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Swjasy

Ein schwer zu übersetzendes Wort bedeutete in der Sowjetunion sehr viel: swjasy oder »Verbindungen«. Dies meint eine Kombination aus Drahtzieherei, Austausch von Gefälligkeiten und Bestechung. Durch swjasy konnten die Bürger das Staatsmonopol für Waren und Arbeitsplätze umgehen und sich alles Mögliche verschaffen: einen Posten, einen Telefonanschluss, einen Platz an der Universität oder auch nur einen Eimer voll Kartoffeln oder ein neues Paar Schuhe. In Friedenszeiten vermochte man seinen Lebensstandard durch die kluge Nutzung von swjasy zu erhöhen, doch während der Belagerung markierten sie nicht weniger als den Unterschied zwischen Leben und Tod.

Während die erste Verteidigungslinie des typischen Leningraders gegen den Hunger aus der unmittelbaren Familie bestand, setzte sich die zweite aus dem Freundesnetz zusammen. Besonders unter den eng miteinander verknüpften Familien der Intelligenzija konnten Freundschaften – beruhend auf Generationen von Verbindungen durch Ehe, Ausbildung und Beruf sowie auf der gemeinsamen Erfahrung von Angst und Verarmung – umfassend und erstaunlich stark sein. Nicht ungewöhnlich war die Situation der verwitweten, kinderlosen Anna Ostroumowa-Lebedewa, die kleine, aber ermutigende Lebensmittelgeschenke von alten Kollegen ihres verstorbenen Mannes im Chemischen Forschungsinstitut erhielt. »Mein Freund Pjotr Jewgenjewitsch kam heute zu Besuch«, schrieb sie am Neujahrstag 1942. »Er brachte eine Handvoll Haferflocken für kissel [ein verdicktes Fruchtsaftgetränk] mit, und Iwan Jemeljanowitsch hatte drei Sprotten bei sich.« Die beiden erschienen ein paar Wochen später erneut, diesmal mit 200 Gramm Brot, getrockneten Zwiebeln, Senfpulver, »einem winzigen Stück Fleisch, vier getrockneten weißen Pilzen und vier gefrorenen Kartoffeln (die ersten, die wir seit Herbst gesehen haben). Dies ist ein unbezahlbarer Schatz, und ich war überaus dankbar, zumal wir in der letzten Woche nichts als Seetang gegessen haben … Eine Feier!«1

Ähnlich loyal verhielten sich der pensionierte Straßenbahnangestellte Iwan Schilinski und seine Frau Olga, denn sie kümmerten sich um einen alten Freund, dessen Familie in die Evakuierung gereist war. Sie luden ihn zur Neujahrsfeier ein, um Wein und duranda mit ihm zu teilen – vorher säuberten sie sorgfältig ihr Zimmer und ihre Kleidung und gaben ihm bei seiner Ankunft die Möglichkeit, sich zu waschen und zu rasieren –, sie nahmen ihn bei sich auf, als seine Unterkunft durch Artilleriebeschuss unbewohnbar wurde, und tauschten schließlich Brot ein, damit er ein ansehnliches Grab bekam. Wäre Olga nicht verhungert und Iwan nicht vom NKWD verhaftet worden, hätten sie seine Kinder adoptiert. Auch kleinere Akte der Großzügigkeit konnten viel bewirken. Eine Überlebende der Belagerung erinnert sich an das heranwachsende Mädchen von nebenan, das Feuerholz, gestohlen bei seiner Arbeit auf einem Holzplatz, mitbrachte – »keine große Menge, aber für uns bedeutete es alles«.2 Auf einer anderen Ebene fand Olga Gretschina, neunzehn Jahre alt und völlig allein, menschlichen Trost in kurzen, innigen Gesprächen mit Fremden auf der Straße, die im Januar und Februar wegen der Furcht, überfallen zu werden, gewöhnlich zu zweit unterwegs waren.

Es war interessant, die widersprüchlichen Impulse der Menschen zu beobachten: Einerseits fürchtete man, seinen wertvollsten Besitz, die Lebensmittelkarte, an einen Dieb zu verlieren, andererseits wollte man, wenn auch nur für den kurzen Heimweg, mit jemandem zusammen sein, der zuhörte. Nie wieder habe ich einen so merkwürdigen, unkontrollierbaren Wunsch verspürt, irgendeinem Fremden alles über mich selbst zu erzählen …

Beim Abschied dankte jeder dem anderen für die Begleitung und wünschte ihm, dass er den Sieg erleben werde. Bei solchen Trennungen bildete sich eine neue Etikette heraus, denn die Formulierung war fast immer die gleiche, gleichgültig ob sie von einer einfachen oder einer gebildeten Person ausgesprochen wurde. Die einfachen Frauen, die meine Geschichte gehört hatten, drückten mir ihr Mitgefühl aus und trösteten mich mit den Worten, dass ich jung sei und dass alles – Heim, Ausbildung, Freunde – zurückkehren werde. In jenen naiven, doch aufrichtigen guten Wünschen fand ich die Kraft, die ich zum Leben benötigte. Und das war der Grund, warum ich, wie jeder andere, als Antwort auf die Geschichte von Gefährten meine eigene erzählte.3

Die zweite und wichtigste Form von swjasy der Leningrader entstand am Arbeitsplatz. Wer einen Posten hatte, erhielt nicht nur eine Arbeiterlebensmittelkarte, sondern mit Glück auch Zugang zu weiteren Mahlzeiten, zu Feuerholz, zu Lebensmittelpaketen von beigeordneten Organisationen in der unbesetzten Sowjetunion und zu einem Bett in einer der über hundert Erholungskliniken – oder stazionary –, die auf Geheiß des Stadtsowjets ab Dezember eröffnet wurden. (Obwohl viele stazionary kaum mehr als Abstellplätze für die Sterbenden waren, retteten andere einfach dadurch Leben, dass sie Patienten Nahrung aushändigen ließen, ohne sie zum Schlangestehen zu zwingen.) Nicht alle Arbeitsplätze waren gleich. Was die Fabriken betraf, so wurden die großen, angesehenen Werke, die zur militärischen Verteidigung beitrugen, am besten versorgt. Allerdings sanken auch hier die Überlebenschancen auf Zivilistendurchschnitt, weil die physischen Anforderungen der Arbeit höher waren, die Werke gezielt bombardiert wurden und nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht fast alle Verteidigungsarbeiter Männer waren, die rascher verhungerten als Frauen. Im Stalin-Metallwerk betrug die Sterblichkeitsziffer ungefähr 35 Prozent und in den Kirow-Werken, die in den angreifbaren südlichen Vororten lagen, zwischen 25 und 34 Prozent.

Während des Produktionsschubs im Herbst galt es als Verbrechen, der Arbeit unerlaubt fernzubleiben. Man hatte den Betreffenden die Lebensmittelkarte entzogen, doch in der Zeit der Massentode wurden diese Vorschriften nicht mehr forciert. Wer nicht zur Arbeit erschien, wurde automatisch krankgeschrieben und durfte seine Karte behalten. Dadurch waren im Januar 1942 immer noch 837000 Leningrader als Arbeiter registriert, obwohl man 270 Fabriken geschlossen hatte und die meisten übrigen kaum noch ihre Funktion erfüllten.4 Zu den vielen Leningradern, die eine rein nominelle Arbeit ausübten, gehörte auch Jelena Skrjabina. »Bekannte haben mich in einer Schneiderwerkstatt untergebracht«, schrieb sie am 15. Januar 1942. »Seitdem bin ich, was die Verpflegungsration anbelangt, in die erste Kategorie eingestuft worden. Zwar ist die Werkstatt kaum in Betrieb, es gibt weder Licht noch Brennmaterial, doch Lebensmittelmarken werden trotzdem ausgegeben. Auf diese Weise erhalte ich ein bißchen mehr Brot, jetzt, da jedes Krümchen zählt.«5

Eine der begehrtesten »Überlebensenklaven« für die Intelligenzija – wie ein Historiker die Arbeitsplätze im Belagerungswinter nannte – war das Rundfunkhaus, dessen Direktor die Lebensmittel, die er aus der legendären Kantine Nr. 12 des Smolny in sein Büro zurückschmuggelte, gerecht unter dem Personal verteilen ließ. Obwohl es sich um kleine Mengen handelte – ein paar Stücke Zucker, ein oder zwei Fleischpastetchen, eine Schüssel Kascha –, »ist die ungeheure moralische Wirkung, die es auf uns hatte«, erinnerte sich Olga Berggolz’ Liebhaber Juri Makogonenko, »kaum zu beschreiben«.6 Zudem erhielt das Rundfunkhaus mindestens zwei Sonderlieferungen aus Moskau; die erste wurde von Berggolz’ unverwüstlicher Schwester Maria organisiert, die Ende Februar einen Lastwagen mit Vorräten persönlich über das Eis des Ladogasees begleitete. »Sie schlug einen Umweg ein«, schrieb Berggolz bewundernd, »allein mit dem Fahrer, in Hosen und einem kurzen Pelzmantel, bewaffnet mit irgendeiner Pistole … Sie schlief in dem Laster, bezirzte die Kommandanten, fuhr durch Dörfer, die gerade aus der Hand der Deutschen befreit worden waren, nahm unterwegs Briefe und Päckchen für Leningrader mit … Ich bin stolz auf sie, erstaunt über sie – meine wunderbare, streitsüchtige Muska!«7

Eine zweite Lieferung wurde von Berggolz selbst arrangiert. Sie sammelte Lebensmittel und Medikamente für den Lufttransport nach Leningrad, während sie in Moskau Lesungen ihrer Februartage abhielt. Sie hätte noch mehr Vorräte schicken können, wären nicht die Leningrader Behörden gewesen, die nicht von der Partei ausgehenden Initiativen misstrauten, die ihre eigenen Versäumnisse nicht bloßstellen lassen wollten und möglicherweise öffentlichen Zorn fürchteten, wenn manche Institutionen merklich besser als andere versorgt würden. »Schdanow«, schrieb Berggolz wütend am 25. März, »hat gerade ein Telegramm abgeschickt, in dem er die Sendung von individuellen Paketen an Leningrader Organisationen verbietet. Dies hat angeblich ›schlimme politische Konsequenzen‹. Infolge dieses idiotischen Telegramms können wir dem Rundfunkkomitee kaum etwas zukommen lassen.« Alle Bitten waren nutzlos:

Heute hatte ich einen Termin bei Polikarpow, dem Vorsitzenden des Allunions-Rundfunkkomitees. Das Treffen hinterließ einen sehr unangenehmen Eindruck. Ich sprach ihn ungeschickt, schüchtern an – wahrscheinlich wäre es besser gewesen, unhöflich zu sein. Nachdem ich um Erlaubnis gebeten hatte, unserem Rundfunkkomitee das Lebensmittelpaket zu schicken, gab dieser aalglatte Bürokrat, dem meine Gegenwart offensichtlich Unbehagen bereitete, nur Gemeinplätze von sich: »Die Leningrader selbst lehnen diese Pakete ab«; »Die Regierung weiß, wem geholfen werden muß«, und ähnlichen Blödsinn. »Leningrader – dies ist Schdanow!«8

Die Beschäftigung im Rundfunkhaus ermöglichte Berggolz jedoch, wenn auch unter Gelbsucht und Ödemen leidend, nicht nur selbst zu überleben, sondern auch Freunden zu helfen. Eine Nutznießerin war die halb dankbare, halb grollende Maria Maschkowa, der es mehrere Male schwerfiel, sich von dem gerösteten Brot und dem Kaffee loszureißen, die in Berggolz’ warmer, gut beleuchteter Wohnung angeboten wurden, um zu ihren Kindern und ihrer sterbenden Schwiegermutter in die Dunkelheit und Kälte ihrer eigenen Unterkunft zurückzukehren. Berggolz überließ ihr suchari, Orangen, Kekse, Suppenpulver und Zwiebeln aus der ersten Moskauer Rundfunkhaus-Lieferung sowie Brot, Kekse, Erbsensuppenkonzentrat, Reis, Buchweizen, Würste, Pralinen, Wodka, Tabak und mehrere Päckchen Vitamin C aus der zweiten. »Ich führe das alles so detailliert auf«, vertraute Maschkowa ihrem Tagebuch nach einem festlichen Abendessen an, »weil es eine solche Seltenheit ist – zauberhaft, unglaublich … Mit Freunden neben einem fröhlichen Samowar zu sitzen, normal geschnittenes Brot auf einem Teller liegen zu sehen, die Kinder so viel essen zu lassen, wie sie wollen … Sich keine Sorgen über den kleiner werdenden Brotlaib zu machen, über etwas anderes als Essen zu sprechen – ist das kein Glück?«9

Eine andere beneidenswerte Enklave war der Schriftstellerverband, den die Romanautorin Vera Ketlinskaja leitete. Im Januar ersuchte sie Schdanows Stellvertreter Alexej Kusnezow, eine Flotte von Lkws, speziell ausgerüstet mit Öfen und isoliert mit Filz und Sperrholz, über den Ladogasee zum »Festland« zu schicken. Auf der Hinfahrt sollten sie Schriftstellerfamilien evakuieren und auf der Rückfahrt Lebensmittel für 100000 Rubel von Kolchosbauern mitbringen, die ihrerseits durch »moderne Literatur« und »Literaturabende« unterhalten werden sollten. »Uns ist bewusst, dass alle ungeplanten Fahrten gestrichen worden sind«, versicherte sie in einem Schreiben, »aber wir bitten Sie, eine Ausnahme von dieser Regel zu machen. Sogar in den schwierigsten Zeiten haben die Partei und die Sowjetregierung der Literatur immer ein besonderes Interesse entgegengebracht. Wir erinnern uns an Lenins Gespräch mit Gorki darüber, wie unsere Schriftsteller und Wissenschaftler ernährt werden sollten.«10

Ihre Bemühungen waren erfolgreich, und Anfang Frühjahr – lange bevor andere Institutionen zu normalen Verhältnissen zurückkehrten – wurden in der Verbandskantine bereits täglich Gerstensuppe, Borschtsch, Kascha und Nachtisch serviert.11 Vera Inber erhielt einen Anteil der großzügigen Lebensmittellieferung, die im März aus der Moskauer Verbandszentrale eintraf. »Ich war verblüfft, als ich sah, wie viel sie uns geschickt hatten. Ich packte mit jeder Hand eine Dose Kondensmilch und konnte sie nicht loslassen.«12 Lidia Ginsburg bezeichnet diese Päckchen als typisch für die Funktionsweise der Sowjethierarchie, die hier »mit ungewöhnlicher Schärfe und Brutalität zutage« getreten sei. Schokolade, Butter, Zwiebäcke und Konserven seien nach Arbeitspensum und Ranghöhe, nicht nach Bedarf verteilt worden. Manche Mitglieder erhielten jeweils zwei Kilo Butter, andere weniger als ein Kilo, und wer nicht dem Aktiv angehörte, bekam gar nichts.13 Zu denen, die Ketlinskaja verabscheuten, gehörte auch der Chef der Leningrader Filiale des Komponistenverbands Valerian Bogdanow-Beresowski, der sie vergeblich bat, seine hungernden Mitglieder aufzunehmen, da sie kein eigenes Clubhaus und auch keine Kantine besäßen.14 Obwohl entkräftet durch Ruhr, die ihn hinderte, zu einem Treffen mit dem Vorsitzenden des Stadtsowjets Popkow zu erscheinen, gelang es ihm, sich elf zusätzliche Lebensmittelkarten der ersten Kategorie sowie drei Betten in dem Sanatorium zu verschaffen, das Ende Dezember im Hotel Astoria eingerichtet worden war. Danach stand er vor der grässlichen Aufgabe, sie zu verteilen:

Ich erhalte viele äußerst schmerzliche Bitten. Erschüttert war ich über einen Anruf von L.A. Portow, der mich mehrere Male mit flehender Stimme aufforderte: »Tu es. Tu es jetzt. Wenn du eine Woche wartest, ist es zu spät. Ich werde nicht überleben.«

Trotzdem konnte ich ihm nur einen Platz auf der Warteliste versprechen, zusammen mit den stark geschwächten Rubzow und Peissin, denn A. Rabinowitsch (seit Langem an Tuberkulose leidend), Deschewow (bereits kaum mehr fähig, sich zu bewegen) und Miklaschewski sind alle in einem noch schlimmeren Zustand. Wenn es darum geht, ein Menschenleben zu retten, darf man im Grunde keine Wahl treffen. Das Leben jeder Sowjetperson muss gerettet werden. Aber man hat trotzdem eine Wahl zu treffen, indem man Prioritäten festlegt. Man darf sich nicht durch Urteile über den kreativen oder praktischen »Wert« einer Person leiten lassen (solche Urteile können nur subjektiv sein), sondern durch objektive Merkmale dafür, wie nahe sie dem Tod bereits sind.15

Einundzwanzig von achtzig Mitgliedern des Komponistenverbands starben an dem, was Bogdanow-Beresowski in seinem offiziellen Bericht als »Abzehrung« bezeichnete.16 Ihr fielen auch seine eigene Mutter, seine Schwester, sein Schwager, sein Schwiegervater und seine Nichte zum Opfer.

Wenig überraschend war, dass die Solidarität am Arbeitsplatz häufig zusammenbrach. Wie Dmitri Lichatschow berichtet, verhielt sich etwa der amtierende Direktor des Puschkinhauses so brutal, dass er weibliches Personal entließ – was auf ein Todesurteil hinauslief, da die Frauen nun mit den Rationen von nicht arbeitenden Abhängigen auskommen mussten. Auch stahl er die Lebensmittelkarten der Sterbenden und warf sie schließlich hinaus, um sich später nicht der Leichen entledigen zu müssen:

Ich erinnere mich an den Tod von Jassinski. Er war ein großer, schlanker, sehr gut aussehender alter Mann, der Don Quijote ähnelte. Er schlief in der Bibliothek des Puschkinhauses auf einem Klappbett, hinter den Bücherregalen … Sein Mund schloss sich nicht mehr, und Speichel tröpfelte aus ihm hervor; sein Gesicht war schwarz und bildete einen gespenstischen Kontrast zu seinem schlohweißen, ungekämmten Haar. Seine Haut spannte sich über die Knochen … Sie wurde immer dünner und bedeckte seine Zähne nicht mehr, die hervorstanden und seinen Kopf wie den einer Schildkröte aussehen ließen. Einmal trat er mit einer Decke über den Schultern hinter den Regalen hervor und fragte: »Wie spät ist es?« Dann wollte er wissen, ob es Tag oder Nacht sei (die Stimmen von Dystrophikern wurden undeutlich, da sich die Stimmbänder zurückbildeten). Er wusste es nicht, da sämtliche Fenster im Saal zugenagelt waren. Ein oder zwei Tage später trieb unser stellvertretender Direktor Kanailow alle hinaus, die versucht hatten, sich im Puschkinhaus niederzulassen, damit er ihre Leichen nicht entfernen musste. Mehrere Angehörige unseres Hilfspersonals – Pförtner, Verwalter, Putzfrauen – starben auf diese Weise. Sie waren von ihren Familien losgerissen und herbeigerufen worden, und als sie nicht mehr die Kraft hatten, nach Hause zurückzukehren, mussten sie das Gebäude bei dreißig Grad Frost verlassen. Kanailow behielt alle im Auge, die schwächer wurden, und keine einzige Person starb in den Räumlichkeiten.17

Im Januar 1942 ließ sich Kanailow über den Ladogasee evakuieren. Dabei bot er Freunden Plätze in seinem Lastwagen an, wenn sie seine Koffer trugen, die er mit antiken Teppichen und anderen Wertsachen vollstopfte. Nicht einmal die Koffer selbst – schöne alte Exemplare aus gelbem Leder – gehörten ihm, sondern waren Teil eines Vermächtnisses, das ein bibliophiler unehelicher Sohn von Alexander III. hinterlassen hatte. Weitere Kostbarkeiten des Puschkinhauses wurden von Matrosen eines in der Nähe ankernden U-Boots gestohlen: Kanailows (kaum weniger korrupter) Nachfolger erlaubte ihnen, im Austausch gegen elektrisches Licht und Suppe in das Gebäude einzuziehen, wonach sie sich Turgenews Sofa und Bloks Bett aneigneten. »Im Frühjahr«, berichtete Lichatschow, »als die Newa taute, verließen die Matrosen das Institut eines schönen Tages ohne jegliche Warnung und nahmen so viel mit, wie sie konnten. Später fand ich auf dem Fußboden eine vergoldete Tafel von Tschaadajews Uhr. Die Uhr selbst war verschwunden. Auf welchem Meeresboden ruht sie heute?«18

Die bei Weitem besten Organisationen, denen man angehören konnte, wenn man dem Hunger entgehen wollte, waren die Streitkräfte, die Lebensmittelverarbeitungs- und -verteilungsbehörden sowie die Parteizentrale im Smolny.

Das Leben an der Front war für Soldaten in den Schützengräben um Leningrad außerordentlich hart. Sie wurden einer brutalen und launenhaften Disziplin unterworfen, mussten lange Märsche in schmutziger Fußbekleidung und schlecht passenden Stiefeln zurücklegen, trieben Schützengräben und Unterstände mit Brecheisen und Spitzhacken in den gefrorenen Boden, schliefen in ihre Wintermäntel eingewickelt draußen im Schnee, führten einen unablässigen Kampf gegen Ratten und Läuse und mussten im Verlauf von Offensiven tagelang auf saubere Unterwäsche und warmes Essen verzichten. Gleichwohl enthielten ihre Rationen, sogar auf dem niedrigsten Stand, täglich 500 Gramm Brot. Zwar wurden Lebensmittel in manchen Einheiten systematisch von den höheren Rängen gestohlen, doch es war möglich, mit der vollen Ration zu überleben. Im Allgemeinen reichte die Verpflegung beim Militär aus, um nicht nur die männlichen und weiblichen Soldaten, sondern auch ihre Angehörigen zu ernähren. Ehefrauen und Freundinnen von Offizieren, die in der Stadt selbst stationiert waren, ging es merklich besser als ihren Nachbarn, weshalb ihnen der giftige Spitzname »Verteidigungsdamen« verliehen wurde. Eine davon, die Frau eines Militäringenieurs, wohnte neben Georgi Knjasew. Sie kaufte für Brot, Zucker und Reis von den anderen Hausbewohnern Tischtücher, Handtücher, Teppiche und Lampen. »Nur dadurch können die hungernden Nachbarn überleben«, notierte Knjasew ironisch. »Die Dame wiederum achtet voll auf ihren Vorteil. Demnach gibt es in Leningrad neben Hungernden auch Satte!«19

Anfang Februar klopfte ein glattgesichtiger, mit einer eleganten Uniform bekleideter Offizier an Jelena Skrjabinas Tür, um ihre Evakuierungsdokumente abzuholen: »Er wirkte wie ein Mensch aus einer anderen Welt, den es rein zufällig auf unseren Planeten verschlagen hatte. Zum hundertsten Mal wunderte ich mich über die unterschiedliche Lage der Menschen, die gewisse Einflüsse oder Möglichkeiten haben, und der einfachen Leute, die außer einer Brotmarke nichts weiter besitzen.«20 Soldaten traten auch als Helden der von den Belagerungshistoriografen so bezeichneten Erlösergeschichten auf. Dies sind die Erzählungen zahlreicher Überlebender über gütige Fremde, die in letzter Sekunde mit lebensrettenden Speisen aufgetaucht seien. Obwohl ein Teil der Belagerungsmythologie – ein Historiker vergleicht solche Geschichten sogar mit denen über die Engel von Mons im Ersten Weltkrieg21 –, treffen viele dieser Darstellungen unzweifelhaft zu. Igor Krujakow erinnert sich daran, dass kurz vor oder nach Neujahr ein junger, rotwangiger Pilot an der Tür erschienen sei und einen Karton mit Butter und Mehl und einen zweiten mit suchari abgegeben habe. Dadurch sei die Familie gerettet worden. Auch Skrjabina und ihren Angehörigen kam ein völlig unbekannter Soldat zu Hilfe, der mit einem Eimer Sauerkraut auf der Schwelle stand.22

Reisen an die Front wurden von Zivilisten hoch geschätzt, da sie dort oft üppig wirkende Mahlzeiten aufgetischt bekamen. Eine Schauspielerin, die Mitte Dezember vor Soldaten auftrat, verzeichnet staunend das Menü eines »Banketts« zur Feier der »hundertvierzig Helden des Vaterländischen Krieges«: 100 Gramm Alkohol pro Person, zwei Gläser Bier, 300 Gramm Brot und ein weißes Brötchen, 50 Gramm gesalzenes Schweineschmalz, zwei Fleischklößchen mit Buchweizen und Soße, ein Glas Kakao mit Milch, Sonnenblumenkerne, ein Päckchen Belomor-Zigaretten und eine Schachtel Streichhölzer. Außerdem durfte sie 400 Gramm Lutschbonbons mit nach Hause nehmen.23 Vera Inber schloss sich einer Delegation an, welche die Wolchower Front im Februar 1942 besuchte. Als Geschenke hatten die Reisenden Rasiermesser, Gitarren und fünf Selbstladepistolen mit der Inschrift »Dem besten Vertilger deutscher Okkupanten« bei sich. Zum Frühstück wurden Inber zu ihrer großen Freude Brei, Brot und ein großes Stück Zucker serviert. »Herrlich! Nächstes Mal nehme ich unbedingt einen Löffel mit.« Ungefähr hundert Arbeiterdelegationen unternahmen im November und Dezember ähnliche Reisen.24

Andere Zivilisten nahmen Verbindung zu den im Hafen ankernden Kriegsschiffen auf. Arbeiten an Bord eines U-Boots und eines Minenlegers retteten die Ingenieure Tschekrisow und Lasarew; zahlreiche Schriftsteller und Hochschullehrer – wie Boldyrew – verdienten sich lebenswichtige Mahlzeiten, indem sie vor Seeleuten Lesungen oder Vorträge hielten. Dagegen waren Heimatbesuche für Frontsoldaten verboten – und doppelt gefährlich, denn ein Mann, der in den frühen Morgenstunden mit einem Rucksack durch die Straßen ging, war ein verlockendes Ziel für Räuber oder Mörder.

Eine der besten Überlebenstechniken bestand darin, einen Posten in der Nahrungsmittelverarbeitung oder -verteilung zu ergattern. Leningrader mit einem derartigen Arbeitsplatz starben, wie zu erwarten war, kaum an Hunger. Alle 713 Beschäftigten der Krupskaja-Bonbonfabrik überlebten, ebenso wie jene in der Bäckerei Nr. 4 und in einer Margarinefabrik. In der Bäckerei Baltika starben nur 27 von ursprünglich 276 und dann 334 Beschäftigten; sämtliche Opfer waren Männer.25 Kellnerinnen in Kantinen und Brotverkäuferinnen waren notorisch »dick«, genau wie das Personal von Waisenhäusern. Eine Freundin von Ostroumowa-Lebedewa, die im Frühjahr »rubenshafte« junge Frauen in einem wieder eröffneten Badehaus entdeckte, nahm automatisch an, dass sie in Bäckereien, Suppenküchen oder Kinderheimen beschäftigt waren. Da die Menstruation im Winter bei den meisten Frauen ausgesetzt hatte, ist ebenfalls zu vermuten, dass junge Mütter 1942 in Lebensmittelfabriken oder Speisesälen tätig waren (die beiden einzigen schwangeren Frauen, die Tschekrisow während der gesamten Belagerung zu Gesicht bekam, arbeiteten als Kellnerinnen in der Cafeteria seiner Werft).26

Die Kaufkraft solcher Frauen ließ sich daran ermessen, dass die am leichtesten auf dem Schwarzmarkt absetzbaren Produkte keinen praktischen, sondern rein modischen Wert besaßen. Skrjabina tauschte bei ihrer ehemaligen Hausangestellten, der nun mit einer Pelzjacke ausstaffierten Geliebten eines Lagerleiters, Kleiderstoff und eine Chiffonbluse gegen Brot und Reis ein.27 Boldyrew bestach die »Zariza der Küche« im Wissenschaftlergebäude mit einem Spitzentaschentuch und gelben Seidenpompons, und Lichatschows Frau verkaufte auf dem Sitny-Markt zwei Kleider für ein Kilo Brot und 1200 Gramm gepresstes Viehfutter.28 Trotz mehrerer Razzien im Sommer 1942 blühten Diebstahl und Korruption im Lebensmittelverteilungssystem während der gesamten Belagerung. Ein Leningrader beschwerte sich in einem Privatbrief (abgefangen vom NKWD) im September desselben Jahres: »Es gibt Menschen, die nicht wissen, was Hunger ist und die sogar verwöhnt sind. Wer die Verkäuferin in jedem beliebigen Laden betrachtet, sieht eine goldene Uhr an einem Handgelenk und ein Armband am anderen. Sogar die Frauen am Kantinenausschank besitzen heutzutage Gold.« Dies war, wie die Agenten düster berichteten, nur eine von 10820 ähnlichen Beschwerden, die man in nur zehn Tagen gesammelt hatte.29 Der Versuch, die Missstände aufzudecken, war sinnlos: Als Lasarews Frau sich darüber beklagte, dass die Kinder in ihrem pädiatrischen Krankenhaus weniger als die Hälfte der ihnen zugeteilten Milch erhielten, wurde sie aus der Stadt hinausgeschickt und musste täglich zwölf Stunden lang Gemüsebeete umgraben.30

Diejenigen mit der größten Überlebenswahrscheinlichkeit – und zugleich am meisten verhasst – waren die Apparatschiks der Parteizentrale. »Ich habe selbst gesehen, wie man dem Smolny Brot geliefert hat«, flüsterte eine Frau ihrer Nachbarin laut einem Spitzel Ende Januar in einer Schlange zu. »Dort haben sie keinen Hunger. Wenn sie zwei Tage ohne Brot auskommen müssten, würden sie uns vielleicht ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenken.« – »Die fressen sich voll«, sagte eine andere. »Wir hungern und müssen zusehen, wie die mit ihren dicken Visagen herumgefahren werden. Es ist nicht fair.«31 Einfache Parteimitglieder – überwiegend gewöhnliche Arbeiter – waren nicht viel besser gestellt als Normalbürger. 17000 Parteiangehörige – 15 Prozent der Gesamtzahl – sollen in der ersten Jahreshälfte 1942 verhungert sein. Dabei handelte es sich um weniger als die Hälfte der allgemeinen Sterblichkeitsziffer von 30 bis 40 Prozent. Allerdings lässt sich ein direkter Vergleich nicht anstellen, da sich die Parteimitgliedschaft – hauptsächlich Männer, relativ wenig alte Menschen, keine Kinder – anders zusammensetzte als die Durchschnittsbevölkerung.32 Doch fraglos genossen die Bürokraten der Parteizentrale eine bessere Lebensmittelversorgung. Oft hört man, Schdanow habe während der Belagerung normale Arbeiterrationen gegessen, doch dies ist angesichts der Mahlzeiten, die im Smolny serviert wurden, höchst unwahrscheinlich. Besucher gaben einschlägige Hinweise auf einen Überfluss an Speisen. Für Lichatschow zum Beispiel, der an einem Treffen über einen Buchauftrag teilnahm, »roch es [im Smolny] wie in einem Speisesaal«, und ein Nachschuboffizier der Roten Armee erinnerte sich daran, wie er Räucherschinken, Stör und Kaviar, die von einer Lieferung übrig geblieben waren, aus der Stadt hinaus, zu den evakuierten Familien von Funktionären, gebracht hatte.33

Der beste (und einzigartige) Augenzeugenbericht über das, was die Leningrader Elite tatsächlich aß, stammt von Nikolai Rybkowski, einem Funktionär der staatlichen Gewerkschaften. Rybkowski, der bei Kriegsbeginn 38 Jahre alt war, kam aus einer bäuerlichen Familie, war ein leidenschaftlicher Stalinist und gehörte der Generation an, die vom Terror profitierte, da sie rasch die Ämter der beseitigten Vorgesetzten übernehmen konnte. Bevor er Anfang Dezember 1941 einen Posten im Smolny erhielt, lebte er wie jeder andere Leningrader, machte sich Sorgen um seine Frau und seinen Sohn in der Evakuierung (»Ich habe ein paar Riegel Schokolade gespart, um sie Serjoschenka zu schicken«), wartete in der Schlange für normale Rationen und magerte wie alle Übrigen ab: »Ist dies mein Körper, oder ist er gegen den eines anderen ausgetauscht worden, ohne dass ich etwas gemerkt habe? Meine Beine und Handgelenke gleichen denen eines wachsenden Kindes, mein Bauch ist eingesunken, meine Rippen ragen von oben bis unten hervor.« Doch dann bot ihm ein Posten im Smolny, als Ausbilder in der »Kaderabteilung« des Stadtsowjets, Zugang zu einer anderen Welt. »Morgens zum Frühstück«, schrieb er an seinem vierten Arbeitstag,

gibt es Makkaroni oder Spaghetti oder Kascha mit Butter und zwei Gläser süßen Tee. Zum Mittag: erster Gang Suppe, zweiter Gang Fleisch, jeden Tag. Gestern zum Beispiel aß ich Gemüsesuppe mit saurer Sahne, gefolgt von einem Fleischklops mit Vermicelli. Heute war der erste Gang Suppe mit Vermicelli, der zweite Schweinefleisch mit gedünstetem Kohl. Abends für diejenigen, die noch arbeiten, kostenloses Brot und Butter mit Käse, ein Brötchen und zwei Gläser süßen Tee. Nicht schlecht. Sie schneiden nur für das Brot und Fleisch Coupons ab, alles andere gibt es zusätzlich. Dies bedeutet, dass man mit den überzähligen Coupons in die Geschäfte gehen und Getreide, Butter und alles sonst Verfügbare kaufen und ein bisschen mit nach Hause nehmen kann.

Viele Smolny-Angestellte litten unter Durchfall, doch das Gebäude war warm, sauber und hell; Kanalisation und fließendes Wasser funktionierten einwandfrei. Andere Leningrader, bemerkte Rybkowski, »gehen in ihrer Wohnung ins Badezimmer, leeren das Ergebnis dann sonst wo aus und waschen sich die Hände vor dem Essen nicht … Solchen Menschen zu begegnen – und man begegnet ihnen recht häufig – ist unangenehm.«

Im März 1942 wurde Rybkowski in das »Ruhehaus« des Stadtsowjets – im Grunde ein Hotel – in einem Datschendorf nördlich der Stadt entsandt:

Die Umgebung ist herrlich. Kleine zweistöckige Datschen mit überdachten Veranden, umringt von riesigen Kiefern, die bis zum Himmel ragen … Nach einem Spaziergang in der Kälte kehrst du, müde und ein wenig benommen durch die Waldgerüche, in ein warmes, gemütliches Zimmer zurück, lässt dich auf einen weichen Sessel fallen und streckst dankbar die Beine aus.

Das Essen ist hier so wie in einem guten Sanatorium der Friedenszeit: abwechslungsreich, appetitlich, hochwertig. Jeden Tag gibt es Fleisch – Lamm, Schinken, Huhn, Gans, Puter und Wurst; an Fischen Brachse, Ostseehering und Stint, gebraten, gekocht oder in Aspik. Kaviar, geräucherten Stör, Käse, piroschki, Kakao, Kaffee, Tee, 300 Gramm Weißbrot und Schwarzbrot täglich, 30 Gramm Butter und, um alles abzurunden, 50 Gramm Wein und guten Portwein zum Mittag- und Abendessen … Wir essen, trinken, verbringen Zeit in der Natur, schlafen oder tun gar nichts, während wir dem Grammofon zuhören, Witze austauschen und Domino oder Karten spielen … Ich bin mir des Krieges kaum bewusst, der uns nur durch das ferne Dröhnen von Kanonen an seine Gegenwart erinnert, obwohl wir kaum ein paar Dutzend Kilometer von der Front entfernt sind.

Den Bezirkssowjets, versuchte er sich zu rechtfertigen, gehe es nicht weniger gut, »mehrere Organisationen haben stazionary [Genesungskliniken], mit denen unsere den Vergleich scheuen«.34 Seit Ende Februar versorgten die Bezirkssowjets auch das örtliche NKWD-Personal mit Nahrung, auf dessen Schultern ein großer Teil der alltäglichen Stadtverwaltung ruhte, seit die Mehrheit der Partei- und Komsomolmitglieder an die Front gezogen war.35

Auf der untersten Stufe der städtischen Lebensmittelhierarchie befanden sich Menschen, die keine Leningrader waren: Flüchtlinge vom Lande. Im September 1941 strömten Bauernfamilien vor den heranrückenden deutschen und finnischen Streitkräften in Richtung Stadt, und der Militärrat übertrug die Verantwortung für sie den Sowjets der Außenbezirke, die Anweisung erhielten, die Identität der Flüchtlinge zu prüfen, sie an der Besteigung von Straßenbahnen oder Nahverkehrszügen ins Zentrum zu hindern und sie in leeren Wohnungen, Schulen und Wohnheimen unterzubringen.36 »Leningrad war durch einen Ring von Bauernkarren umzingelt«, schrieb Lichatschow, »die nicht in die Stadt gelassen wurden. Die Bauern wohnten in Lagern mit ihrem Vieh und ihren weinenden Kindern, die in den kalten Nächten zu Tode froren. Zuerst gingen Menschen zu ihnen hinaus, um Milch und Fleisch von ihnen zu erwerben (sie hatten angefangen, ihr Vieh zu schlachten). Aber Ende 1941 waren all diese Bauerngruppen erfroren, genau wie die weiblichen Flüchtlinge, die man in Schulen und andere öffentliche Gebäude gepfercht hatte.«37

Lichatschow übertrieb, doch nicht allzu sehr. Der Umstand, dass die Leningrader Behörden Flüchtlinge grausam vernachlässigten, wird vom NKWD bestätigt, zu dessen mannigfaltigen Funktionen es gehörte, die Arbeit anderer Regierungsorgane zu inspizieren. Die Lebensbedingungen der 64552 karelischen Bauern (über ein Drittel davon Kinder), die in den nordöstlichen Vororten der Stadt einquartiert waren, seien »extrem unbefriedigend«, hieß es in einem Bericht von Ende November. Ihre Unterkünfte waren dunkel, schmutzig, ungeheizt und hatten kein fließendes Wasser; da es an Bettwäsche fehlte, mussten die meisten Flüchtlinge auf dem Fußboden schlafen. In dem Dorf Toskowo, wo man achthundert Menschen in eine ungeheizte Schule mit zerbrochenen Fenstern gesteckt hatte, stahlen sie Feuerholz von den Einheimischen, fällten Bäume und rissen Wirtschaftsgebäude ab, und trotzdem starben fünf Kinder innerhalb von fünf Tagen an Lungenentzündung. Die Flüchtlinge von Toskowo wurden zudem noch schlechter verpflegt als andere, denn der (seither verhaftete) Nachschubchef der Evakuierungsstelle hatte ihre Rationskarten zurückgehalten, um sich mit Hilfe »von Schwindel Lebensmittel für seinen eigenen Gebrauch zu verschaffen«. Man traf keine Maßnahmen, um die Ausbreitung von Infektionskrankheiten zu verhindern. So musste sich ein einziger Arzt in einem überfüllten Dorf um 5000 Menschen kümmern, und überall war die medizinische Versorgung »schwach«. Zusammenfassend stand in dem Bericht: »Bezirksorganisationen missachten die Bedingungen an den Evakuierungspunkten und versuchen, sich ihrer Pflicht zur Unterstützung der Aussiedlerbevölkerung zu entziehen. Wir halten es für notwendig, dass die Bezirksparteikomitees und die Sowjetexekutivkomitees angewiesen werden, die Evakuierungsstellen in ihren Gegenden in Ordnung zu bringen sowie den Kultur- und Lebensstandard der Evakuierten zu verbessern.«38

Als das NKWD zwei Monate später einen neuen Bericht vorlegte, starben Flüchtlinge bereits in großer Zahl. In Wsewoloschsk, einem Evakuierungspunkt am Nordostrand der Stadt, waren 130 Leichen aus Wohnungen und Heimen eingesammelt worden. Weitere 170 wurden im Krankenhaus gefunden, ungefähr hundert lagen unbeerdigt auf dem Friedhof und sechs auf den Straßen. Der eigene Beitrag des NKWD zur Verbesserung des »Kultur- und Lebensstandards« der Flüchtlinge war typisch: Elf Bauern wurden wegen »antisowjetischer Standpunkte« verhaftet; das gleiche Schicksal traf einen zwölften, weil er Katzen und Hunde für Verpflegungszwecke schlachtete. Andere bezichtigte man, »einen organisierten Aufstand angezettelt zu haben«. In Wirklichkeit hatten sie versucht, Repräsentanten zu wählen, die nach Moskau reisen und Stalin um Hilfe bitten sollten.39