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Schlitten und Kokons

Auf 60 Grad nördlicher Breite liegt Leningrad in einer Linie mit den Shetlandinseln und nur zwei Grad unterhalb von Anchorage. Im Mittwinter geht die Sonne um neun Uhr auf und steht niedrig und blendend bis fünfzehn Uhr am Himmel. Heutzutage liegen die Wintertemperaturen durchschnittlich bei –10 °C, doch im Januar 1942 sanken sie unter –30 °C, so dass Eiskristalle Lungen beschädigten und Nasenlöcher verstopften. Meterlange Eiszapfen hingen an den Oberleitungen der Straßenbahn, und die Frauen, die im Bolschewik-Werk Geschosse für »Katjuscha«-Raketenwerfer herstellten, konnten Metallrohre markieren, mit einem Hammer darauf klopfen und sie dann säuberlich durchbrechen. An den kurzen, hellen Tagen war die Stadt für alle, deren Energie zu ihrer Bewunderung ausreichte, außerordentlich schön – die Luft, frei von dem üblichen Kohlerauch, verblüffend klar und die Schneedecke nicht durch Fahrzeuge verunstaltet. In den achtzehn Stunden der stillen Dunkelheit (wegen der Kälte konnten die deutschen Bomber nicht starten) wirkte die Stadt, als befände sie sich am Boden eines Brunnens oder in den Tiefen des Ozeans.

Die Leningrader feierten den Beginn des neuen Jahres so gut sie konnten. Vera Inber verbrachte den ersten Teil des Abends auf einer Lesung neuer Werke im roten Salon der Zentrale des Schriftstellerverbands in der Schpalernaja, der langen düsteren Allee, gesäumt mit Regierungsgebäuden, die vom Smolny in die Stadtmitte führt. Ein paar kleine Scheite brannten im Kamin, eine einzelne Kerze gab Licht auf dem Podiumstisch. »Es war sehr kalt. Als ich an der Reihe war, rückte ich näher an die Kerze heran und las aus dem Manuskript der ersten Strophe eines neuen Gedichts (ich habe noch keinen Titel gewählt). Es war meine erste öffentliche Lesung. An der Stelle, an der ich Deutschland verfluche, konnte ich kaum atmen – ich musste mich unterbrechen und dreimal neu beginnen.« Um Mitternacht, wieder im Erisman-Krankenhaus, gingen ihr Mann und sie hinunter ins Sprechzimmer des medizinischen Direktors:

Wir holten unsere letzte Flasche Riesling herunter und gossen den Wein in Gläser, aber dann klingelte das Telefon. Es war der diensthabende Arzt in der Notaufnahme. Er meldete, dass vierzig Leichen in den Korridoren lägen und einige sogar in der Toilette. Der Mann wusste nicht, was er tun sollte. Also begab sich der medizinische Direktor hinunter in die Notaufnahme, und wir stiegen hinauf in unser Zimmer und gingen ins Bett.1

Wassili Tschekrisow, der keine Unterstände an der Front mehr baute, verbrachte den Silvesterabend in der Sudomech-Werft. Seit einem Monat gab es dort keinen Strom mehr. »Wir tun einen Scheißdreck, und das beeinträchtigt die Moral. Man sollte die Leute wenigstens nach Hause gehen lassen, aber die Leitung hält sie den ganzen Tag hier fest … Wie ich erfahre, werden in Werkhalle Nr. 3 täglich acht bis zehn Särge gezimmert – und das nur in unserer einen Fabrik.« Die Leningrader nähmen den Beschuss gar nicht mehr zur Kenntnis. Er habe gesehen, wie sich Passanten mitten im Kugelhagel um Bretter eines Holzzauns stritten; ein Kollege habe beobachtet, wie eine Menschenmenge ein gerade getötetes Pferd in Stücke riss. »In einer Stunde«, schrieb er kurz vor Mitternacht,

wird 1942 hier sein. Ich sitze in unserem Aufenthaltsraum, der nur durch den Ofen erhellt wird. Wenigstens in dieser Hinsicht geht es uns gut, denn wir haben eine fast unbegrenzte Menge Feuerholz. Ich sitze da und wärme den Kaffee in meiner Tasse wieder auf. Der Rundfunkempfang ist heute gut – Neujahrsansprachen … Es ist schwierig, das neue Jahr zu feiern, wenn man hungert und friert und jeden Tag Menschen sterben. Aber die Reden sind voller Optimismus. Die dunklen, mühsamen Tage lägen hinter uns. Obwohl die Lebensmittelversorgung sich nicht verbessert habe, könne man die Vernichtung und den Rückzug des Feindes geradezu riechen.

Wie Tausende dachte er an seine Frau und seinen Sohn: »Wie ergeht es Dina und Gelik? Haben sie das Geld erhalten? Wenn ja, ist alles in Ordnung. Welch ein Glück, dass sie nicht hier sind. Wie hätte ich Gelik gegenübertreten können, wenn er hungerte und ich nicht in der Lage wäre, ihm zu helfen?«2

Jelena Kotschina stand morgens um vier Uhr auf, um sich nach einer der Flaschen Wein anzustellen, die aus Anlass des neuen Jahres verteilt wurden:

Die Stunden zogen still dahin wie graue Ratten, die in der Dunkelheit verschwinden. Aber ich blieb stehen und stehen und wiederholte bei mir: »Alles geht zu Ende, alles geht zu Ende …« Der Mond wurde dunkler, der Himmel grau, dann weiß, dann blau … Die Nacht war verstrichen. Um drei Uhr nachmittags erhielt ich die Flasche mit ihrem hübschen kleinen, funkelnden Verschluss.

Sie ging mit der Weinflasche sofort zu einem Straßenmarkt, wo es ihr gelang, sie bei einem Matrosen für ein großes Stück Brot einzutauschen. Zu Hause verbrachte sie den Abend gemeinsam mit ihrem Mann in grimmigem, teilnahmslosem Schweigen:

Dima stiehlt kein Brot mehr. Ganze Tage lang liegt er nun mit dem Gesicht zur Wand da … Sein Gesicht ist mit Ruß bedeckt – sogar seine feinen hellen Augenwimpern sind dicht und schwarz geworden. Ich kann ihn mir nicht mehr sauber, gepflegt und elegant wie früher vorstellen. Aber natürlich bin ich in keinem viel besseren Zustand. Läuse quälen uns beide. Wir schlafen zusammen, da wir nur ein Bett haben, aber sogar durch gefütterte Mäntel ist es unangenehm, die Berührung des anderen zu spüren.3

Leningrad trat in die Zeit des Massentodes ein. Laut Polizeiunterlagen hatten Hunger und die damit verbundenen Bedingungen – »Dystrophie« war eine Neuprägung – im Dezember 52881 Menschen (gewiss eine erhebliche Unterschätzung) von zweieinhalb Millionen der städtischen Zivilbevölkerung das Leben gekostet.4 Im Januar und Februar stiegen die offiziellen Zahlen auf Höchstwerte von 96751 und 96015, bevor sie allmählich fielen.

Der Anblick des Todes, Ende Dezember bereits eine Alltäglichkeit, wurde nun universell. »Heute früh«, schrieb eine führende Angstellte im Lenenergo-Kraftwerk, »ist der Vater von [Direktor] Tschistjakow gestorben. Er liegt immer noch auf seinem Sofa in Tschistjakows Büro. Neben ihm arbeitet und isst Tschistjakow weiter, und er ruht sich auf demselben Sofa aus. Kollegen und Besucher kommen und gehen – die Leiche stört niemanden.« Wie nach dem berühmten Ausbruch des Vesuv blieben die Leichen der vielen, die auf den Straßen zusammengebrochen waren, dort, wo sie waren: zusammengedrängt im Schutz von Torwegen oder eingeschneiten Straßenbahnen oder an Mauern und Zäune gelehnt. »Auf den Bürgersteigen«, schrieb Ostroumowa-Lebedewa am 18. Januar,

sind an den Wänden der Gebäude zahlreiche mit Sand gefüllte Holzkisten aufgestellt worden. Da es kein Wasser gibt, sind diese Sandkästen unser einziges Mittel zur Bekämpfung von Feuern. Heute ging ich die Straße entlang und sah eine sehr alte Frau auf einer der Kisten sitzen. Sie war tot. Ein paar Gebäude weiter, auf einer anderen Kiste, saß schlaff ein toter Junge. Er hatte sich erschöpft niedergelassen und war gestorben.

Vera Kostrowizkaja, Tanzlehrerin an der Mariinski-Ballettschule und Nichte des franko-polnischen Dichters Apollinaire, schilderte die allmähliche Plünderung einer Leiche, die gegenüber der Philharmonie an einem Laternenpfahl lehnte:

Mit dem Rücken am Pfosten sitzt ein Mann im Schnee, in Lumpen gehüllt und mit einem Rucksack auf den Schultern … Wahrscheinlich war er auf dem Weg zum Finnischen Bahnhof müde geworden und hatte sich zum Ausruhen hingesetzt. Zwei Wochen lang kam ich jeden Tag auf meinem Gang zum und vom Krankenhaus an ihm vorbei. Er saß da: 1. ohne seinen Rucksack, 2. ohne seine Lumpen, 3. in seiner Unterwäsche, 4. nackt, 5. als Skelett mit herausgerissenen Eingeweiden. Im Mai brachten sie ihn weg.5

Schock und Entsetzen versteckten sich hinter Galgenhumor. Die umhüllten Leichen, die, manchmal zu zweit, auf Schlitten, in Kinderwagen, auf Handkarren und Sperrholzbrettern durch die Straßen gezogen wurden, erhielten die Bezeichnung »Mumien« oder »Kokons«. Die usiljonnoe dopolnitelnoje pitanije oder UDP (»verstärkte Zusatzernährung«), die man den Sterbenden hin und wieder zuteilte, wurde zu umrjosch dnjom possche (»du wirst einen Tag später sterben«).6 Beim Abschied wünschten die Menschen einander, »nicht in den Gräben zu enden«, womit sie nicht die Schützengräben an der Front meinten, sondern die neu ausgehobenen Gruben auf den Friedhöfen. Die Soldaten, die auf den Straßen ihre Runden machten, um die auf den Bürgersteigen zurückgelassenen Leichen aufzusammeln, sprachen davon, dass sie »Blumen pflückten«, denn die Köpfe der Toten waren oft in bunten Stoff gewickelt, damit man sie unter dem Schnee leichter erkennen konnte.7 Leichen wurden auch in den Splittergräben der Parks abgeladen, die sich in improvisierte Massengräber verwandelten, nachdem man ihre Stützen als Feuerholz gestohlen hatte und sie allmählich in sich zusammensackten. All das wurde wie immer mit hämischer Freude vom deutschen Nachrichtendienst verzeichnet. Am 12. Januar hieß es in einer Meldung, dass auf dem Prospekt Statschek (einer langen Straße, die durch die südwestlichen Industriebezirke führt) sechs Menschen zusammengebrochen und gestorben seien, wonach man ihre Leichen habe liegen lassen. »Solche Fälle sind so häufig geworden, dass niemand ihnen Aufmerksamkeit schenkt. Ohnehin ist die allgemeine Erschöpfung so ausgeprägt, dass nur wenige Menschen wirkliche Hilfe leisten können.«8

Teils infolge des Rationierungssystems war die Sterblichkeit durch ein klares demografisches Muster gekennzeichnet. Im Januar waren 73 Prozent der Todesfälle männlichen Geschlechts, 74 Prozent waren Kinder unter fünf Jahren oder Erwachsene von mindestens vierzig Jahren. Im Mai bestand die Mehrheit – 65 Prozent – aus Personen weiblichen Geschlechts, während Kinder unter fünf oder Erwachsene von mindestens vierzig Jahren eine etwas kleinere Mehrheit – 59 Prozent – ausmachten. Kinder zwischen zehn und neunzehn Jahren stellten in den ersten zehn bis hundert Tagen 3 Prozent der Gesamtzahl, im Mai waren es 11 Prozent.9 Mithin starben Familienmitglieder typischerweise in dieser Reihenfolge: zuerst Großväter und Kleinkinder, dann Großmütter und Väter (wenn sie nicht an der Front waren) und zuletzt Mütter und ältere Kinder.

Eine ganze Familie war dann zum Untergang verurteilt, wenn ihr letztes mobiles Mitglied zu schwach wurde, um sich für die Rationen anzustellen. Die Haushaltsvorstände, gewöhnlich die Mütter, befanden sich dann in dem herzzerreißenden Dilemma, entweder selbst mehr zu essen, um auf den Beinen zu bleiben, oder die kränksten Familienangehörigen, gewöhnlich ein Großelternteil oder ein Kind, zu bevorzugen und damit das Leben aller zu riskieren. Dass viele oder die meisten ihren Kindern Priorität einräumten, ist an der großen Zahl von Waisen abzulesen, die zurückblieben. Die glücklicheren wurden in Kinderheimen untergebracht, während Nachbarn den unglücklicheren die Lebensmittelkarten abnahmen, so dass sie sich mit Straßendiebstählen durchschlagen mussten oder allein starben.10

Die physischen Symptome des Hungers, an denen die Mehrheit der Leningrader in unterschiedlichen Kombinationen litt, waren Abmagerung, wassersüchtige Schwellung der Beine und des Gesichts, Hautverfärbung (»Hungerbräunung« im Jargon der Zeit; man sprach davon, dass Gesichter »schwarz«, »blauschwarz«, »gelb« oder »grün« wurden), Magengeschwüre, Lockerung oder Verlust von Zähnen und Herzschwäche. Frauen hörten auf zu menstruieren, und sexuelle Begierde verschwand. Der Optikingenieur Dmitri Lasarew schilderte die Einzelheiten in seinem Tagebuch:

Seit Langem möchte ich niederschreiben, was jemand, der durch Hunger abgezehrt ist, durchmacht. Man schläft sehr wenig – sechs oder sieben Stunden. Nachts zieht man dauernd die Decken hoch, wickelt sie sich um den Körper, denn man friert unablässig. Die Kälte ergießt sich über das Rückgrat und den ganzen Körper. Die herausragenden Knochen schmerzen bald und zwingen einen, die Stellung zu wechseln. Währenddessen wird man von Hunger gequält, spürt die Leere seines Magens und schluckt krampfhaft den eigenen Speichel. Es ist schwierig, auch nur die unbedeutendste physische Bewegung zu vollziehen. Bevor man sich im Bett umdreht, braucht man lange, um seine Kräfte zu sammeln. Man wartet, zögert es hinaus. Im Geist wiederholt man die notwendige Abfolge der Aktionen ein ums andere Mal, bevor man sie tatsächlich beginnt. Der Morgen bricht an, und es ist sehr mühevoll, die Trägheit zu überwinden, aufzustehen und sich anzuziehen. Tagsüber sind die Bewegungen langsam, vorsichtig. Obwohl man warme Kleidung trägt, fröstelt man und wird von einem unangenehmen Geräusch in den Ohren verfolgt. Die Atmung und die Worte hallen wider wie in einem leeren Gefäß. Die Füße schwellen an, und tiefe Risse bilden sich in der Haut der Finger … Man existiert am Rande dessen, was sich abspielt. Zum Beispiel begegnet man in der Kantine einem Freund oder einem Kollegen und hat nicht die Energie, ihn zu begrüßen. Man betrachtet ihn träge, und er erwidert den Blick. Warum Energie auf Worte verschwenden?11

Lidia Ginsburg beschreibt eine Art vorzeitiges Altern, verbunden mit einer Entfremdung vom eigenen Körper:

… der Wille mischte sich nun auch in Dinge ein, mit denen er früher nie etwas zu schaffen hatte … Also, ich setze den rechten Fuß nach vorn, der linke bleibt hinten, hebt sich auf die Fußspitze, es beugt sich das Knie (wie schlecht es sich doch beugen läßt!), dann löst er sich vom Boden, bewegt sich durch die Luft nach vorn … Man muß schon achtgeben, wie er da nach hinten kommt, sonst könnte man noch hinfallen. Eine gräßliche Tanzstunde war das.

Noch kränkender war es, wenn man plötzlich das Gleichgewicht verlor. Es war nicht mehr Entkräftung, kein Schwanken aus Schwäche, sondern etwas ganz anderes. Ein Mensch will seinen Fuß auf den Stuhlrand stellen, um sich den Schuh zu schnüren; in diesem Augenblick verliert er das Gleichgewicht, es pocht in den Schläfen, das Herz setzt aus. Der Körper war seiner Kontrolle entglitten, und wie ein leerer Sack wollte er in eine unergründliche Tiefe stürzen.

Mit einem entfremdeten Körper geschehen einige abscheuliche Dinge: er verliert sein altes Gesicht, er sieht vertrocknet oder aufgedunsen aus; nichts erinnert dabei an eine gute alte Krankheit … Manche dieser Vorgänge nimmt der Betroffene nicht einmal wahr. »Aber er ist doch schon ganz aufgedunsen«, sagt man von ihm, dabei ahnt er selbst noch gar nichts davon … Plötzlich beginnt der Mensch zu begreifen, daß sein Zahnfleisch anschwillt. Voller Entsetzen fährt er mit der Zunge darüber, betastet es mit dem Finger. Vor allem nachts kann er lange nicht damit aufhören. Er liegt da und befühlt aufmerksam etwas Gefühlloses und Schlüpfriges, das gerade deshalb schrecklich ist, weil es nicht schmerzt: in seinem Mund ist eine Schicht toter Materie.12

In den letzten Stadien des Hungers wirkten die Betroffenen wie Skelette, mit hohlem Bauch, eingefallenen Wangen, hervorstehenden Kiefern und leerem, erschreckendem Blick. »Er bewegt seine in Filzstiefeln steckenden Beine«, schrieb Inber über einen Mann, der von zwei Frauen auf der Straße gestützt wurde, »als wären es Holzbeine. Er schaut unverwandt vor sich hin, wie ein Besessener. Die Gesichtshaut ist straff gespannt. Die Lippen sind halb geöffnet, und man sieht die Zähne, die vom Hunger länger geworden sind. Die Nase ist spitz, als wäre sie eingeschmolzen, und mit Eiterbeulen bedeckt. Die Nasenspitze ist ein wenig seitwärts gebogen. Jetzt weiß ich genau, was es bedeutet, ›vom Hunger benagt‹.«13

Den Januar und Februar hindurch gab das städtische Parteikomitee eine Flut von Anordnungen heraus: über die Herstellung von burschuiki, über Chlortabletten und Impfstoffe, über die »Rechenschaftspflicht« von Apothekenleitern, über die Sortierung nichtzugestellter Briefe, über die Lieferung von Kissen und Bettwäsche an Waisenhäuser, über die Bildung von Klempnerteams für die Reparatur der Kanalisation, über die Lieferung von 13000 Paar Baumwollsocken an ein Krankenhaus. Alle Anordnungen fielen in ein Vakuum.

Unter den zahlreichen Behörden, die nicht mehr funktionieren, befand sich auch der Feuerwehrdienst. Gebäude, die durch Bombardierung, hausgemachte Öfen oder durch Späne und Holzsplitter (die man zur Beleuchtung verwandte, nachdem das Petroleum für »Fledermäuse« und »Räucherlampen« ausgegangen war) Feuer gefangen hatten, brannten tagelang. Das Gesundheitswesen war ebenfalls völlig überfordert. »Im Krankenhaus des 25. Jahrestags des Oktobers«, stand in einem Bericht vom 12. Februar an Karpow, den Chef des Stadtsowjets,

ist das Bettzeug seit dem 2. Februar nicht mehr gewaschen worden … Die Stationen sind unbeheizt, weshalb einige Patienten in die Korridore gebracht wurden, wo es provisorische Öfen gibt. Infolge der sehr niedrigen Temperaturen hüllen Patienten sich nicht nur in Krankenhausdecken, sondern benutzen auch schmutzige Matratzen und ihre eigenen Mäntel … Die Toiletten funktionieren nicht, und die Fußböden werden nicht gescheuert.

Von den 181 Ärzten des Krankenhauses erschienen nur 27 zum Dienst, von den 298 Krankenschwestern nur 163, und über tausend Leichen mussten entfernt werden. Im Rauchfuß-Kinderkrankenhaus, in dem an manchen Tagen überhaupt nicht geheizt wurde, teilten sich zwei oder drei Patienten ein Bett; seit sechs Wochen hatte man sie nicht gewaschen und auch ihre Bettwäsche nicht gewechselt, weshalb alle verlaust waren. In der Leichenhalle und in Vorratskammern hatten sich 299 Tote angesammelt.14 Ein Stapel von Leichen wuchs auch am Hintereingang des Erisman-Krankenhauses an der Karpowka – der Überschuss aus der Leichenhalle sowie Tote aus der Nachbarschaft, die dort von ihren Verwandten abgelegt worden waren. »Jeden Tag«, schrieb Inber,

werden mit Handschlitten acht bis zehn Leichen hergeschafft. Da liegen sie im Schnee. Die Särge werden immer rarer, woraus soll man sie auch herstellen? In Bettlaken, Tischtücher, Fetzen, Flanelldecken, mitunter auch in Portieren gehüllt, liegen die Leichen da. Eines Tages sah ich eine kleine, offenbar sehr leichte Kinderleiche, in Packpapier eingewickelt und mit Bindfäden umschnürt.

Das alles liegt unheilverkündend im Schnee. Hier und da ragt ein Arm oder Bein aus dem Schnee hervor. In diesem bunten Lappen scheint noch Leben zu glimmen. Aber die Reglosigkeit ist die des Todes. Das alles erinnert an eine Schlacht und zugleich an ein Nachtasyl.15

Dmitri Lasarew, der im Erisman-Krankenhaus von einem Freund Abschied nahm, sprach von überquellenden Toiletteneimern – »Honigeimern« – und davon, dass die einzige Pflege von Besuchern vorgenommen wurde.16 Am 15. Januar ging die Leichenhalle in Flammen auf; die Ursache waren die noch glimmenden gefütterten Baumwolljacken von Arbeitern, die in einem Fabrikfeuer gestorben waren. Insgesamt starben laut Angaben des städtischen Gesundheitsamtes 40 Prozent der Patienten, die im ersten Quartal 1942 in die dreiundsiebzig Krankenhäuser Leningrads eingeliefert wurden. Große Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Institutionen – das Karl-Marx-Krankenhaus meldete eine Sterblichkeitsziffer von 84 Prozent unter den im Januar aufgenommenen Patienten, das Zweite Kinderkrankenhaus des Oktoberbezirks dagegen nur 12 Prozent – lassen vermuten, dass die Zahlen keineswegs vollständig waren.17

Marina Jeruchmanowa beobachtete die rasche Verschlechterung der Bedingungen in dem zum Krankenhaus gewordenen Hotel Jewropa. Am 16. November hatte eine knapp außerhalb des Haupteingangs landende Bombe die Stromversorgung – und damit Heizung, Beleuchtung, Herde und Fahrstühle – ausgeschaltet. Der letzte Luxus aus Friedenszeiten – zum Beispiel gestärkte Tischdecken und weiße Kellnerjacken – verschwand rasch, doch das Krankenhaus funktionierte recht normal bis zum Neujahr, als das fließende Wasser ausfiel und die Toiletten zufroren. Danach kam es zu einem raschen Niedergang, der ins Elend und in die Unordnung führte. Patienten verrichteten ihre Notdurft auf der Haupttreppe, die zu einem »gelben Eisberg« wurde, richteten einen Schwarzmarkt im Restaurant der zweiten Etage ein und beraubten das Personal – viele Angestellte wie Marina und ihre Schwester waren sanft erzogene »Turgenew-Mädchen« –, das durch die dunklen Gänge Nahrung auf die Stationen brachte. Schtrafniki – dunkelhäutige Soldaten mit funkelnden Augen aus dem 16. Strafbataillon, zumeist frühere Häftlinge – nahmen die elegantesten Zimmer in Beschlag, hefteten sich Teppiche über die Schultern und verdrehten die Samtvorhänge zu Turbanen »wie die Mannschaft eines Piratenschiffs«. Ein Konzertflügel wurde nach und nach auseinandergenommen, denn sein Mahagonigehäuse diente als Feuerholz, und der »östliche« Speisesaal mit seinen Buntglas-Langbooten verwandelte sich in eine Leichenhalle.

Am 4. Januar brach Marina mit Magenschmerzen zusammen. Zuvor hatte sie tagelang Fünfzehnstundenschichten gearbeitet, in denen sie Eimer heißen Wassers vier Treppen hoch über eisbedeckte Stufen getragen hatte. Eine freundliche Krankenschwester brachte die Mädchen und ihre Mutter im Obergeschoss in einem der ehemals billigeren Hotelzimmer unter. Die Wände waren graublau gestrichen und mit farnartigem Raureif bedeckt, denn die Innentemperatur betrug –11 °C. Der Raum wurde nur dadurch bewohnbar, dass Marinas Mutter eine Halbliterflasche Alkohol in der früheren Apotheke des Hotels entdeckte. Mit einer Hälfte davon kauften sie suchari, und mit der anderen bezahlten sie einen Mann, der aus einem Eimer eine burschuika für sie herstellte. Beheizt mit zerbrochenen Möbeln und den alten Personalakten des Hotels – Marina und ihre Schwester sichteten Bewerbungsschreiben von längst verschwundenen Weinkellnern und Konditoren, bevor sie die Papiere in die Flammen warfen –, machte der Ofen das Zimmer zur »Arche« der Jeruchmanowas. Zwei Krankenschwestern zogen ein, eine davon mit ihrer alten Mutter. Finstere Äußerungen waren nicht erlaubt, und alle zogen sich täglich nackt aus, damit sie ihre Kleidung gegenseitig nach Läusen durchsuchen konnten. Doch die »Arche« konnte nicht alle tragen. Ein Cousin, der zwölfjährige Ljoscha, kam Anfang des neuen Jahres zu Besuch:

Der kleine Junge hatte das letzte Hungerstadium erreicht. Er war ein einziges Ödem – die Flüssigkeit hatte seinen Körper so sehr anschwellen lassen, dass es schien, seine Haut werde nicht standhalten … Wir richteten ihn irgendwie auf und gaben ihm etwas zu essen. Wie eine festgefahrene Schallplatte wiederholte er ständig, dass er innerhalb einer Woche sterben werde, seine Mutter vielleicht noch eher, und so weiter und so weiter. Wir saßen da und hörten ihm zu, doch unsere Gefühle waren so abgestumpft … Wir lebten nur, um zu leben. Gedanken und Emotionen kamen zum Stillstand.

Überall in der Stadt kamen die Institutionen – Schulen, Fabriken, Banken, Postämter, Polizeireviere, Universitäten – auf ähnliche Weise zum Stillstand, obwohl Mitarbeiter, die noch genug Kraft besaßen, weiterhin wegen der Wärme, der Kameradschaft und der Chance auftauchten, in der Kantine einen Teller Wassersuppe zu erhalten. »Morgens«, schrieb Lasarew über sein Optikinstitut, »saßen wir schweigend, mit gebeugtem Kopf, um den Ofen herum. Stundenlang, ohne uns zu bewegen, ohne ein Wort. Wenn das Feuerholz verbraucht war, brannte der Ofen nicht mehr. Obgleich sich auf dem Hof ein großer Holzstapel befand, war niemand mehr in der Lage, Scheite zu hacken und sie die Treppe hinaufzutragen. Stattdessen warteten wir in der Kälte bis zum Mittagessen. Danach gingen wir heim.« Als Erste (zum Beispiel in Georgi Knjasews Wissenschaftlergebäude und in Olga Gretschinas Wohnblock) hielten die Angehörigen des Hilfspersonals nicht mehr stand. »Die alte Putzfrau ist gerade an Hunger gestorben«, schrieb er am 25. Dezember. »Noch vorgestern hat sie meinen Schreibtisch abgestaubt. Anscheinend ging sie nach Hause, legte sich aufs Bett, streckte die Arme aus, seufzte und starb. Heute, als ich das Labor betrat, sah ich die Leiche unseres kürzlich verstorbenen Wächters im Nachbarzimmer.«

Im Unterschied zu der Putzfrau hatte Lasarew Zugang zum Wissenschaftlergebäude, einem Club für Hochschullehrer. Dies war ein im neunzehnten Jahrhundert entstandenes Bauwerk mit einer prächtigen porte-cochère, unweit der Eremitage an der Newa. Im September hatte man dort über die Rationen hinaus noch piroschki, Kaffee und Kartoffeln erhalten können, doch nach der Straffung der Vorschriften für den Lebensmittelverkauf wurden nur noch Suppe und süßer Tee angeboten. »In dem eiskalten Saal«, schrieb Lasarew,

windet sich eine lange Schlange die Marmortreppe hinauf. Die Menschen stehen schweigend da und warten. Fast jeder trägt eine Aktenmappe über der Schulter; darin verbirgt sich ein Behälter, in dem eine Mahlzeit zur Familie heimgebracht werden soll. Das Warten scheint endlos zu sein. Besonders kühl ist es, wenn man neben dem massiven Marmorgeländer steht, denn von ihm geht eine merkliche Kältewelle aus. Endlich sind wir an der Reihe, und wir betreten die Kantine. Durchgefroren, in Pelzmänteln und Hüten, setzen wir uns an die freien Tische. Nach einiger Zeit beginnt ein flüchtiges Gespräch. Ein Zoologe, hochgewachsen und früher übergewichtig, beschwert sich darüber, dass Personen von unterschiedlicher Größe die gleiche Lebensmittelmenge zugeteilt wird. »Hört mir zu, größere Männer …«, aber niemand achtet auf ihn, denn Katjuscha nähert sich unserem Tisch mit ihrer Schere und der Streichholzschachtel für die Gutscheine. Sie ist unsere Lieblingskellnerin, denn sie scheint die Gäste schneller zu bedienen und ihre Portionen sind ein wenig größer. Die Menschen kommen mit ihren eigenen Tellern und Löffeln in die Kantine. Der angesehene grauhaarige Professor leckt seinen Teller sauber, bevor er ihn in seine Gasmaskentasche steckt.18

Lasarew selbst erkrankte im Frühjahr schwer und wurde nur durch die glückliche Versetzung auf einen Minenleger gerettet, durch die er anständige Mahlzeiten bekam und seiner Frau und Tochter seine Lebensmittelkarten überlassen konnte.

Das Leningrader Parteikomitee schloss im Winter offiziell 270 Fabriken, doch die meisten erfüllten ohnehin kaum ihren Zweck, und auch die letzten verbliebenen Rüstungswerke konnten nur noch unregelmäßige Reparaturen verrichten.19 Olga Gretschina, die durch den Tod ihrer Mutter im Januar verwaist war, stand nachts Wache in ihrer stillgelegten Raketenfabrik. Allein in den leeren Werkhallen, verbannte sie ihre Furcht, indem sie H.G. Wells’ Krieg der Welten im Licht einer »Fledermaus« las (die diensthabende Person erhielt das beste Buch, damit sie sich von den Ratten, die »widerlich und unaufhörlich« über die Betonfußböden eilten, ablenken konnte). Wenn sie nicht im Dienst war, saß sie in der Wärme des Pförtnerzimmers und löste Kiefernnadeln, die für die Herstellung von Vitamin-C-Getränken verarbeitet werden sollten, von den Zweigen. Dies war eine weitere Nahrungsergänzung, welche die Forstakademie ersonnen hatte. Für diese Tätigkeit wurde Olga jeden Morgen um zwei Uhr mit einer einzigen Mahlzeit (Suppe und Brei) bezahlt.

Von den 270 Arbeitern der Werkhalle 15 von Wassili Tschekrisows Sudomech-Werft waren 47 bis Ende Januar gestorben. »Wie viele im Februar umkommen werden, weiß niemand. Nur siebzig erscheinen zum Anwesenheitsappell in der Fabrik oder in der Kantine. Alle anderen sind bettlägerig … Geschickte Facharbeiter, das Rückgrat des Werkes, sind gestorben … Nur ein paar Männer führen Reparaturen aus, und man kann eigentlich nicht von Arbeit sprechen. In Wirklichkeit treten sie nur auf der Stelle.«20 Die üblichen strengen Strafen für die Abwesenheit vom Arbeitsplatz hatten keine Wirkung mehr. In der Marti-Werft wurde Anfang Februar in einem Bericht an Schdanow geklagt:

Hunderte erscheinen nicht zur Arbeit, und niemand schenkt dem die geringste Aufmerksamkeit. Jeden Tag steigt die Zahl der unerlaubt Abwesenden … Nachdem das Bezirksparteikomitee der Werksleitung mitgeteilt hatte, dass Bummler durch ihr Verhalten geschützt würden, ging man im Lauf von zwei Tagen gerichtlich gegen 72 Abwesende vor. Aber damit waren die Fehler [der Werksleitung] noch nicht beendet. Von den 72 Fällen musste die Hälfte wegen Beweismangels eingestellt werden.21

Das Hochschulleben setzte sich erstaunlich lange fort. Der Iranologe Alexander Boldyrew hielt Ende Dezember immer noch Seminare in der Eremitage ab (und tadelte seine Studenten, wenn sie schlechte Arbeit leisteten). Der Kunsthistoriker Nikolai Punin tat bis Ende November das Gleiche. Im Erisman-Krankenhaus hielt der Pathologe Wladimir Garschin während der Luftangriffe Vorlesungen und führte am Ende des Wintersemesters, während viele seiner Studenten in ihren Wohnheimen starben, Prüfungen durch. (Ihm fiel auf, dass die ledigen Männer als Erste zusammenbrachen, während Mädchen und Ehepaare länger durchhielten.) Die einzige Methode zu überleben, dachte er, bestehe darin, weiterzuarbeiten:

Also erfinden wir Beschäftigungen für die Laborassistenten, nur damit sie etwas zu tun haben. Es ist schlecht, wenn man aufhört zu arbeiten und sich hinlegt, denn es gibt keine Garantie dafür, dass man wieder aufsteht. Eine der Assistentinnen starb direkt im Labor. Sie wurde am Morgen unter einem warmen Schal gefunden, zusammengekrümmt und mit neuen Filzstiefeln an den Füßen. Sie hatte nicht heimfahren können, weil ihre Wohnung zu weit entfernt war. Der Ehemann einer anderen Assistentin kam während eines Artilleriesperrfeuers auf der Straße um. Sie nahm sich zwei Tage frei und kehrte dann an die Arbeit zurück; ihr von Wassersucht geschwollenes Gesicht war durch die Tränen noch aufgedunsener. Sie schweigt. Geht die Arbeit weiter? Ja, irgendwie. Am wichtigsten ist es, nicht aufzugeben. Die Examina finden statt, und ich nehme die mündlichen Prüfungen ab – ihre Leistungen sind nicht schlecht! Also ist von den Vorlesungen doch etwas hängen geblieben! Und die Prüferin, meine Assistentin, befragt sie gründlich, aber sanft. Woher haben sie die Kraft?22

Vera Inber war dabei, als der Chefarzt des Erisman-Krankenhauses seine Dissertation im Luftschutzkeller verteidigte; sein Erfolg wurde später mit verdünntem Spiritus begossen.23

Besonders die bekannteren Institutionen lieferten auch an den schlimmsten Tagen des Winters eine trotzige, fast surreale Imitation des normalen Lebens. Am 9. Februar nahm Inber an einer zweitägigen Konferenz baltischer Autoren teil, die der Schriftstellerverband organisiert hatte. Um sich vorzubereiten, stopfte sie zusätzliche Handschuhe und Strümpfe, tauschte vier Kantinenmahlzeiten gegen zwei Eier und ein kleines Stück trockenen Käse ein und holte einen Schokoladenriegel aus ihrem privaten Lebensmittelvorrat hervor. Der Weg vom Erisman zum Konferenzort, normalerweise ein angenehmer Spaziergang von der Petrograder Seite zur Wassiljewski-Insel, nahm nun zwei Stunden in Anspruch. Dabei kam sie an eingeschneiten Straßenbahnen, einem Gebäude, das unbeachtet die ganze Nacht gebrannt hatte, und einer Straße vorbei, die durch einen beschädigten Feuerhydranten überflutet worden war; über dem ausgeflossenen Wasser erhoben sich Dampfschwaden, die die Morgenröte einfingen. Am Ende eines von Lesungen, Berichten und Reden erfüllten Tages zog sie sich in ein Etagenbett zurück, das man im verräucherten Konferenzsaal hinter einem Vorhang aufgestellt hatte. In den frühen Morgenstunden wurde sie durch das Geräusch von krachendem Holz geweckt. »Es war Z., der den Stuhl, auf dem er während der Konferenz gesessen hatte, mit einer Axt demolierte. Ich schaute zu, wie er die Stücke in den Ofen warf – unglückselige Leningrader Stühle! Dann wärmte ich mich auf und schlief wieder ein.«

In der Akademie der Wissenschaften musste Georgi Knjasew – mehr denn je auf seinen »kleinen Radius« beschränkt, weil die Kälte seinen Rollstuhl funktionsunfähig gemacht hatte – hilflos mit ansehen, wie seine Untergebenen, die er kurz zuvor noch mit einer Rede aufgemuntert hatte, um ihn herum starben. Am 5. Januar schrieb er, Schachmatowa Kaplan und ihr sechzehnjähriger Sohn Aljoscha seien der Dystrophie zum Opfer gefallen. Der Junge, ein begabter Astronom, habe vielleicht sogar das Zeug zum Akademiemitglied gehabt. Dies war eine besonders betrübliche Nachricht für Knjasew und sein Personal. Am folgenden Tag hielt die Kommission für die Geschichte der Akademie der Wissenschaften ihre planmäßige Sitzung ab, auf der er einen Bericht (»vielleicht meinen letzten«) über »Die Geschichte der Abteilungsleiter während der Existenz der Akademie (1925–1941)« präsentierte. Während seines Vortrags lag »ein armer Wicht«, dem man bereits die Stiefel ausgezogen hatte, draußen auf dem Hof.

Knjasew vertraute seinem Tagebuch an, dass es mittlerweile fast unmöglich sei, die Fassung zu wahren:

Wie man gute Miene zu bösem Spiel macht, so setze ich in Gegenwart anderer ein Lächeln auf, sage nur zuversichtliche Worte und versuche, die Stimmung zu heben … Und nur hier, auf diesen Seiten, erlaube ich mir, mich gehenzulassen. Hier zeige ich mein wahres Gesicht.

Ich habe Frau Smikul getroffen, deren fünfzehnjähriger Sohn gerade gestorben ist, ein bescheidener Junge namens Wowa. Sie ist untröstlich in ihrem Leid und ihrer Verzweiflung – und all das sind klägliche Worte im Vergleich zum Ausdruck ihrer Augen, den eingefallenen Wangen und dem zitternden Kinn. Ich habe sie umarmt und sie an mich gedrückt – das war alles, was ich tun konnte.24

In der Eremitage waren die Angestellten mit ihren Familien – insgesamt rund zweitausend Menschen – dauerhaft in zwölf Luftschutzbunker in den Kellern des Palastes gezogen. Dort schliefen sie auf Holzpritschen, die unpassenderweise von alten turkmenischen Teppichen und vergoldeten Möbeln umgeben waren. Da man die Fenster im Halbparterre zugemauert hatte, blieben die Räume sogar tagsüber nahezu pechschwarz. Ein Zimmer, das Büro des Museumsdirektors Jossif Orbeli, wurde durch ein Kabel von Zar Nikolaus’ alter Vergnügungsjacht Polarstern, die draußen auf der Newa vertäut war, mit Strom versorgt. Sonst ging das einzige Licht von Ikonenlämpchen und »Fledermäusen« aus, die, wie in einem Bericht behauptet wird, mit Seehundsöl aus dem Zoo betrieben wurden. Mehrere weibliche Mitarbeiter, bemerkte Boldyrew, holten verschämt ihre Hochzeitskerzen hervor, also die langen, mit Bändern verzierten Bienenwachslichter, die Braut und Bräutigam während der traditionellen orthodoxen Heiratszeremonie in den Händen hielten.

Eine der berühmtesten, der Blockade zum Trotz abgehaltenen Veranstaltungen war ein Symposium, das Mitte Dezember in der Eremitage stattfand und dem fünfhundertsten Geburtstag des timuridischen Dichters Alischer Nawai geweiht wurde. Man veranstaltete eine Ausstellung von Porzellanprodukten, die mit Szenen aus Nawais Gedichten bemalt waren (ein Künstler der Kaiserlichen Russischen Porzellanmanufaktur, Michail Moch, fertigte eine Schüssel im Stil einer Mogulminiatur an), Alexander Boldyrew hielt einen Vortrag, und sein Kollege Nikolai Lebedew, so schwach, dass er sitzen bleiben musste, las aus seiner neuen Nawai-Übersetzung. Im Publikum saß auch Boldyrews alte Mutter, die darauf bestand, ein kleines Stück Brot mit Schweinefett zur offiziellen Mahlzeit beizusteuern. Es spielte keine Rolle, erzählte einer der Teilnehmer, dass kein einziger Usbeke anwesend war, denn das Ereignis diente als »Herausforderung an den Feind. Licht kämpfte gegen Finsternis.«25 Der stets realistische Boldyrew hielt den Auftritt seines alten Freundes Lebedew für »schlecht und desorganisiert«, die Übersetzung selbst jedoch für »wunderbar! In der glänzenden, klaren Sprache von Puschkins Märchen«. Auch sein eigener Vortrag sei der Mühe wert gewesen: »In der Arbeit sind in unseren Tagen das einzige Glück und die einzige Befriedigung zu finden. Je schlimmer die physische Situation ist – jedenfalls bis zu einem gewissen Grade –, desto klarer und frischer agiert unser Geist.«26

Zwei Monate später erfuhr Boldyrew von Lebedews Tod durch Hunger und Ruhr. Er hatte seinen Freund zum letzten Mal zwei Wochen vorher, im Keller der Eremitage, gesehen:

Seine Frau und er lagen in kalter, völliger Dunkelheit in der unterirdischen Hölle des Kellers (Schutzraum Nr. 3). Er erkannte mich an meiner Stimme und griff nach mir wie ein Ertrinkender nach einem Strohhalm. Sie gaben mir 250 Rubel und flehten mich an, auf dem Markt für sie Brot und Kerzen zu kaufen … Seine letzten Worte an mich lauteten: »Wie ich leben möchte, Sandrik, wie ich leben möchte!« Er sprach mit seiner erstaunlichen, melodischen Stimme, mit der er seine herrlichen, musikalischen Übersetzungen so unvergleichlich vortrug … Zu jenem Zeitpunkt war ich selbst zu niedergedrückt, um wirkliche Hilfe zu leisten, und ich konnte ihm nichts kaufen. Besser gesagt, Galja, die gelegentlich auf den Markt ging, schaffte es nicht, weil ihr die Kraft fehlte. Außerdem wurde Brot ohnehin nicht für Geld verkauft.27

Ebenfalls als Manifestation des trotzigen Leningrader Geistes wird die Tatsache gefeiert, dass Dutzende der Theater und Konzertsäle geöffnet blieben. Das Theater für Musikalische Komödien bot fast den ganzen Winter hindurch ein Programm an, und unter den kristalllosen Kronleuchtern der Philharmonie wurden bis in den Dezember hinein Konzerte abgehalten. (Von den Streichern konnten, wie ein Zuschauer bemerkte, nur die Kontrabassisten Schaffellmäntel tragen, die übrigen mussten sich mit gefütterten Baumwolljacken begnügen, in denen sie die Arme ungehindert bewegen konnten.) Insgesamt sollen die Leningrader im Lauf der Blockade über 25000 öffentliche Vorführungen verschiedener Art besucht haben, und das Bild von Künstlern, die sich der Kriegsarbeit widmeten – Schostakowitsch auf dem Dach des Konservatoriums, Achmatowa vor dem Scheremetjew-Palast Wache stehend, Primaballerinen, die Tarnnetze nähten –, ist eines der wichtigsten Motive der Belagerung.

Nicht alle Leningrader reagierten ohne Zynismus. Wie ein Tagebuchschreiber über ein Konzert des großen Geigers David Oistrach anmerkt (er wurde zu diesem Anlass aus Moskau eingeflogen), habe das Publikum nicht aus den üblichen Vertretern der Intelligenzija bestanden und ungewöhnlich gesund gewirkt. Seine Frau und er hätten bei Weitem »dystrophischer« ausgesehen als alle anderen Anwesenden.28 Sogar ein inbrünstiger Stalinist wurde beim Anblick der Menschenscharen, die sich im März 1942 nach Karten für eine Operette (H.M.S. Pinafore) drängten, an Brot und Spiele erinnert.29 Einer der bittersten Einträge in einem Belagerungstagebuch stammt von Vera Kostrowizkaja, der Tanzlehrerin in der Mariinski-Ballettschule:

Da es im April notwendig wurde, die Wiedergeburt der Stadt durch Halbtote darstellen zu lassen, hatte L.S.T. [die Schuldirektorin] den müßigen Einfall, dass unsere Schule – oder, genauer gesagt, was von ihr übrig war – [im Frühjahr] die erste öffentliche Vorstellung in der Philharmonie geben solle.

Einige der Mädchen waren dank glücklicher häuslicher Umstände noch relativ gesund, aber alle litten an Skorbut. Die begabteste, Ljusja Alexejewa, konnte die Klassiker nicht tanzen – ihre Beine, mit blauen Flecken bedeckt, wollten ihr nicht gehorchen und gaben nach.

Ich unterrichtete L.S.T. über die Situation. Als Antwort kamen wütende Schreie und Drohungen. Denen, die sich weigerten zu tanzen, würde sie die Lebensmittelabschnitte für den nächsten Monat vorenthalten.

Die Vorstellung fand statt. Wir zeigten sogar den »sterbenden Schwan« und anderen Ballettunsinn. Petja, den ich so schminkte, dass er wie ein lebendiger Mensch aussah, »tanzte« zwei Nummern. Um ihn zu stärken, brachten ihm die Mädchen Brot und Kascha. Ich führte ihn auf die Bühne und versuchte, ihm nicht beim »Tanzen« zuzusehen. In der Pause sank er in meinen Armen zusammen und erbrach die Kascha, die er gegessen hatte.

Zu der Vorstellung erschien kein öffentliches Publikum, denn es gab in der Stadt keines mehr. Die beiden ersten Reihen waren mit Kunstadministratoren und Vertretern des Smolny und der Parteiorganisationen gefüllt. Während des Entreakts glänzte L.S.T., die ihr Haar rot gefärbt hatte und wie ein Modell gekleidet war; sie nahm Glückwünsche entgegen und bekundete unnatürlich laut ihre Liebe zu den Kindern, deren Leben sie den Winter hindurch gerettet habe.

Petja starb kurz darauf in einem Waisenhaus, und L.S.T. – eine gewisse Lidia Semjonowna Tager – stellte immer wieder neue Hüte und Pelzmäntel zur Schau, gekauft mit Lebensmitteln, die sie sich als Frau des Versorgungschefs der Leningrader Front verschaffen konnte.30

Die seltsamste Geschichte einer Leningrader Institution ist vielleicht die des Zoos, einer kleinen, bezaubernden Anlage, die in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gegründet worden war und sich auf der Petrograder Seite hinter der Peter-und-Paul-Festung befand. Der Zoo hatte achtundfünfzig seiner wertvollsten Tiere nach Kasan evakuiert, bevor sich der Belagerungsring schloss. Andere Tiere waren durch die ersten Luftangriffe getötet worden. Statt die Schlachtung und den Verzehr der übrigen Tiere anzuordnen, teilte der Stadtsowjet dem Zoo eine Sonderration Heu und Wurzelgemüse zu, mit deren Hilfe das Personal, das außerordentliche Hingabe und hohen Einfallsreichtum bewies, fünfundachtzig Tiere im ersten Belagerungswinter am Leben erhielt. Man fand heraus, dass Füchse, Hermeline, Waschbären und Geier dazu gebracht werden konnten, eine »Gemüsemischung« aus Kleie, duranda und Kartoffeln zu fressen, wenn sie zuerst in etwas Blut oder Knochenbrühe eingeweicht wurde. Für wählerische Tiger, Eulen und Adler musste man das Gemisch erst in Kaninchen- oder Meerschweinchenhäute einnähen. Als der Zoo im folgenden Sommer wieder eröffnet wurde, wurden einige der überlebenden Tiere – Verotschka, der Rabengeier, Matrose, die Nilgai-Antilope, und Grischka, der Bär – zu Berühmtheiten. Der unumstrittene Star jedoch war das Nilpferdweibchen Krassawiza (Schönheit). Es handelte sich um das einzige Nilpferd in der Sowjetunion, und Krassawizas treue Pflegerin Jewdokia Daschina brachte sie durch den Winter, indem sie sie täglich mit vierzig Eimern voll warmen Wassers wusch, die mit der Hand von der Newa heraufgeschleppt werden mussten; außerdem rieb sie ihre sackartige graue Haut mit Kampferöl ein, damit sich keine Risse darin bildeten.31 Ein Foto von 1943 zeigt Krassawiza und Daschina gemeinsam in einem schlammigen Gehege. Daschina hält ein Stück Gemüse in der Hand, das Nilpferd lässt das Kinn auf dem Boden ruhen und schielt mit einem kleinen, bewimperten Auge in die Kamera. Hinter dem massigen Tier sitzt eine Reihe von Kindern mit großen Knien und geschorenen Köpfen auf einem Zaun.

Solche Erfolge wirkten jedoch nur wie kleine Funken in einer alles einhüllenden Dunkelheit. Typischer für den Zustand der Stadt waren die Aktivitäten des Bestattungstrusts, der für die Leichenhallen und Friedhöfe zuständigen Behörde.32 In den ersten Kriegsmonaten waren die rund 250 Mitarbeiter, zwölf Motorfahrzeuge und vierunddreißig Pferde relativ gut mit dem erhöhten Arbeitspensum fertig geworden. 3688 Beisetzungen – nicht viel mehr als in der Vorkriegszeit – fanden im Juli 1941 statt, 5090 im August, 7820 im September, 9355 im Oktober und 11401 im November. Zwei von acht geplanten Friedhöfen – in Erwartung zahlreicher Opfer durch die Luftangriffe – entstanden auf der falschen Seite der Front, 80 bis 85 Prozent der Toten wurden in den Leichenhallen von Angehörigen identifiziert und auf traditionelle Art begraben, während die Polizei die übrigen registrierte und fotografierte.

Seit Dezember brach das Verfahren jedoch völlig zusammen, als die Schlitten mit den »Mumien« die Hauptstraßen zu den großen vorstädtischen Friedhöfen füllten. Dort waren die Angestellten (von denen sechsundvierzig im Winter starben) den Anforderungen nicht gewachsen, was Gelegenheiten für »Friedhofswölfe« schuf, die Brechstangen mitbrachten und anboten, Gräber für Brot oder Geld auszuheben. Särge konnten vorübergehend gemietet werden, ebenso wie Gräber, in denen man Tote kurzfristig ablegte, bevor sie mit den übrigen in Gräben geworfen wurden. Eine Frau, die ihren toten Vater im März auf dem Serafimowskoje-Friedhof beisetzen wollte, konnte sich kein Einzelbegräbnis leisten, sprach jedoch mit den Arbeitern ab, dass sie ihn für fünfundzwanzig Rubel nicht in der Mitte, sondern am Rand eines Massengrabes platzieren würden, wovor sie ihn zuerst aus seinem Sarg entfernen mussten. Auf dem Weg nach draußen bemerkte sie ein Beispiel makaberen Friedhofhumors: Eine Leiche war mit einer Zigarette im Mund aufgerichtet worden und zeigte mit einem gefrorenen ausgestreckten Arm in Richtung des Massengrabes.33

Immer häufiger drangen die Verwandten jedoch nur bis zu den neuen provisorischen Leichenhallen vor. Diese waren in jedem der fünfzehn Stadtbezirke eröffnet worden, um die Trauerprozessionen auf den Straßen zu verkürzen. Nach Angaben der Verwaltung machten sie »einen schlechten Eindruck auf die Bevölkerung«. Wie eine solche Bestattung ablief, wird anschaulich von dem Optikingenieur Dmitri Lasarew beschrieben, der seinen toten Schwiegervater Ende Januar beerdigen lassen wollte:

Der Hausverwalter notierte die Wegbeschreibung zur Bezirksleichenhalle an der Gluchaja-Selenina-Straße mit Bleistift auf einem Zettel. Er gab uns einen Schlitten und warnte uns, dass Leichen, wenn sie nicht in einem Sarg lägen, jetzt nur noch nach 20 Uhr durch die Straßen gefahren werden dürften. Sogar für diese Jahreszeit war es ungewöhnlich kalt: 35 Grad unter null. Nina, Nika und ich banden den Toten mit Handtüchern an ein Brett und schoben ihn mühsam die dunkle Treppe hinunter. Nina blieb zu Hause, um die Kinder ins Bett zu bringen; Nika und ich schleppten den Schlitten zur Gluchaja Selenina … Zuerst zogen wir gemeinsam, dann wechselten wir uns ab, damit der andere den Rücken zum Wind drehen und Gesicht und Hände für eine Weile aufwärmen konnte. Die Strecke – in Wirklichkeit recht kurz – schien endlos zu sein.

Schließlich erreichten wir die Tore der Leichenhalle, die früher als Feuerholzlager gedient hatte. Die Frau an der Tür, ebenfalls halb tot vor Kälte, wollte Feierabend machen und sagte mit leidender Stimme, wir sollten uns beeilen. Wir zerrten den Schlitten auf einem schmalen geräumten Pfad durch den Hof zu einem großen Schuppen. Nachdem wir die Tür weit geöffnet hatten, sahen wir im Mondlicht einen Berg von Leichen, halb angezogen oder in Laken eingenäht und aufgehäuft, als wären sie Feuerholz. Ungeduldig deutete die Frau an, dass der Neuankömmling oben auf den Berg geworfen werden solle … Niemand sonst war anwesend, und sie, offensichtlich nicht bereit, uns zu helfen, blieb abseits stehen. Wir banden die Leiche von dem Brett los und versuchten vergeblich, sie anzuheben – unseren erschöpften Muskeln fehlte die Kraft. Uns blieb nichts anderes übrig, als sie hinaufzuzerren. Am leichtesten war es, sie an den Beinen zu packen. Stolpernd kletterten wir hinauf, wobei wir auf schlüpfrige, zu Eisblöcken gefrorene Bäuche, Rücken und Köpfe traten. Trotz der Kälte herrschte ein erstickender Gestank. Als uns die Kraft völlig ausgegangen war, lagen Kopf und Schultern des armen Wladimir Alexandrowitsch immer noch draußen. Die Frau drückte die Tür des Schuppens gegen seinen Kopf und versuchte, sie zu schließen. Wir mussten höher klettern, doch wir schafften es nicht. In unserer Verzweiflung machten wir eine ruckartige Bewegung, und die Leiche rutschte seitwärts, so dass der Kopf nach außen schwang. Gleichzeitig schloss sich die Tür, und etwas rasselte. Es war die Frau, die am Türriegel hantierte, um sicherzustellen, dass er nicht wieder aufging. Mehrere Minuten lang standen wir in völliger Finsternis da und hatten Angst, uns zu bewegen … Die Tür öffnete sich. Vorsichtig, einander an der Hand haltend, stiegen wir ins Freie, und wir alle drei seufzten vor Erleichterung. Die Frau (war sie vielleicht die Chefin der Leichenhalle?) stopfte sich die Papiere nachlässig in die Tasche, und das Begräbnis war vorbei.34

Sechzehn weitere Leichenhallen wurden im April eröffnet, mehrere davon in verlassenen Kirchen, etwa in der Dreifaltigkeitskathedrale und in der Kapelle des Alexander-Newski-Klosters.

Am 15. Januar ordnete der Stadtsowjet an, zusätzliche größere Gräben auszuschachten: auf dem Bolscheochtinskoje-Friedhof, am anderen Newa-Ufer gegenüber dem Smolny, auf dem Serafimowskoje-Friedhof in Nowaja Derewnja, auf dem alten lutherischen Friedhof auf der Dekabristen-Insel sowie auf dem Piskarjowskoje- und Bogoslowskoje-Friedhof in den fernen nordöstlichen Vororten. Jeder der fünfzehn Bezirkssowjets sollte vierhundert Arbeiter für die Schaffung der neuen Begräbnisstätten bereitstellen, doch nur ein einziger war dazu in der Lage, weshalb die Aufgabe von NKWD-Soldaten und Zivilschutzeinheiten übernommen wurde. Die »Komsomolez«-Bagger, mit denen man die Arbeit begann, konnten den anderthalb Meter tief gefroren Boden nicht aufbrechen. Deshalb benutzte man Sprengstoff und schwerere AK-Bagger.

In einem zweiten Erlass vom 2. Februar wurden die Bezirkssowjets angewiesen, täglich insgesamt sechzig Lastwagen mit Anhängern zum Einsammeln der Toten aus Leichenhallen und Krankenhäusern bereitzustellen. Fünftonnenlaster sollten pro Fahrt hundert, Dreitonnenlaster sechzig und Anderthalbtonnenlaster vierzig Leichen transportieren. Die Fahrer wurden durch Zusatzrationen – 100 Gramm Brot und 50 Gramm Wodka für alle weiteren Lieferungen – angespornt. Infolgedessen konnte der Bestattungstrust melden, dass man an mehreren Februartagen jeweils »sechs- bis siebenhundert Leichen allein zum Piskarjowskoje-Friedhof gebracht hatte … Man konnte Fünftonnenlastwagen sehen, die hoch beladen mit Leichen durch die Stadt fuhren; ihre kaum bedeckte Fracht war doppelt so hoch wie die Seiten des Fahrzeugs, und fünf oder sechs Arbeiter saßen darauf.« Da die Leichen steif gefroren waren, konnten die Sammler eine maximale Anzahl verpacken, indem sie die gleiche Technik wie für Holzscheite benutzten: Die Toten am Rand der Ladefläche wurden senkrecht hingestellt, so dass sie eine Art Zaun bildeten, der die übrigen zusammenhielt.35 Auf den Friedhöfen jedoch konnten die Bagger der Lieferungen nicht Herr werden, so dass sich enorme Rückstände bildeten. Die Verwaltung schätzte, dass es zum schlimmsten Zeitpunkt im Februar auf dem Piskarjowskoje-Friedhof 20000 bis 25000 nicht begrabene Leichen gab, die in zweihundert Meter langen und zwei Meter hohen Reihen gestapelt waren.

Durch den Umbau von Ziegelbrennöfen in Krematorien, im Verein mit der sinkenden Sterbeziffer, brachte man die Situation allmählich unter Kontrolle, doch die Massenbeerdigungen setzten sich bis Ende Mai fort. Auf dem Piskarjowskoje-Friedhof, der größten Beisetzungsstätte, wurden zwischen dem 16. Dezember und dem 1. Mai insgesamt 129 Gräben ausgehoben, gefüllt und wieder zugeschüttet. Die größten sechs – vier bis fünf Meter tief, sechs Meter breit und bis zu hundertachtzig Meter lang – enthielten laut Angaben der Verwaltung jeweils rund 20000 Tote. Auf dem Bogoslowskoje-Friedhof füllte man eine nicht mehr benutzte Sandgrube innerhalb von fünf oder sechs Februartagen mit 60000 Leichen, einen Panzergraben mit 10000 und mehrere Bombenkrater mit weiteren tausend. Achtzehn Panzergräben am Nordrand des Serafimowskoje-Friedhofs nahmen 15000 Leichen auf. Insgesamt, berichtete die Verwaltung, wurden in der Stadt 662 Massengräber ausgehoben und gefüllt; Gruben, Krater und Schützengräben nicht mitgerechnet. Wie viele Leichen sie enthielten, ist immer noch umstritten, doch die zutreffendste Schätzung liegt bei einer halben Million Zivilisten, die im ersten Leningrader Belagerungswinter starben.36