschädigung für seinen verlorenen Sommerurlaub. Außerdem hielt er Vorträge – über »Peters Flotte«, »Die Literatur der Brudervölker Zentralasiens« und »Das heutige Afghanistan« – vor Seeleuten der vom Eis gefangenen Leningrader Schiffe. Manchmal musste er ohne Entgelt einen langen Spaziergang durch die Stadt machen, um diese Aufträge zu erfüllen, doch gewöhnlich brachten sie ihm eine Mahlzeit und ein paar Sternchen-Zigaretten ein. Sein Belagerungstagebuch erscheint wie eine sich dauernd ändernde Liste von Beamten, bei denen er vorstellig werden, von Schulden, die er einfordern, und von Tauschgeschäften, die er machen musste. Er selbst vergleicht all das damit, »in einem Sumpf von einem Grasbüschel zum anderen zu springen«.19 Zudem verlor er weder die Hoffnung – die Belagerung werde bald aufhören; England werde bald eine zweite Front eröffnen – noch seinen Humor. »Dauernd«, schrieb er am 10. Februar, »ob ich sitze, stehe oder liege, werde ich an meine extreme Abmagerung erinnert. Besonders auffällig ist das Verschwinden meines Gesäßes, des einzigen wirklich charakteristischen Aspekts meiner Person, auf den ich sehr stolz war. Nun habe ich überhaupt keinen Hintern mehr; mein Becken und meine Hüftknochen klappern gegen den Stuhl.«

Obwohl seine Familie alles andere als harmonisch war (seine Frau zankte sich unablässig mit seiner Mutter und Boldyrew seinerseits mit seiner Frau), agierten sie weiterhin als Team. Boldyrew brachte »Hefesuppe« und »Gelee« aus seinen verschiedenen Kantinen heim, seine Frau spendete Blut (wofür zusätzliche Rationen verteilt wurden), und seine Mutter stellte sich nach Lebensmitteln an. Auch hatten sie das Glück, mit zahlreichen ererbten Wertsachen handeln zu können. Neben Kleidung und Schuhen verkauften sie im Lauf des Winters drei Uhren – Boldyrews eigene (»Oh, wie schwer es ist, sich von ihr zu trennen!«), die seines toten Vaters und die Longines-Uhr seiner Frau – für zehn Kilo Mehl und fünf Kilo Rinderfett, eine Zigarettenspitze aus Bernstein (für 200 Gramm Brot), zwei Bestecke mit jeweils acht silbernen Dessertlöffeln (für 2 Kilo Brot und 700 Gramm Fleisch), ein silbernes Sahnekännchen und eine silberne Zuckerschüssel, Porzellanteetassen (an das alte Fabergé-Geschäft in der Morskaja für 670 Rubel, womit sie einen Liter Sonnenblumenöl erstanden) und den Ehering seiner Mutter. Diese Verbindung aus Hartnäckigkeit, Kooperation und Glück rettete Boldyrew, seine Frau und Tochter, nicht jedoch seinen Schwager, seinen Onkel und seine Mutter, die alle zwischen Dezember und Mai verhungerten.

Abends lag Boldyrew auf einem Sofa neben dem Ofen, der mit Möbeln und Bilderrahmen beheizt wurde, und las Romane. Am 19. Dezember beendete er Große Erwartungen. »Ein unbeschreibliches Vergnügen – die einzigen Teile, die mir auf die Nerven gehen, sind die wiederholten, ach so englischen Essenspassagen.« Am folgenden Tag begann er Priestleys Die guten Gefährten – »Bis jetzt wunderbar. Sein Hauptreiz ist England, das heutige England« –, das er »mit großem Bedauern« abschloss, denn »es war genau das Buch, das ich mir gewünscht hatte«. Als Nächstes kamen Kiplings von Hitze und Licht erfülltes Buch Kim (»eine himmlische Freude«) und Bulwer-Lyttons Kritik des Regency-Strafrechtssystems, Paul Clifford, an die Reihe. Im März las er Maupassant sowie Fenimore Coopers Der letzte Mohikaner und im April Joseph Conrads Spiel des Zufalls über ein junges Mädchen, das nach der Inhaftierung ihres Vaters von der Gesellschaft geächtet wird.

Es ist ein Belagerungsklischee, dass das eingeschlossene Leningrad seiner Gefangenschaft durch die Lektüre von Büchern entgangen sei. (»Ich lese hauptsächlich Balzac und Stendhal«, soll ein Vorarbeiter der Kirow-Werke Alexander Fadejew, einem Auftragsschreiber der Partei, der im Frühjahr aus der Stadt »Bericht erstattete«, mitgeteilt haben.) Tatsächlich wird das Klischee durch die Lebenserinnerungen und Tagebücher bestätigt. Bei Kriegsbeginn las laut Ginsburg jeder, der »die Kraft zum Lesen hatte, … gierig Krieg und Frieden«, denn »Tolstoj hatte ein für allemal Gültiges zur Tapferkeit gesagt, über den Menschen, der hinter der allen gemeinsamen Sache eines Volkskrieges steht«.20 Georgi Knjasew gab sich an einem der Tage, als seine Frau mit leeren Händen vom Lebensmittelverteilungspunkt der Akademie zurückkehrte, mit »Weltgeschichte«, der hethitischen Kultur und (untypischerweise) der französischen Décadence ab.21 Am pechschwarzen Nachmittag des 14. Januar saß Vera Inber in Mantel und Handschuhen da und las Spektralanalyse des Chlorophylls, von dem großen Botaniker Kliment Timirjasew im neunzehnten Jahrhundert geschrieben, mit einer fast visionären Beschreibung von Pflanzen, die Sonnenenergie in irdisches Leben verwandeln. »Unmessbare Oberfläche von Blättern«, schrieb sie in ihrem Tagebuch. »Diese Worte lassen mich an einen wogenden Ozean aus grünem Laub und Lichtpartikeln denken, der durch das eisige Universum auf uns zufliegt.«22 Ein Leutnant der Roten Armee, der die Verantwortung für Fesselballons hatte, las Jules Vernes Geheimnisvolle Insel. Daraus bezog und verwirklichte er den Gedanken, Wasserstoff für das Innere der Ballons zu verwenden und damit die Motoren zu betreiben, die für die Landung benötigt wurden.23 Maria Maschkowa durchsuchte die Antiquariate nach Schätzen aus den hastig verkauften Bibliotheken von Evakuierten. Für sich selbst erwarb sie Herzen, Dostojewski und Die Pickwickier (»langweiliger, unsinniger Humor; ich bin verblüfft darüber, dass es veröffentlicht wird, sogar für Kinder«) und für ihren zehnjährigen Sohn Bücher von Jules Vernes, eine Pissarro-Biografie und Mayne Reids Wildwestabenteuer. Ein anderer Überlebender der Belagerung, der damals zehn Jahre alt war, erinnert sich an eine ähnlich eskapistische Leseliste: Puschkins Märchen, Twains Prinz und Bettelknabe, Darwins Die Fahrt der Beagle und Ernest Thompson Setons Zwei kleine Wilde über einen Stadtjungen, der sich in den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts dem Indianerleben in der Wildnis von Ontario anpasst.

Die Leningrader lasen nicht nur, sie schrieben auch: Knjasew seine Kataloge, Inber Gedichte, Lichatschow eine historische Darstellung des mittelalterlichen Nowgorod und Olga Freudenberg einen Artikel über die Ursprünge der griechischen Epen, bis ihr Tintenfass beinahe zu einem violetten Klumpen gefror. Anna Ostroumowa-Lebedewa hörte erstaunlicherweise nie auf, die Schönheit zu würdigen, während sie im tiefsten Februar detailliert das Aussehen kahler, frostbedeckter Zweige vor dem Hintergrund des Himmels beschrieb. Sie versuchte, ihre zunehmend lethargischen halbwüchsigen Neffen Petja und Boba – »blass und dünn wie Papier« – abzulenken, indem sie ein Stillleben aus Büchern und einer Vase mit Herbstblättern arrangierte, das die beiden zeichnen sollten (Boba starb, Petja überlebte). Michail Steblin-Kamenski, ein Folklorist und Freund Boldyrews, beschäftigte sich mit griechischer Grammatik und wollte sich selbst einreden, dass ihm »eine einzigartige Gelegenheit geboten wurde, das Leben in seiner seltsamsten und distanziertesten Form zu beobachten«. Er hatte häufig versucht, sich das mittelalterliche Russland in einer Zeit der Hungersnot oder Pest auszumalen, und nun konnte er sich von der Realität überzeugen. Kein Wunder, dass der Chronist von einem Drachen schrieb, der über das Land hinwegfegte und Frauen und Kinder ergriff.24 Der Archäologe Boris Pjotrowski, der im Keller der Eremitage wohnte, schrieb eine Geschichte von Urartu, dem verlorenen, im siebten Jahrhundert blühenden Königreich an den Ufern des Sees Wan. »Schrecklich kalt«, kritzelte er an den Rand, »so kalt, dass es schwer ist zu schreiben.«25 Im Zoo verzeichnete Nikolai Sokolow die Reaktionen verschiedener Arten auf Artilleriefeuer. Paviane und andere Affen wurden während des Beschusses hysterisch, gewöhnten sich jedoch rasch an Fesselballons und ließen nur »normale Neugier« gegenüber Suchscheinwerfern und Leuchtkugeln erkennen. Völlig unerschüttert war der Bär des Zoos, als ein Geschoss seinen Käfig zerbrach: Er »blieb friedlich liegen und sog an seiner Tatze«. Ähnliche Kaltblütigkeit bewies eine sibirische Bergziege, als eine Sprenggranate in ihrem Gehege landete, denn sie spähte mit ruhigem Interesse in den Krater. Der Emu blieb »allem gegenüber völlig teilnahmslos« – infolge »seines eingeschränkten Verstandes«, wie Sokolow dachte.

Aber Bücher wurden nicht nur gelesen oder geschrieben, sondern dienten natürlich auch als Brennstoff. »Wir machen Feuer und verschaffen uns Wärme«, notierte Freudenberg, »heizen mit Memoiren und dem Fußboden ein, wobei Prosa mehr Hitze spendet als Lyrik, und Historisches bringt einen Teekessel zum Kochen.«26 Boldyrew teilte seine Bücher, wie seine Möbel, in drei Kategorien: »behalten«, »verkaufen« und »verbrennen«. Stück um Stück warf Lichatschow die Protokolle der vorrevolutionären Duma in seine burschuika und verschonte nur das der letzten Sitzung, eine Rarität. Olga Gretschina verbrannte die Bücher ihres Onkels über römisches Recht. Wie sie feststellte, spendete Papier aus dem neunzehnten Jahrhundert mehr Hitze als das dünne sowjetische Material. Eine andere Familie begann mit Nachschlagewerken und technischen Handbüchern, ging dann zu Zeitschriftenbänden, deutschen Klassikern, Shakespeare und schließlich zu vielbändigen blauen und goldgeprägten Puschkin- und Tolstoi-Ausgaben über.27

Ein anderes Belagerungsklischee, das durch die Tagebücher untermauert wird, bezieht sich auf die Rolle des Rundfunks und die emotionale Stärkung, welche die Leningrader aus ihm bezogen. Kofferradios waren bei Kriegsausbruch beschlagnahmt worden, weshalb man festverdrahtete Lautsprecher benutzte, von denen seit den zwanziger Jahren mehr als 400000 in Wohnungen und an öffentlichen Orten angebracht worden waren.2 Einquartiert im »Rundfunkhaus« an der Ecke Italjanskaja- und Malaja-Sadowaja-Straße, setzte der städtische Sender während des gesamten Todeswinters seine Arbeit trotz Stromausfällen und Geschossschäden am Übertragungsnetz fort. Geschichten über seine belebende Wirkung sind Legion: Die Dichterin Olga Berggolz brach auf der Straße zusammen und rappelte sich beim Klang ihrer eigenen Stimme auf, die ihre eigene Dichtung vortrug; ein Kampfpilot schaffte es, »mit nur einer Tragfläche« heimzufliegen, als er hörte, wie Klawdia Schulschenko das Lied »Der kleine blaue Schal« sang; eine Hausfrau stolperte den Bürgersteig entlang und wurde von Lautsprecher zu Lautsprecher wie von einer Menschenkette »weitergegeben«. Ein (übertrieben stalinistisches) Programm für Teenager mit dem Titel »Brief an meine Freundin in Leningrad«, das am 7. Dezember gesendet wurde, entzückte die sechzehnjährige Klara Rachman. »Was für ein wundervoller Brief!«, vertraute sie ihrem Tagebuch an. »Er gibt meine Gedanken ganz genau wieder. Ich werde alles aufschreiben, woran ich mich erinnere.«28 Der Autor Lew Uspenski, der in einer Bahnstation südlich von Ladoga eine spätabendliche Zigarette rauchte, wurde durch die Worte »Hier spricht Leningrad« aufgeschreckt, die aus dem Nebel über seinem Kopf hervordrangen. Eine Verzögerung zwischen den Lautsprechern, die an einer Reihe von Telegrafenmasten angebracht waren, ließ die Worte einander überlappen, bevor sie in der Ferne verhallten. Es klang so, als sprächen zahlreiche Riesen, die die deutschen »Dummköpfe« sanft ermahnten, ihre Pläne aufzugeben und heimzukehren, bevor sie Schaden nahmen.29

Die Sowinform-Nachrichten, die täglich um 11 Uhr und 23 Uhr gesendet wurden, hatten die meisten Zuhörer. Olga Freudenberg und ihre Mutter, die sich gerade rechtzeitig zur Januaroffensive der Roten Armee ein Rundfunkgerät beschafft hatten, lauschten mit Tränen in den Augen jedem Wort des Sprechers. Sie wussten, dass sie sich auf die Nachrichten nicht verlassen konnten, »doch man hörte trotzdem zu und schenkte ihnen Glauben«.30 Aufrichtigen Zuspruch fanden Berggolz’ Lesungen ihrer eigenen Verse, besonders ihres »Februartagebuchs«, eines langen Gedichts, das im Februar 1942 zur Feier des Tages der Roten Armee in Auftrag gegeben worden war. Trotz der Zensur gelang es ihr, Patriotismus mit einem ungewöhnlichen Grad an Realismus und persönlichen Gefühlen zu verbinden, wodurch sie der öffentlichen Stimmung völlig gerecht wurde. Die Strophen, erinnert sich ein Überlebender, waren »so einfach, dass sie sich jedem einprägten. Man ging die Straße entlang und murmelte die Zeilen vor sich hin … Als ich auf das Bibliotheksdach klettern und dort während des Beschusses stehen musste, war es mir irgendwie eine große Hilfe, das Gedicht auswendig zu kennen.« Ein anderer bezeichnet die Strophen als »herrlich … Sie weckten uns aus unserem animalischen Brüten über das Essen auf.«31

Zu den populären Programmen gehörten auch Lagerfeuer, ein fantasievolles Magazin für Kinder, das noch lange nach dem Krieg fortgesetzt wurde – und, seit Frühjahr 1942, Briefe an die Front und von der Front, das Leningradern ermöglichte, einander (aufmunternde) persönliche Botschaften zu schicken. Das Rundfunkhaus wandte sich auch an die Belagerer der Stadt. Geleitet von den Brüdern Ernst und Fritz Fuchs, emigrierten österreichischen Kommunisten, sendete der deutschsprachige Dienst defätistische Interviews mit Kriegsgefangenen und (gefälschte) »Briefe aus der Heimat«, die angeblich in den Taschen toter Soldaten gefunden worden waren. In einem dieser Briefe wurde die Bombardierung von Berlin beschrieben, und einem anderen, verfasst von Berggolz, schwärmte jemand vom Weihnachtsfest in Bayern: »Erinnerst du dich an den Duft der Weihnachtskekse? Gewürze, Rosinen, Vanille? An die Wärme und das Knistern der Weihnachtskerzen?«32

In den Pausen zwischen den Programmen, die im Dezember und Januar auf ein paar Stunden pro Tag zusammenschrumpften, strahlte der Sender das ruhige Ticken (mit fünfzig Schlägen pro Minute) eines Metronoms aus. Dies war für Haushalte, deren Apparate noch funktionierten, das stetige Pochen des Herzens von Leningrad. Was genau das Rundfunkhaus sendete, spielte kaum eine Rolle; entscheidend war, dass der Organismus noch lebte und dass die Kommunikation aufrechterhalten wurde. Iwan Schilinski gehörte zu den vielen Tagebuchschreibern, die, selbst wenn sich ihre Einträge auf eine nackte Liste der Essensaufnahme und der Todesfälle in der Nachbarschaft verkürzten, immer auch verzeichneten, ob der Radioempfang noch vorhanden war.

Viel schwieriger ist es, zu ermessen, welchen Trost die Leningrader in den Monaten des Massentodes aus ihrem Glauben bezogen.33 Nachdem Stalin Tausende von Kirchen und Klöstern geschlossen oder abgerissen sowie ihre Mönche, Nonnen und Priester hingerichtet, inhaftiert oder ins Exil geschickt hatte, war die organisierte Religion in den späten dreißiger Jahren korrumpiert oder in den Untergrund getrieben worden. Bei Kriegsbeginn waren in der gesamten Leningrader Diözese nur noch einundzwanzig Kirchen tätig; die übrigen hatte man demoliert oder zu Lagerhäusern, Garagen, Kinos, Planetarien oder »Religionsmuseen« umgebaut. Die Auferstehungskirche – ein mehrfarbiger neobyzantinischer Bau, gefüllt mit leuchtenden Mosaiken, der heute zu einer der Haupttouristenattraktionen von St. Petersburg geworden ist –, wurde ironischerweise nur durch den Kriegsausbruch vor der Zerstörung gerettet.

Nach dem deutschen Einmarsch vollzog Stalin eine rasche Kehrtwendung und räumte der orthodoxen Kirche (jedoch nicht der katholischen und lutherischen Kirche und den Baptisten) eine (eng umrissene) Rolle im öffentlichen Leben dafür ein, dass sie die Kriegsbemühungen unterstützte. Manche Kirchen durften wieder eröffnet werden, die Zeitung Atheist wurde umbenannt und dann geschlossen, und der Leningrader Metropolit Alexej durfte einen patriotischen Appell an die Nation richten. Darin berief er sich auf die mittelalterlichen russischen Krieger und Heiligen Dmitri Donskoi und Alexander Newski, erwähnte Stalin jedoch kein einziges Mal. Man gestattete Geistlichen, Begräbnisse (wie für Lichatschows Vater) abzuhalten und Wohnungen zur Verabreichung der Sterbesakramente aufzusuchen. Krypten wurden als Luftschutzkeller und Verteilungsstätten für Öl, Feuerholz, heißes Wasser und Kleidung benutzt (als Kleinkind verbrachte der Dichter Joseph Brodsky die Zeit der Luftangriffe im martialischem Glanz der Verklärungskathedrale, um die Ecke von der Wohnung seiner Familie am Liteiny-Prospekt.) Außerdem sammelten Leningrader Gemeinden erhebliche Summen für die Verteidigung: bis Ende 1941 über zwei Millionen Rubel, mit denen eine Dmitri-Donskoi-Panzerkolonne und ein Alexander-Newski-Luftgeschwader finanziert wurden. Einen ähnlichen Beitrag leistete die Chor-Synagoge, das einzige verbliebene Gotteshaus für die rund 200000 Juden der Stadt.

Dagegen wurden unabhängige Gemeinden weiterhin gnadenlos verfolgt. Dafür typisch war eine kleine unterirdische Gruppe, die man im Sommer 1942 entdeckte und beseitigte. Sie wurde laut einem NKWD-Fallbericht von einem Sechzigjährigen, der als Archimandrit Klawdi bekannt war, angeführt. Er hatte bereits wegen »konterrevolutionärer Tätigkeit« im Gefängnis gesessen und wohnte nun illegal in Leningrad. Zu seinen bejahrten, zumeist erwerbslosen Anhängern zählten »Kulaken«, frühere Nonnen, »Mönchselemente« und eine Schwester aus dem Lenin-Krankenhaus. Ihre Verbrechen waren laut Klawdis Geständnis unter anderem folgende: »der illegale Versuch, Gläubige anzuwerben«, »die Äußerung von Lob für die vorrevolutionäre Ordnung und den damaligen Lebensstandard« und »öffentliche Missbilligung der Methoden der Sowjetmacht«.34 Wir wissen nicht, was aus ihm geworden ist, aber wahrscheinlich stieß Klawdi das Gleiche zu wie Berggolz’ Vater, einem Arzt, der Anfang 1942 nach Sibirien deportiert wurde, weil er sich geweigert hatte, Pater Wjatscheslaw zu denunzieren, einen alten Freund, mit dem er Karten zu spielen pflegte.35

Wie viele Leningrader während des ersten Belagerungswinters Gottesdienste besuchten, ist schwer zu ermitteln. Obwohl einer der Memoirenautoren die Gottesdienste in der Wladimir-Kathedrale rührend schildert – die Chormitglieder in Schals gehüllt und mit Filzstiefeln an den Füßen, das Öl in den Ikonenlämpchen eingefroren, die Feier des Abendmahls, der Rote-Bete-Saft anstelle von Wein –, bleiben die Tagebuchschreiber stumm, was Religiöses angeht, selbst wenn sie sich leichtsinnig offen über andere Themen äußern. Vielleicht war die überfüllte Kathedrale eine freundliche Illusion, vielleicht zog sie erst seit dem Frühling Menschenmengen an, oder vielleicht war es überwiegend nur die Intelligenzija, die Tagebücher führte, während die Arbeiter in die Kirche gingen. Gebildeten Leningradern mag es auch schwerer gefallen sein, sich ihren Glauben zu bewahren. Berggolz – von jüdischer Herkunft und in ihrer Jugend eine idealistische Kommunistin – betrachtete die Belagerung als Kollektivstrafe für die Lügen und die moralische Feigheit der Säuberungsjahre, dafür, dass man die Pervertierung der Revolution zugelassen hatte:

Was für unglückliche Menschen wir sind! Worauf haben wir uns eingelassen? Auf welch eine böse Sackgasse und welches Delirium? Oh, was für eine Schwäche und was für ein Entsetzen! Ich kann nichts tun, nichts. Am ehrlichsten wäre es gewesen, mir das Leben zu nehmen. Ich habe so oft gelogen, so viele Fehler begangen, dass es nicht getilgt oder richtiggestellt werden kann … Wir müssen die Deutschen abwehren, den Faschismus zerstören, den Krieg beenden. Und dann müssen wir alles an uns selbst ändern … (Gerade hatte Kolka [ihr Mann] einen [epileptischen] Anfall – ich musste ihm den Mund zuhalten, damit er die Kinder im Nachbarzimmer nicht verängstigte. Er leistete schrecklichen Widerstand.) Warum leben wir? O Gott, warum leben wir? Haben wir wirklich nicht genug gelitten? Nichts Besseres wird uns je zuteil werden.

Diese Stimmung war durch einen Freund auf sie übertragen worden, einen traumatisierten Überlebenden des Flottenrückzugs aus Tallinn, der sie früher am Tag besucht und zusammenhanglos gemurmelt hatte: »Seit zwanzig Jahren sind wir im Unrecht, und nun zahlen wir dafür.«36

Andere kehrten unwillkürlich zum Glauben zurück, während sich ihre Angst und ihr Leid verstärkten. Parteimitglieder flüsterten Gebete und bekreuzigten sich in den Luftschutzkellern. Georgi Knjasew, der selbsternannte Anbeter von Turgenew, Tolstoi und Tschechow, grübelte in den Achtzehnstunden-Nächten des tiefsten Januars über die Stabilität der Lampenhalterung an der Decke – er hatte beschlossen, sich aufzuhängen, wenn seine Frau vor ihm starb – und über sein »Lieblingsthema …, über Christus, diesen erstaunlichen Lehrer der Liebe und Barmherzigkeit im fernen Galiläa«.37 Ein Maler, der neben seiner Frau starb, machte Zeichnungen eines Feuerengels, nämlich Christi – sein Schädel ähnelte denen der Verhungernden –, und der Heiligen Jungfrau, die ihren Schutzschleier über den schachtartigen Hof eines verdunkelten Wohnblocks legte.38 Altgläubige und Siebenten-Tags-Adventisten hielten, wie immer seit 1938, heimliche Gottesdienste in ihren Wohnungen ab. Die Mutter einer solchen Familie (ihr Mann, ein Priester, war während des Terrors von 1936/37 inhaftiert worden), ließ ihre sechs Kinder stundenlang auf dem Fußboden knien und beten. Als sie abgemagert waren, durften sie auf Kissen knien (zwei der sechs starben).39 Muslime und Buddhisten mussten ihre Religion ebenfalls heimlich ausüben. Dabei dienten Tausende von ihnen an der Leningrader Front, und die Stadt besaß sowohl eine Moschee als auch einen prächtigen buddhistischen Tempel, der unter Nikolaus II. errichtet worden war (außerdem hatte man den Fesselballon, der während des Krieges als Antennenmast diente, an ihm vertäut).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass religiöser Glaube während der Belagerung eine private, riskante Quelle des Trostes blieb. Stalins Lockerung der Vorschriften war opportunistisch und befristet, was die Leningrader wussten. Ein zehnjähriges Mädchen, das von einem der achtundneunzig neuen, zwischen Januar und März 1942 eröffneten Waisenhäuser aufgenommen worden war, erwachte eines Nachts und erblickte ihre Klassenlehrerin, die mit gebeugtem Kopf am Fenster des Schlafsaals kniete. Die Lehrerin erklärte, sie bete für ihren Sohn, der an der Front verschollen sei. Sie flehte das Mädchen an, niemandem zu erzählen, was sie gesehen habe.40