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»Bis zu unserem letzten Herzschlag«

Um 18.55 Uhr am Abend des 8. September ging der Optiktechniker Dmitri Lasarew die Sadowaja entlang, als in der üblichen Kakophonie aus Schiffsnebelhörnern sowie Polizei- und Fabriksirenen ein Luftschutzalarm ertönte. Er stand mit anderen Passanten unter einem Torbogen und hörte das Brummen von Motoren über sich. Zwar hatte er sich bereits an die silbernen Pünktchen von deutschen Aufklärungsflugzeugen hoch am Himmel gewöhnt, doch diesmal waren es stumpfnasige graue Bomber, zwanzig oder mehr, die in strikter, zielstrebiger Formation niedrig über die Dächer hinwegschwebten. Irgendwo in der Nähe begann ein Flakgeschütz zu bellen. Plötzlich war der Himmelstreifen zwischen den Dächern voll von funkelnden Leuchtspurgeschossen und weißen Rauchwölkchen, die sich rasch auflösten. Nach dem Alarm setzte Lasarew seinen Weg zur Wohnung eines Cousins an der Fontanka fort. Dort hatten sich seine Verwandten auf dem Balkon versammelt und schauten nach Süden. Jenseits der Biegung des Kanals stieg eine mächtige, kugelförmige Rauchwolke – hier und da schwarz und an anderen Stellen blendend weiß – empor. Allmählich breitete sie sich über den Himmel aus und nahm in der untergehenden Sonne einen Bronzeton an. »Sie hatte so wenig mit Rauch gemeinsam, und ich konnte lange nicht begreifen, dass es Feuer war. Ein ungeheures Schauspiel von betäubender Schönheit.«1

Vera Inber und ihr Mann hatten, trotz der endlosen Alarme des Tages, das Theater für Musikalische Komödien (Muskomedija) am Platz der Künste aufgesucht, um sich Strauß’ Die Fledermaus anzusehen. Dazu hatten sie den Stellvertreter ihres Mannes im Erisman-Krankenhaus eingeladen: einen scharfsinnigen, klugen Mann mit einem amüsanten ländlichen Akzent. In der Pause wurde ein weiterer Alarm ausgelöst. »Ins Foyer kam der Geschäftsführer des Theaters und klar vernehmbar, in dem gleichen Ton, in dem er wohl anzukündigen pflegte, daß wegen Erkrankung eines Künstlers ein anderer einspringen müsse, teilte er mit: ›Das Publikum wird gebeten, sich an die Wände zu halten, denn wir haben hier (er wies mit den Händen auf den riesigen Plafond) keine Balkenlage.‹« Nach vierzig Minuten erklang die Entwarnung, und die Operette wurde fortgesetzt, wenn auch mit einem höheren Tempo und ohne einige der weniger wichtigen Nummern. Beim Verlassen des Theaters wussten Inber und ihr Mann immer noch nicht, dass es sich um mehr als den üblichen falschen Alarm gehandelt hatte. Zu ihrer Überraschung wartete ihr Chauffeur Kowrow auf sie, obwohl sie ihn nicht darum gebeten hatten. »Als der Wagen um den Platz bog, taten sich unserem Blick plötzlich wallende schwarze, von innen durchlohte Rauchmassen auf. Sie türmten sich zum Himmel auf, schwollen an, kräuselten sich und verästelten sich zu unheimlichen Gebilden. Kowrow wandte sich um und sagte tonlos: ›Die Deutschen haben Bomben abgeworfen und die Proviantlager in Brand gesetzt.‹« Lebensmittelspeicher, Heizölbehälter, eine Molkerei und achtunddreißig hölzerne Lagerhäuser – nach einem vorrevolutionären Besitzer »Badejew-Lager« genannt –, in denen ein erheblicher Teil der Nahrungsmittel der Stadt verwahrt wurden, standen neben dem Warschauer Bahnhof in Flammen.2

Beim ersten großen Angriff waren Brandbomben abgeworfen worden: schmale, mit einem Spurkranz versehene Zylinder, die beim Aufprall zu schwelen begannen, wenn die Zivilschutzmannschaften, die auf den Stadtdächern Wache hielten, sie nicht mit Sand überschütteten.3 Einen zweiten Angriff, am selben Abend um 22.34 Uhr, konnte niemand mehr für eine Übung halten. Die Flugzeuge warfen achtundvierzig hochexplosive Bomben mit einem Gewicht von 250 bis 500 Kilogramm ab, die vierundzwanzig Menschen, hauptsächlich in der Gegend des Smolny und des Finnischen Bahnhofs, töteten. Auch der Stadtzoo neben der Peter-und-Paul-Festung wurde getroffen. Ein Angestellter, ein Kind und siebzig Tiere kamen um, darunter die berühmte Elefantenkuh Betty, die sechs Jahre vor der Revolution aus Hamburg nach Petersburg gekommen war. Die Affen waren, wie ein Zoologe anmerkte, so traumatisiert, dass »sie ein paar Tage lang stumm, wie erstarrt, dasaßen und nicht einmal auf die überall einschlagenden Geschosse reagierten«.4

Olga Berggolz wartete im Korridor ihrer Wohnung auf das Ende des Angriffs. »Zwei Stunden lang bebten meine Beine und mein Herz pochte, obwohl ich äußerlich ruhig blieb. Ich war nicht bewusst verängstigt, aber wie meine Beine zitterten – pfui!« Danach rannte sie sofort hinüber zum Rundfunkhaus, um sich mit ihrem Kollegen und Liebhaber Juri Makogonenko zu treffen. Sie liebte ihren behinderten Ehemann, wie sie ihrem Tagebuch anvertraute, und wusste, dass ihre Affäre mit Juri »eine Laune« war, doch sie wünschte sich »noch einen weiteren Triumph … Lasst mich ihn durstig, wahnsinnig, glücklich sehen … vor dem pfeifenden Tod.« Außerdem wollte sie ihre Arbeit trotz der unaufhörlichen Spannung zwischen der Liebe zu ihrem Land und dem Hass auf die Regierung fortsetzen: »Morgen muss ich einen guten Leitartikel schreiben. Aus tiefster Seele, mit dem, was noch von meinem Glauben übrig ist … Heutzutage fällt es mir schwer, zum Stift zu greifen, doch er bewegt sich, obwohl die Gedanken in meinem Kopf herumschwirren.«5

Die Luftangriffe auf Leningrad wiederholten sich in unterschiedlicher Intensität während der gesamten Belagerung. Am heftigsten waren sie in den ersten Wochen, nahmen mit der Verlegung des 8. Luftwaffenkorps nach Moskau ab, ebenso mit dem Beginn der heftigen, Flugzeuge außer Gefecht setzenden Winterkälte, bevor sie im Frühjahr 1942 erneut einsetzten. Laut sowjetischen Quellen fielen während des Krieges 69000 Brand- und 4250 Sprengbomben auf die Stadt. Zwar war die Bombentonnage nicht annähernd so hoch wie in London, doch Leningrad war eine, geografisch gesehen, viel kleinere Stadt, die nicht nur aus der Luft, sondern auch zunehmend vom Land aus bombardiert wurde. Luftangriffe bei Nacht und Kanonenfeuer am Tag forderten einen unerbittlichen Tribut an Nerven, Schlaf und Menschenleben. Insgesamt wurden 16747 Zivilisten in Leningrad durch feindliches Feuer getötet und über 33000 verwundet.6

Für die Jugend waren die Bombenangriffe zunächst recht aufregend. Igor Krugljakow, der Achtjährige, der am ersten Kriegstag zusammen mit seinem Vater und seinen Onkeln fotografiert worden war, machte es Spaß, zu sehen, wie Brandbomben am Mansardendach des Suworow-Museums herunterrutschten. Nach den Entwarnungen schlich er sich mit der Menge ohne Karte ins Kino und wetteiferte mit seinen Freunden beim Sammeln von Geschossfragmenten. Es galt die Regel: »Wer’s findet, darf’s behalten!« (selbst wenn das Fragment zu heiß zum Aufheben war), und er freute sich, als seine Familie in eine sicherere Parterrewohnung in einem anderen Gebäude zog, weil er nun die Schweine und Kälber streicheln konnte, die Bauernflüchtlinge im Hof eingepfercht hatten. Teenager, die in den schönen, erschreckenden Nächten Brandwache hielten, erlebten pubertäre Liebesgeschichten. »Einmal, bei einem Flirtspiel«, schrieb Klara Rachman nach einer Wachtschicht in ihrer Schule, »schickte Wowa mir einen Zettel mit der Frage: ›Was würde geschehen, wenn ich dir sagte, dass ich dich liebe?‹ Ich dachte, es sei bedeutungslos, aber er schrieb mir weitere Dinge dieser Art. Mir ist klar, dass es in unseren beängstigenden Zeiten albern ist, so etwas anzufangen, aber er machte den ersten Schritt … Am Ende des Abends begleitete er mich nach Hause. Ich fragte ihn, ob das, was er mir geschrieben hatte, wahr sei. Er bestätigte es.«7

Professor Wladimir Garschin, Chefpathologe an Inbers Erisman-Krankenhaus (und Anna Achmatowas Liebhaber), hatte keinen derartigen Trost. Für ihn brachten die Angriffe einen neuen Leichentyp mit sich:

Formlose Brocken Menschenfleisch, gemischt mit Kleidungsfetzen und Ziegelstaub, alle beschmiert mit dem Inhalt von Eingeweiden. Verwandte strömten herbei, manche mit Gesichtern, die starr wie Masken waren, andere heulend und schreiend. Es war schwer, sie zu beruhigen und Fragen beantworten zu lassen, aber wir hatten keine andere Wahl, denn wir mussten Sterbeurkunden ausfüllen und Weisungen für die Beerdigung der Toten einholen. Diese Stunden und Tage im Leichenschauhaus nach Luftangriffen kann ich nie vergessen. Nicht die Leichen – in meiner jahrzehntelangen Arbeit habe ich viele gesehen –, sondern die Verwandten … In gewissem Grade war ich daran gewöhnt, einen Teil der Last an Kummer und Entsetzen zu übernehmen, doch damals ging es über meine Grenzen. Am Abend war die Seele gelähmt. Ich ertappte mich dabei, wie ich immer den gleichen mitfühlenden Gesichtsausdruck zur Schau trug und die gleichen Formeln benutzte. Solche Tage lassen dich mit dem Gefühl völliger Leere zurück.8

Leningrad besaß kein U-Bahn-System, und die Regierung stellte nichts Vergleichbares wie die serienmäßig hergestellten Morrison- und Anderson-Unterstände bereit, mit denen sich Londoner während der Luftangriffe schützten. Stattdessen flüchteten sich Leningrader in die Kesselräume und Treppenhäuser ihrer Wohngebäude oder in Gräben, die in öffentlichen Parks und auf Plätzen ausgehoben worden waren. Sie gewöhnten sich an immer wieder unterbrochene Nächte und Tage, daran, Tassen Tee halb ausgetrunken zurückzulassen, sich rasch Mäntel und Überschuhe anzuziehen, im Dunkeln auf Bänken, Matratzen und in überfüllten Kellern (»Ratten liefen wie Seiltänzer an den Rohren entlang«) zu dösen und dann zu einem kalten Ofen zurückzukehren. In den tieferen Kellergeschossen waren die Flugzeuge und Flakgeschütze kaum zu hören (etwa in der Eremitage, wo man allerdings daran zweifelte, dass Rastrellis Bögen den Bombardements standhalten würden), aber in den meisten Fällen machten Leningrader sich auf das lauter werdende Pfeifen jeder herabfallenden Bombe gefasst (»Man wollte sich in den Boden drücken«), auf das Dröhnen und den Donnerschlag von Aufprall und Explosion, gefolgt von dem lang gezogenen Getöse einstürzender Gebäude, dem Klirren von Glas und unablässigen Schreien. »Jeder denkt: ›Diese ist für mich bestimmt‹«, schrieb Berggolz, »man stirbt im Voraus. Du stirbst, und sie geht vorbei, aber eine Minute später kommt sie zurück, pfeift erneut, und du stirbst, wirst zum Leben erweckt, seufzt vor Erleichterung, nur um wieder und wieder zu sterben. Wie lange wird es dauern? … Töte mich mit einem Mal, nicht Stück um Stück, mehrere Male am Tag!«9

Die morgendliche Fahrt zur Arbeit – für diejenigen, die ihr Lager nicht permanent in ihren Fabriken oder Büros aufgeschlagen hatten – diente zum Abhaken vertrauter Wahrzeichen, die beschädigt oder zerstört worden waren. Von Bomben aufgeschlitzte Wohngebäude ähnelten Bühnenkulissen oder Puppenhäusern mit brutal entblößten Innereien: Sofas, Tapeten mit Kornblumenmuster, an Kleiderhaken hängende Mäntel. »Diese aufgerissenen Häuser«, bemerkte die stets analytische Lidia Ginsburg,

legen das System ihrer Stockwerke, die dünnen Trennschichten der Fußböden und Zimmerdecken frei. Verwundert beginnt der Mensch zu begreifen, daß er in der Luft schwebt, wenn er zu Hause in seinem Zimmer sitzt; daß andere Menschen ebenso unter seinem Kopf und unter seinen Füßen schweben. Eigentlich weiß er das ja, er kann schließlich hören, wie über ihm Möbel hin- und hergerückt werden, sogar, wie man Brennholz hackt. Aber das alles ist abstrakt … Nun aber trat die Wahrheit mit schwindelerregender Anschaulichkeit zutage. Es finden sich auch durchsichtige Häuser, von denen nur noch die Fassade steht … Durch die leeren Fensterhöhlen der oberen Stockwerke kann man den Himmel sehen. Da finden sich Häuser, es sind vor allem die kleineren, deren Dachstuhl eingestürzt ist; darunter liegen nun Balken und Bretter begraben. Sie hängen windschief herunter, und es sieht aus, als wollten sie immer nur weiter einstürzen, endlos in die Tiefe stürzend wie ein Wasserfall.10

Vera Inber und ihr Mann zogen ins Erisman-Krankenhaus, wo sie sich ein kleines Zimmer mit zwei eisernen Bettgestellen, einem Kanonenofen, einem Schreibtisch, einem Bücherschrank und einem Kupferstich von Jenner bei seiner ersten Pockenimpfung zuteilten. Sie versuchten sich einzureden, dass die alten Pappeln vor den Fenstern sie vor Explosionen schützen würden. Inber, die vorher von den Ereignissen in Leningrad recht isoliert gewesen war – ihre Gedanken hatten eher ihren in Moskau zurückgelassenen Freunden und Verwandten gegolten –, befand sich von nun an im Mittelpunkt des Krankenhauslebens, das sie während der Belagerung gewissenhaft beschreiben sollte. Am 19. September, dem Datum eines der schlimmsten Angriffe bei Tageslicht (280 Flugzeuge warfen 528 Spreng- und ungefähr 2000 Brandbomben ab), besuchte sie eine alte Freundin aus Odessa, die heruntergefallenen Mörtel auffegte, während Tote und Verwundete aus dem Gebäude nebenan herausgetragen wurden. Es war ein großer Unterschied zu ihrer gemeinsamen vorrevolutionären Kindheit. »Ich erinnere mich an sie vom Herbst 1913 in Paris«, schrieb Inber am folgenden Tag. »Sie war so jung, so fröhlich, so attraktiv. Eine ganze Schar von uns ging auf irgendeinen Jahrmarkt. Wir aßen Kastanien, fuhren auf den Karussells und schauten uns Paris durch fallende Blätter an.« An jenem Tag schlugen Bomben im Gostiny Dwor ein (einem Kaufhaus am Newski-Prospekt) und töteten achtundneunzig Menschen; außerdem wurden vier Krankenhäuser und ein Markt in Nowaja Derewnja (»Neues Dorf«) getroffen, einem altmodischen Arbeiterviertel mit Holzlagern und Baumschulen am Nordufer der Newamündung. Inber beobachtete, wie fünfzig Verwundete eingeliefert wurden: »Ein etwa siebzehnjähriges verwundetes Mädchen klagte immerzu, daß die Gummischnur, mit der man ihr das Bein umschnürt hatte, ihr wehtue. Man tröstete sie und sagte ihr, daß es bald leichter werden würde, dann betäubte man sie und amputierte das Bein. Als sie zu sich gekommen war, sagte sie: ›Jetzt ist es schön, jetzt schmerzt es nicht mehr.‹ Sie wußte nicht, daß sie das Bein nicht mehr hatte.«11

Vier Tage später, um halb elf an einem goldenen Herbstmorgen, landete eine riesige Bombe auf dem Gelände des Erisman, explodierte jedoch zum Glück nicht, sondern bohrte sich neben dem Brunnen in den Mittelhof des Krankenhauses. »Das Seltsame ist, dass ich den Aufprall kaum spürte«, schrieb Inber. »Meine erste Reaktion war, dass jemand eine schwere Tür zugeschlagen hatte.« Die angespannten zehn Tage, in denen Pioniere die Bombe entschärften, verbrachte sie damit, verwundeten Soldaten vorzulesen:

Ich saß auf einem Hocker mitten in der Station und las laut eine Geschichte von Gorki vor. Plötzlich heulten die Sirenen, das Geräusch von Flakfeuer schien den ganzen Himmel zu erfüllen, eine Bombe krachte, die Fenster ratterten.

Ich saß auf meinem Hocker und konnte mich nicht zurücklehnen, da ich keine Lehne hatte … umgeben von Fenstern und umringt von den Verwundeten – von hilflosen Menschen, die mich, die ich als Einzige gesund und mobil war, anschauten. Ich brachte all meine Willenskraft auf, ließ das Brummen des Flugzeugs vorbeiziehen und las weiter, wobei ich mich sorgte, dass meine Stimme vor Angst zittern könne. Als ich nach Hause kam, fühlte ich mich so geschwächt, dass ich mich hinlegen musste.12

Artilleriebeschuss, dachten viele, sei noch schlimmer als Bombenabwürfe, da ihm kein Alarm vorausging. Vom 4. September bis zum Jahresende beschoss die schwere Artillerie der Wehrmacht Leningrad 272 Mal, bis zu achtzehn Stunden hintereinander, mit insgesamt über 13000 Granaten. Besonders stark heimgesucht wurden die Fabriken im Süden der Stadt, darunter die mächtigen Kirow-Werke und das Kraftwerk Elektrossila, die beide knapp hinter der Front am Ende der Straßenbahnlinie 9 lagen. Die Anlagen von Elektrossila waren bis Ende November 73 Angriffen ausgesetzt. 54000 Bewohner, dazu 28 Fabriken ganz oder teilweise, wurden aus unmittelbarer Schussweite nach Norden in Gebäude verlegt, die durch Evakuierung leer standen. Das Gerücht, dass manche Granaten nur mit Kristallzucker oder mit ermutigenden Schreiben mitleidiger deutscher Arbeiter gefüllt seien, war leider nur eine Erfindung.

Die Gefahr vom Himmel blieb natürlich nicht die einzige Sorge der Leningrader, denn Mitte September schien der Fall der Stadt besonders nahe zu sein. Obwohl die Bürger nun das Donnern des Artilleriefeuers hören konnten, wussten die meisten immer noch nicht genau, wo sich die Kämpfe abspielten. Die Berichte von Sowinform waren so vage wie immer, weshalb gewitzelt wurde, die Nachrichtenagenturen OBS – Odna baba skasala (»Eine Frau sagte«) – und OMS – Odin major skasal (»Ein Major sagte«) – seien zuverlässiger. Dass die Front sehr nahe gerückt war, ließ sich sowohl an den Granaten, die auf den Straßen landeten, als auch an den Hunderten von Bauernfamilien ablesen, die mit ihrem Vieh an den Bahnhöfen lagerten. Noch mehr hätten das Stadtzentrum erreicht, wäre der Eisenbahnverwaltung nicht befohlen worden, die Flüchtenden am Besteigen von Vorortzügen zu hindern.

Eine Nachrichtenquelle bildeten Tausende von Zivilisten, die sich freiwillig zum Bau von Verteidigungsanlagen in den Randgebieten der Stadt gemeldet hatten, darunter die siebzehnjährige Olga Gretschina. Nach einer unglücklichen Zeit als Buchhalterin in einer Munitionsfabrik, wo sie wegen ihrer Sanftheit und Unschuld drangsaliert worden war (»Du bist wie jemand aus einem Museum«, rügte ihr Chef sie), kehrte sie zum Ausheben von Gräben zurück: im Nordosten der Stadt, unweit des heutigen Piskarjowskoje-Gedenkfriedhofs. Die Bedingungen waren viel schwieriger als im Juli und die Stimmung finsterer:

Es wurde rasch kalt, und obwohl der September gerade erst begonnen hatte, wachten wir bei Frosttemperaturen auf. Das Essen war schlecht: ein Eimer voll Suppe, hauptsächlich Linsen, um alle zu ernähren … Unsere Frauen erhielten weder Briefe von ihren Kindern in der Evakuierung noch von ihren Ehemännern an der Front.

Eines Abends saßen wir im Zimmer unserer Hauswirtin und lauschten ihrer einzigen Aufnahme, Der kleine blaue Schal. Alle weinten untröstlich. Dieses banale Lied, das vor dem Krieg populär gewesen war, weckte so viele Erinnerungen. Für jede Frau war das Thema – die Trennung von geliebten Menschen – plötzlich sehr real geworden.

Zweimal durften wir heimfahren, um uns zu waschen, denn viele von uns waren durch den Schmutz und die Kälte von Läusen befallen. Dies passierte mir zum ersten Mal, und ich war beunruhigt und angeekelt. Also borgte ich mir einen halben Liter Petroleum von einer Nachbarin (es war in den Läden bereits nicht mehr erhältlich) und rieb es mir ins Haar. Danach versuchte ich bis fast zwei Uhr morgens, es mit kaum noch warmem Wasser wieder auszuwaschen …

Nach Heimatbesuchen kehrten die meisten in mürrischer Stimmung zu den Gräben zurück. Es wurde noch kälter, und wir buddelten in schrecklich schwerem blauem Lehm. Nur eine Schaufelvoll hochzuwuchten war anstrengend. Und als die dumme Tanka anfing, Penisse aus dem Lehm zu formen, war es nicht mehr witzig, und die anderen ärgerten sich über sie.

Doch die vulgäre Tanka gab der behüteten, etwas snobistischen Gretschina die erste von vielen Lektionen über die Tugenden der Arbeiterklasse in der sozialistischen Republik. Tanka überredete sie, den Wächtern auszuweichen und zwei Säcke Kartoffeln von einem verlassenen Feld zu stehlen. Auf der Straßenbahnfahrt in die Stadt mit ihrer Beute fand Gretschina heraus, dass Tanka eine verwitwete Mutter und eine schwerbehinderte Schwester versorgte. Durch eine brennende Fabrik wurde die Straßenbahn zum Halten gezwungen, und die beiden mussten zu Fuß weitergehen. »Ich war erschöpft«, erinnerte sich Gretschina, »und wollte meinen Sack fallen lassen, aber Tanka sagte: ›Bist du verrückt geworden?‹, und wuchtete ihn sich auf den Rücken. Nun begriff ich, wie unreif mein Urteil über andere gewesen war.«

Am 14. September erhielt die Brigade den Befehl, nach Leningrad zurückzukehren. Gretschina suchte die Philologische Fakultät der Leningrader Universität auf, wo sie ein Studium hatte beginnen wollen. Aber das akademische Leben kam ihr mittlerweile schwelgerisch und naiv vor. »Wie kann man denn bloß über abstrakte Begriffe diskutieren, wenn alles in der Umgebung von Feuern und Bomben bedroht ist? Ich fühlte mich wie eine arbeitende Person, die sich plötzlich in der Gesellschaft von Müßiggängern wiederfindet.« Sie verließ die Vorlesung vor dem Ende, ging in die Mensa und löste Lebensmittelkarten gegen Pferdefleisch und Kascha ein.13

Sogar von öffentlichen Stellen wurde nun eingeräumt, dass sich die Stadt in unmittelbarer Gefahr befand. Am 16. September, einem Tag horizontalen Regens, an dem Puschkin aufgegeben wurde, brachte die Leningradskaja prawda einen geradezu hysterischen Leitartikel, den Schdanow selbst geschrieben hatte: »Der Feind steht vor den Toren! Wir werden bis zu unserem letzten Herzschlag für Leningrad kämpfen. Jeder muss der Gefahr fest ins Auge sehen und sich klarmachen: Wenn er heute nicht selbstlos und tapfer für die Verteidigung der Stadt kämpft, werden morgen seine Ehre, seine Freiheit und seine Heimstatt verloren und er selbst zum Sklaven der Deutschen geworden sein.« Am folgenden Tag brachte die Zeitung die schwerfällige Schlagzeile: »Leningrad – Sein oder Nichtsein?«14 Fabrikmilizen wurden für selbstmörderische Straßenkämpfe ausgebildet. »Die Zerstörung eines Panzers«, hieß es in einer Anleitung,

wird in erster Linie durch Geistesgegenwart, Mut und Entschlossenheit herbeigeführt. Man darf nicht zaudern, sondern muss Schnelligkeit und Kühnheit an den Tag legen … Der Kämpfer sollte, nachdem er eine geeignete Deckung gesucht hat [Laternenpfähle, Poller und Werbeplakate wurden vorgeschlagen], den Panzer bis auf 10–15 Meter herankommen lassen (in dieser Entfernung befindet sich der Kämpfer in einem toten Winkel, so dass der Feind nicht auf ihn feuern kann), dann schnell aus der Deckung hervorspringen, das Bündel Granaten unter die Raupenketten werfen und genauso schnell wieder in Deckung gehen. Genau die gleiche Technik ist mit brennbaren Flaschen anzuwenden – mit dem einzigen Unterschied, dass die Flasche auf den hinteren Teil des Panzers geworfen wird.

Wenn es an Granaten oder Molotowcocktails fehle, fuhr man in der Broschüre munter fort, seien Panzer »durch den entschlossenen und geschickten Gebrauch von Bajonett, Gewehrkolben, Messer, Brecheisen oder Axt« außer Gefecht zu setzen.15 Überzeugender waren die Barrikaden, die mit Hilfe von »Stahligeln« und »Drachenzähnen« aus Beton sowie von Eisenträgern, Pflastersteinen und mit Sand gefüllten Straßenbahnwagen über die Hauptstraßen hinweg gebaut wurden, ebenso die teils zugemauerten Fenster, die als Schießscharten dienten. Georgi Knjasews Gebäude für Akademiemitglieder wurde von Matrosen besetzt, die eilig Sandsäcke trugen. Seine Frau und er zogen in sein Büro in der Akademie der Wissenschaften, wo sie unter einer Lenin-Büste auf Feldbetten schliefen.

Außerdem beobachtete Knjasew, dass die Matrosen, was er in seinem Tagebuch kaum zu erwähnen wagte, Treibsätze neben der Leutnant-Schmidt-Brücke (früher Nikolaus-Brücke) ablegten, dem westlichsten der beiden Übergänge, welche die Wassiljewski-Insel mit dem Festland verbinden: »An der Akademie der Künste erschütterte mich, daß die Matrosen in geringem Abstand voneinander kleine Gräben aushoben, etwas hineinpackten. Ziegel darüber schichteten und Sand darauf schütteten. Genau über den Sphinxen. Sollte wirklich …? Mir gab es einen Stich ins Herz.«16 Wenn die Deutschen Leningrad besetzten, würde die Zerstörung der Infrastruktur und der Produktionsfähigkeit total sein. Der sogenannte Plan D, in dem alles aufgeführt war, was zerstört werden sollte, gelangte erst 2005 an die Öffentlichkeit. Inzwischen wissen wir, dass er sämtliche wichtige Fabriken der Stadt sowie alle Kraftwerke, Wasserwerke, Telefon- und Telegrafenzentralen, Bäckereien, Brücken, Eisenbahnnetze, Werften und Hafenanlagen umfasste, insgesamt rund 380 Objekte. (Alexej Kusnezow, Schdanows Stellvertreter, soll die Verminung des Schlosses Peterhof sowie die Entfernung von Maschinengewehren vom Dach der Eremitage angeordnet haben, die man für den Fall, dass Fallschirmjäger auf dem Palastplatz landeten, dort aufgestellt hatte.) In allen verzeichneten Institutionen musste eine »Troika« aus Direktor, Parteisekretär und NKWD-Vertreter Pläne für die Reihenfolge aufsetzen, in der Maschinen und Gebäude zerstört werden sollten, ebenso für die benötigte Sprengstoffmenge (oder, im Fall weniger wichtiger Objekte, für die Zahl der erforderlichen Äxte und Vorschlaghämmer). Der Befehl zur Einleitung dieser »Spezialmaßnahmen« sollte von Kusnezow erteilt werden, und für die Ausführung hatten die Bezirksstellen des NKWD zu sorgen.17 Obwohl die Pläne unter höchster Geheimhaltung gefasst wurden, sickerten Gerüchte durch, welche die Arbeiter entsetzten. »Und was sollen wir tun, wenn die Fabriken gesprengt sind?«, fragte ein Mann seinen Freund. »Wir können ohne Fabriken nicht auskommen. Selbst wenn die Deutschen einmarschieren, müssen wir arbeiten, um zu essen. Wir werden sie nicht sprengen.«18

Nicht wenige Fabrikchefs verließen ihren Posten, wie sich aus einer Flut von Verweisen und Entlassungen wegen »Feigheit«, »Panikanfällen«, Unterschlagung und unerlaubten Urlaubs ablesen lässt. In einer Mitteilung an führende Mitarbeiter von Industriebetrieben vom 5. September klagte Schdanow über einen Anstieg von Diebstählen und Veruntreuungen sowie von Forderungen mancher Paragrafenreiter nach Überstundenlohn. Der prominenteste Schuldige war der Direktor der großen Fabrik »Roter Chemiker«, der seinem Buchhalter befahl, 50000 Rubel abzuheben, der ein Auto beschlagnahmte und wohl entkommen wäre, wenn der Buchhalter nicht die Behörden alarmiert hätte.19 Andere, wie der Erste Parteisekretär Nikonorow in Lodeinoje Pole, einem Städtchen östlich von Ladoga, ertränkten ihre Furcht im Alkohol. Statt den Zivilwiderstand gegen die heranrückende Wehrmacht zu organisieren, vermerkte ein entrüsteter Ermittler, »beschäftigte er sich damit, Massensauforgien unter Beteiligung führender Arbeiter zu veranstalten … Bei der Bezirkspolizei waren Trunksucht und Kartenspiele verbreitet; an beidem nahm Polizeichef Martynow persönlich teil.«20 Bis Jahresende wurden 1540 städtischen Funktionären, die »des hohen Titels eines Mitglieds der Bolschewistischen Partei unwürdig waren«, die Parteiausweise entzogen.21

Gleichzeitig straffte man zusätzlich die allgemeinen Sicherheitsmaßnahmen. Am stärksten waren die gewöhnlichen Leningrader von der Abschaltung ihrer Haustelefone betroffen. »Es war ein seltsames Gefühl«, schrieb Vera Inber, wenn das

Telefon klingelte und eine frische junge Stimme sagte: ›Dieses Telefon ist bis Kriegsende nicht in Betrieb.‹ Ich versuchte, einen Protest zu organisieren, wusste jedoch im tiefsten Innern, dass die Sache sinnlos war. Innerhalb von Minuten klickte das Telefon und erstarb … bis zum Ende des Krieges. Und sofort schien die Wohnung tot, eingefroren und angespannt zu sein. Wir sind von allem und jedem in der Stadt abgeschnitten … Eine Ausnahme bilden nur ganz besondere Büros, Kliniken und Krankenhäuser.22

Die Kontrollpunkte vervielfachten sich, und Straßen, auf die nationalsozialistische Flugblätter flatterten, wurden rasch abgesperrt. »Wir kommen nicht als eure Feinde, sondern als Feinde des Bolschewismus!«, hieß es auf einem. »Wenn eure Fabriken und Lagerhäuser verbrennen, werdet ihr verhungern! Wenn eure Häuser verbrennen, werdet ihr erfrieren!« Auch kam es zu neuen Razzien (3566 Festnahmen zwischen dem 13. und dem 17. September) gegen Deserteure der Roten Armee und der Volksmiliz, die, wie Tagebuchautoren vermerkten, die Stadt »überfluteten«.23 In der ukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg) hatte das NKWD alle Häftlinge erschossen, als sich die Wehrmacht näherte. In Leningrad evakuierte es sie lediglich in Arbeitslager innerhalb des Belagerungsrings, doch das Endergebnis war ähnlich. Die Überlebende eines Geleitzugs vom 9. Oktober erinnert sich an seine Reise:

Zwei Reihen von Bewachern des Konvois standen an Deck und trieben einen Strom von Häftlingen die Stufen hinunter in den Laderaum. In der dunklen Leere flackerte eine kleine Flamme. Dort stand ein Leutnant, stieß nach rechts und links Flüche aus und schlug mit einem Krockethammer zu, um alle so eng wie möglich unterzubringen. Die Menschen standen zusammengepresst da und umklammerten ihre Sachen. Eine lange Reihe von Häftlingen folgte mir.

Am Abend war der Laderaum gefüllt. Er bestand aus drei Abteilungen: einer für Männer mit ungefähr 3000 Menschen; einer für Frauen, von denen es etwa 800 gab; und einer kleinen Ecke, in die 200 deutsche Kriegsgefangene gequetscht waren. Hin und wieder versuchte ein keuchender Gefangener, ein wenig hinaufzuklettern, um etwas frische Luft zu schnappen. Sofort ertönten Schüsse, und der Unglückliche, der nicht nur Luft, sondern auch Blei geschluckt hatte, stürzte wieder die Stufen herunter …

Ein metallenes Hundert-Liter-Fass wurde an einem Seil durch die Luke herabgelassen. Eine Schar Häftlinge stürzte darauf zu. Die meisten hatten nichts, mit dem sie Wasser schöpfen konnten, deshalb benutzten sie ihre Hände.

[Im Lauf der Nacht] wurden die Verhältnisse noch schlimmer. Anfangs waren wir eng zusammengedrückt, doch wenigstens hatten wir auf dem Fußboden stehen können. Nun gab es mehr Platz, doch der Boden war unter Leichen verschwunden, und es war schwierig, nicht auf ihnen zu stehen oder zu sitzen. Außerdem begann es zu stinken … Als ich den Laderaum verließ, blickte ich mich um: Der Boden war komplett von einer dichten Schicht aus verwesenden Toten bedeckt.24

Die Sicherheitsmaßnahmen brachten nicht alle Gegenstimmen zum Schweigen. Hakenkreuze tauchten über Nacht an Hofmauern auf; Flugblätter, die Stalin verurteilten und forderten, Leningrad zu einer ville ouverte nach Pariser Vorbild zu erklären – ein Euphemismus für Kapitulation –, wurden in Briefkästen gestopft und anonym an Parteiführer geschickt. Die verbreitete Erwartung der Niederlage kam in einem drastischen Rückgang der Anträge auf Parteimitgliedschaft zum Ausdruck – die Zahl war im September 1941 niedriger als im folgenden Februar, obwohl zu diesem Zeitpunkt mittlerweile täglich Tausende von Leningradern verhungerten. Durch die Abreise von Parteimitgliedern an die Front schrumpfte die Leningrader Parteiorganisation um die Hälfte: von 122849 Vollmitgliedern zur Zeit der Kriegserklärung auf 61842 bis Jahresende. Auch die Zahl der als »verloren« gemeldeten Parteiausweise nahm stark zu, obwohl wenige so naiv vorgingen wie ein Arbeiter in der Ochtenski-Chemiefabrik, der den örtlichen Parteisekretär aufforderte, seinen Namen aus der Mitgliedsliste zu streichen, »weil es dann nicht leicht herauszufinden sein wird, dass ich Kommunist bin«.25

Die Unentschlossenen hatten gute Gründe für ihre Haltung. Aus den Archiven wird deutlich, dass Stalin nicht nur während der Krise Mitte September, sondern auch im Spätherbst und Frühwinter ernsthaft daran dachte, Leningrad aufzugeben. Für ihn stand die Verteidigung Moskaus im Vordergrund.

Hitlers Plan für Moskau, mit dem Codenamen »Operation Taifun«, war in einer Führerweisung vom 6. September umrissen worden. 800000 Soldaten und drei Panzerarmeen mit über tausend Fahrzeugen sollten zwei große Zangenbewegungen im Westen und Süden der Stadt ausführen und die dortigen Sowjetarmeen einkreisen. Die Operation, die am 30. September begann, erreichte ihre ersten Ziele erstaunlich rasch. Die kleine Stadt Orjol, die ungefähr nach zwei Dritteln des Weges entlang der Hauptstraße von Kiew erreicht war, soll so hastig verlassen worden sein, dass deutsche Panzerbesatzungen die Fahrbahn mit friedlich dahinrollenden Straßenbahnen teilten. (»Warum haben Sie nichts über die heroische Verteidigung von Orjol geschrieben?«, fragte Wassili Grossmans Chefredakteur ihn wütend, nachdem der Korrespondent von einem Kurzbesuch an der Front zurückgekehrt war. »Weil es keine Verteidigung gab«, erwiderte Grossman.) Fünf Tage nach dem Beginn der Offensive entdeckte ein sowjetisches Aufklärungsflugzeug eine zwanzig Kilometer lange Panzerkolonne, die sich der Stadt Juchnow, zweihundert Kilometer nördlich von Orjol und nur noch hundertdreißig Kilometer von der Hauptstadt entfernt, näherte. Die Nachricht war so unerwartet, dass der Pilot, der sie überbrachte, mit Verhaftung wegen »Provokation« bedroht wurde. Man schenkte ihm erst Glauben, als zwei weitere Maschinen die Meldung bestätigten.

Am 6. Oktober wurde Schukow von Stalin aus Leningrad zurückberufen und mit der Verteidigung Moskaus betraut. Wieder fand Schukow eine Armee vor, die dem Kollaps nahe war. Verbindungslinien waren zusammengebrochen, und improvisierte Einheiten wurden aus Nachzüglern gebildet, die kleineren deutschen Umzingelungsaktionen entkommen waren. Von den 800000 Soldaten, welche die Zentralfront sechs Wochen vorher gehalten hatten, standen nur noch 90000 zwischen der Wehrmacht und der Hauptstadt. Tage später, während sich einberufene Zivilisten abmühten, einen neuen Schützengrabenring um die Moskauer Vororte anzulegen, lud Hitlers Pressesprecher das Berliner Pressekorps ins Propagandaministerium, wo eine Erklärung des Führers verlesen wurde: Die Reste der Roten Armee säßen nun in der Falle, der Sieg im Osten sei gesichert. Am folgenden Morgen brachten die Zeitungen Schlagzeilen wie: »Die große Stunde hat geschlagen!« und: »Feldzug im Osten entschieden!«

In Moskau, wo das Donnern der Artillerie nun sogar auf dem Roten Platz zu hören war, beschloss man, die Regierung zu evakuieren. Das Präsidium des Obersten Sowjets, das Verteidigungskommissariat und die alliierten Botschaften wurden am 15. September mit Sonderzügen nach Kuibyschew an der Wolga (heute Samara) gebracht. Am folgenden Tag wirbelte die Asche einer Million hastig verbrannter Akten über die Bürgersteige, und Moskau verfiel in Anarchie. Die Polizei verschwand, Chefs und Vorgesetzte flüchteten in beschlagnahmten Lastwagen, die sie mit Gummibäumen und Grammofonen beladen hatten. Arbeiter, denen man die Fabriktore vor der Nase zugeschlagen hatte, plünderten und lynchten. Der Direktor einer Molkerei, der gerade abfahren wollte, wurde aus seinem Wagen gezerrt und kopfüber in einen Sahnebottich geworfen. Erst fünf Tage später war die Ordnung wiederhergestellt. Die gesamte unrühmliche Episode wurde als »großer drap« bekannt – ein spöttisches Wortspiel mit der Doppelbedeutung von drap (»Ordensband« und »abhauen«).26

Da Moskau am Abgrund stand, war die Preisgabe Leningrads wahrscheinlicher denn je. Der Widerwille hoher Generale, den Befehl über die Verteidigung der Stadt zu übernehmen, ließ erkennen, wie schlecht sie die Überlebenschancen einschätzten. Nach Schukows Abfahrt ging das Kommando zunächst an seinen Stellvertreter Iwan Fedjuninski über, doch dieser setzte sich sofort dafür ein, dass Michail Chosin, der dienstälter sei und unter dem er früher gedient habe, den Posten erhielt.27 Chosin erhob Einspruch, er könne die 54. Armee, die er gerade von dem verhassten und inkompetenten Kulik übernommen hatte, nicht im Stich lassen. Daraufhin versuchte Schdanow, Marschall Nikolai Woronow für die Aufgabe zu gewinnen, einen geachteten Artilleristen und gebürtigen Leningrader, doch auch er lehnte ab, da er als stellvertretender Verteidigungskommissar bereits alle Hände voll zu tun habe.

Nach zweiwöchigem Hin und Her schaltete Moskau sich ein, und am 26. Oktober wurde Chosin das Kommando schließlich aufgezwungen. Fedjuninski übernahm die Führung der 54. Armee.

Für den Rest des Jahres erhielt Leningrad den Auftrag, so viele Waffen wie möglich zu liefern, obwohl die Rüstungsanlagen weiterhin über den Ladogasee evakuiert wurden. (Die Verlegung der sechstausend Mitarbeiter der Ischorsker Panzerwerkstatt und ihrer Angehörigen erfolgte am 2. Oktober und die der Kirow-Werke mit 11614 Arbeitern zwei Wochen später.28) Die allgegenwärtige Parole jener Zeit – »Alles für die Front!« – hätte korrekterweise lauten müssen: »Alles für Moskau!«, denn die Mehrheit der Produkte aus Leningrad kam nicht der Verteidigung der eigenen Stadt zugute, sondern der Zentralfront außerhalb des Belagerungsrings. Kohle- und Torfvorräte, die Wohnungen später vor Kälte hätten schützen können, wurden zur Herstellung von Granaten und Minen benutzt; die Transportkapazität, die der Lebensmitteleinfuhr hätte dienen können, wurde für die Herstellung von Munition verwendet, die man unverzüglich in die Hauptstadt exportierte.

Zur selben Zeit befahl Stalin Schdanow, die Belagerung aufzuheben. »Sie müssen sich beeilen, um über Mga nach Osten durchzubrechen«, telegrafierte er dem Smolny am 13. Oktober. »Sie wissen selber, dass es keine andere Route gibt. Bald werden Ihre Lebensmittelvorräte und anderen Quellen zur Neige gehen. Beeilen Sie sich, oder es könnte zu spät sein.«29 Zwei Tage später flog Woronow nach Leningrad, um die Offensive zu beaufsichtigen und neue, unmöglich hohe Produktionsziele zu setzen. Bei ihrem ersten Treffen bat Schdanow um mehr Munition, woraufhin Woronow verlangte, dass Leningrad seine eigene Granatenproduktion auf eine fantastische Zahl von einer Million monatlich erhöhte. »Eine Million im Monat – das ist Wahnsinn!«, explodierte Schdanow. »Das ist ein Bluff! Es ist ignorant! Sie begreifen einfach nicht, wie die Munitionsherstellung funktioniert!«30 Drei Tage später erkundigte Stalin sich, ob seine neue Offensive bereits begonnen habe:

Wir haben Ihnen eine Weisung mit dem Befehl zu einem sofortigen Vormarsch geschickt, um die Lenfront und die 54. Armee zu vereinigen. Wir haben keine Antwort erhalten. Was geht vor, warum antworten Sie nicht? Ist die Weisung verarbeitet worden, und wann meinen Sie, dass der Vormarsch beginnt? Wir fordern eine rasche Antwort mit einem von zwei Worten. »Ja« bedeutet eine Bestätigung und die schnelle Erfüllung des Befehls; »Nein« ist die Ablehnung.31

Nachdem die geplante Offensive durch die deutsche Bedrohung Tichwins, eines wichtigen Endbahnhofs für Evakuierungen über den Ladogasee, durchkreuzt worden war, fiel Stalin am 23. Oktober erneut über die Leningrader her. Seine Botschaft wurde am Telefon von Marschall Wassiljewski, dem stellvertretenden Generalstabschef, verlesen. Diesmal erklärte Stalin ausdrücklich, dass Leningrad möglicherweise aufgegeben werden müsse; er betonte, wie wichtig es sei, die umzingelten Armeen zu befreien, obwohl Moskau keine Möglichkeit habe, Leningrad zu helfen:

Ihre Untätigkeit lässt nur den Schluss zu, dass Sie die kritische Situation, in der sich die Soldaten der Lenfront befinden, immer noch nicht durchschauen. Wenn Sie die [deutsche] Front in den nächsten Tagen nicht durchbrechen und erneut eine solide Verbindung zur 54. Armee herstellen, durch die Sie Kontakt zur Etappe haben, werden all Ihre Männer in Gefangenschaft geraten. Die Wiederherstellung der Kommunikation ist nicht nur notwendig, um die Soldaten der Lenfront zu versorgen, sondern vornehmlich auch, um eine Rückzugsmöglichkeit für die Kämpfer der Lenfront nach Osten zu schaffen, falls die Übergabe von Leningrad durch unvermeidliche Umstände erzwungen wird. Bedenken Sie, dass Moskau sich ebenfalls in einer kritischen Situation befindet und nicht in der Lage ist, Ihnen mit neuen Streitkräften zu helfen … Wir fordern eine rasche, entschiedene Aktion Ihrerseits. Ziehen Sie acht oder zehn Divisionen zusammen und brechen Sie nach Osten durch. Das ist in beiden Fällen notwendig, ob Leningrad durchhält oder übergeben wird. Für uns ist die Armee wichtiger.32

Wassiljewski unterstrich die Botschaft am selben Tag in einem persönlichen Anruf bei Fedjuninskis 54. Armee. Unbewaffnete Verstärkungen würden aus Wologda entsandt, doch darüber hinaus sei die Armee auf sich selbst gestellt. »Bitte berücksichtigen Sie, dass es in der gegenwärtigen Situation weniger darum geht, Leningrad zu retten, als darum, die Armee der Lenfront in Sicherheit zu bringen.«33

Moskau wurde auch noch im November Vorrang gewährt, als die Leningrader Zivilbevölkerung auf den Straßen zu sterben begann. Typisch ist ein Brief von Schukow an Schdanow vom 2. November. Die ersten Worte klingen vertraulich – »Meine Gedanken kehren häufig zu den schwierigen und interessanten Tagen und Nächten zurück, in denen wir gemeinsam arbeiteten und kämpften. Ich bedaure es sehr, die Angelegenheit nicht abgeschlossen zu haben, denn ich war überzeugt, es schaffen zu können« –, doch dann folgte der Pferdefuß: Die Generale der Zentralfront hätten »all ihre Soldaten vergeudet; von ihnen ist nichts als die Erinnerung übrig. Von Budjonny habe ich nur ein Hauptquartier und neunzig Mann erhalten; von Konew ein Hauptquartier und zwei Regimenter.« Könne Schdanow mit dem nächsten Luftkonvoi vierzig 82-mm- und sechzig 50-mm-Geschütze schicken, denn »Sie haben solche Waffen im Überschuss, während wir überhaupt keine besitzen«?34 Dagegen wurden Schdanows Bitten um mehr Transportflugzeuge und um Lieferung von Lebensmittelkonzentraten spät oder gar nicht erfüllt.35 »Sie haben uns vierundzwanzig Douglas-Maschinen zugewiesen«, erwiderte er auf eine weitere Forderung Stalins nach einem sofortigen, von Malenkow übermittelten Durchbruch. »Wo sind sie? Schicken Sie sie uns so schnell wie möglich.«36

Insgesamt lieferten die Leningrader Fabriken der Zentralfront zwischen dem 1. Oktober und ihrer weitgehenden Schließung im Dezember 452 76-mm-Feldgeschütze mit über 29000 Panzergranaten und 1854 Mörser von unterschiedlichem Kaliber. Im Rückblick hätten sie vielleicht effektiver außerhalb Leningrads eingesetzt werden können. Bei Moskau vermochten sie nicht den Ausschlag zu geben, dagegen hätten sie südlich von Ladoga, wo die Deutschen am Seeufer nur ein fünfzehn Kilometer breites Gelände besetzt hielten, mehr bewirken können. Hätte die Rote Armee zu diesem Zeitpunkt einen sicheren Landweg aus der Stadt hinaus eingerichtet – ein Jahr bevor sie dies tatsächlich schaffte –, wären nicht nur Hunderttausende von Zivilisten vor dem Hungertod gerettet worden, sondern die Rüstungsfabriken der Stadt hätten auch, zum Nutzen sämtlicher sowjetischer Kriegsanstrengungen, ihre normale Produktion wieder aufnehmen können. Aber nach Lage der Dinge wurde Leningrad durch die massive Produktion in jenem Herbst lahmgelegt und der Mittel beraubt, entweder die Belagerung zu durchbrechen oder sie – außer um den Preis gewaltiger Verluste an Zivilisten – zu überleben.