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Leichenfresserei und Menschenfresserei

Ein anderer Aspekt der Belagerung, der keinen Platz in der traditionellen Sowjetgeschichte findet, ist die Kriminalität. Die Leningrader, behauptet Versorgungskommissar Dmitri Pawlow, seien zu »hochsinnig« gewesen, um Brote, die aus einem durch Geschosse beschädigten Lastwagen hervortrudelten, an sich zu raffen. Sie hätten sogar die Parkbäume »eifrig davor geschützt, zu Feuerholz gemacht zu werden«. Ihr Beispiel habe die Erklärungen »ausländischer Autoren« widerlegt, »die verkünden, dass der Mensch seine Moral einbüßt und zu einem Raubtier wird, wenn der Hunger machtvoll auf ihn einwirkt. Träfe dies zu, hätte in Leningrad Anarchie herrschen müssen.«1

In Leningrad herrschte während der Belagerung zwar keine Anarchie, doch die Stadt litt unter einer Verbrechenswelle, die insbesondere Diebstahl und Mord wegen Lebensmitteln und Lebensmittelkarten und – berüchtigt – Kannibalismus umfasste. Das häufigste aller Gewaltverbrechen war der einfache Raub. Jelena Kotschina, die Mitte Dezember 1941 von einem Brotladen heimkehrte, sah einen halbwüchsigen Jungen in der Uniform einer Gewerbeschule auf sich zulaufen. Sie trat beiseite, doch er packte ihr Brot und rannte weiter, wonach sie entsetzt auf ihre leeren Hände starrte. Zu Hause machte eine Nachbarin ihr Vorwürfe, weil sie das Brot nicht unter ihrem Mantel verborgen habe. Vier Tage später wurde Jelenas Mann wegen einer fallen gelassenen Brotkruste mit einem anderen Gewerbeschüler in einen Streit verwickelt:

Heute traf [Dima] auf ein paar mit Brot beladene Schlitten. Fünf bewaffnete Wächter begleiteten sie, und eine Menschenmenge, die die Laibe wie gebannt fixierte, folgte ihnen. Dima schloss sich allen anderen an. Am Brotgeschäft wurden die Schlitten entladen. Die Menge fiel über die leeren Kästen her und suchte nach zerkrümelten Brotstücken. Dima fand eine große Kruste, die in den Schnee getrampelt war. Aber ein Junge riss sie ihm aus den Händen. Er kaute darauf, dieser grässliche Flegel, schmatzte mit den Lippen und sabberte. Dima verlor die Beherrschung. Er packte den Jungen am Kragen und schüttelte ihn, ohne zu wissen, was er tat. Der Kopf des Jungen ruckte auf seinem dünnen Hals hin und her wie der einer Stoffpuppe. Doch er kaute mit geschlossenen Augen eilig weiter. »Sie ist weg, sie ist weg! Guck mal!«, rief er plötzlich und machte den Mund weit auf.2

Die Gewerbeschüler, die in Dutzenden ähnlicher Berichte als Diebe genannt werden, gehörten, wie die bäuerlichen Flüchtlinge in den Vororten, zu einer der besonders schutzlosen sozialen Gruppen Leningrads.3 Die Gewerbeschulen (remeslennyje utschilischtscha), deren Zahl man kurz vor dem Krieg erheblich erhöht hatte, waren Internate, in denen Jugendliche aus den Dörfern zu Fabrikarbeitern ausgebildet werden sollten. Sie galten als minderwertig. Nachdem sich der Belagerungsring geschlossen hatte, waren die Schüler von ihren Familien abgeschnitten und damit in vielen Fällen nachlässigen oder skrupellosen Schulverwaltern ausgeliefert. Alexej Kossygin, der aus Moskau entsandte Kommissar, der die Massenevakuierung über die Eisstraße beaufsichtigen sollte, konnte nicht übersehen, dass diese Jungen noch magerer als die übrige Bevölkerung waren. Er sah sich veranlasst, die Gewerbeschule Nr. 33 persönlich zu inspizieren. Wie er entdeckte, waren die Jungen verlaust und schliefen, ohne Laken oder Kissenbezüge, jeweils zu zweit oder zu dritt in einem Bett, wobei Kranke und Gesunde nicht voneinander getrennt wurden. Noch schändlicher war, dass das Küchenpersonal die Lebensmittelbestände systematisch plünderte und den Kindern nur die Hälfte der Rationen (oder noch weniger) zukommen ließ. Ein Schülervertreter, schrieb Kossygin wütend an Schdanow, solle die Küchen kontrollieren; die leitenden Angestellten und das übrige Personal seien zu verhaften und vor Gericht zu stellen. Die Sterblichkeitsziffer in den Gewerbeschulen ist unbekannt, doch sie wird auf kaum glaubliche 95 Prozent geschätzt.4

Die Zahl der Diebstähle durch Tausende der anderen verlassenen Kinder Leningrads verringerte sich erst dadurch, dass man achtundneunzig neue Waisenhäuser eröffnete und später evakuierte. Allerdings nahmen viele von ihnen nur Kinder unter dreizehn Jahren auf. »Die Lage der elternlosen Vierzehn- und Fünfzehnjährigen«, stand in einem Bericht an Schdanow, »ist besonders schwierig. Sie werden von Kinderheimen zurückgewiesen, versammeln sich vor Bäckereien und anderen Läden und reißen Käufern Brot und sonstige Nahrungsmittel aus den Händen.« Das Personal der städtischen Erziehungsabteilung, hieß es weiter, schicke nicht einmal jüngere Kinder in Waisenhäuser, wenn sie nicht sauber, frei von Infektionen und im Besitz aller erforderlichen Papiere seien.5 Von größerem Interesse für die Miliz war die Gefahr, dass wütende Mengen an den Brotläden außer Kontrolle gerieten und zu plündern begannen. Zwar wurde die Lebensmittelverteilung nie ernstlich gestört, doch es kam zu krawallähnlichen Vorfällen, vor allem im Januar und Februar 1942, als die Leningrader schon in den frühen Morgenstunden aufstanden, um sich in die Schlangen einzureihen, und häufig trotzdem kein Brot erhielten. An einem späten Januarabend hielt Dmitri Lasarew Ausschau nach seiner Frau, die sich am selben Morgen um sieben Uhr einer Schlange angeschlossen hatte. Er fand sie vor einem Brotladen auf dem Bolschoi-Prospekt:

Die Menschen wurden jeweils zu zehnt in das Geschäft eingelassen. Einmal, als wieder zehn an der Reihe waren, stürmten alle hinter ihnen ebenfalls vor und begannen, die Türen einzuschlagen. Zwei Polizisten versuchten, die Menge zurückzuhalten, und behaupteten schließlich, dass sie alle einlassen würden, sobald die Menge ein paar Schritte zurücktrat. Als die Menschen ihrem Rat folgten, verriegelten sie die Türen und gaben bekannt, dass der Laden geschlossen sei und alle nach Hause gehen sollten. Man hörte laute Rufe und Beschwerden, denn manche hatten seit zwei Tagen nichts gegessen und andere hatten hungernde Kinder.

Die Ordnung wurde erst wiederhergestellt, als Lasarew und ein paar andere Männer an die Hintertür des Ladens traten und den Geschäftsführer überredeten, die Rationen für weitere siebzig Leute freizugeben.6 Insgesamt verzeichnete das NKWD in den ersten siebenundzwanzig Januartagen zweiundsiebzig derartige »Angriffe« auf Lebensmittelläden, -karren und -schlitten. In einem Fall bewarfen Plünderer das Personal mit Ziegelsteinen, doch meistens drangen die Wartenden nur hinter den Tresen vor, oder kleine Gruppen (manchmal bewaffnete Deserteure, doch häufiger Frauen oder Gewerbeschüler) stießen Lieferschlitten oder Handkarren um und verschwanden mit der Ladung.7 »In Brotladen Nr. 218«, wird in einem typischen Bericht von Anfang Januar gemeldet,

stürzte die Menge, aufgehetzt von einer unbekannten Person, hinein und schleppte 100 Kilo Brot fort. Es gelang uns, ein paar Menschen zu verhaften. In Brotladen Nr. 399 wurden etwa 50 Kilo Brot von der Menge gestohlen, doch kein einziger Plünderer konnte verhaftet werden. Eine Gruppe fiel über den Wagen von Brotladen Nr. 318 her, der die neue Lieferung herbeibrachte. Am Abend des 7. Januar entdeckte man zwei Personen, die sich unter dem Ladentisch verbargen. Wie sich herausstellte, trugen sie Messer bei sich. Am selben Tag wurde Laden Nr. 20 am Prospekt Gasa ausgeraubt. Ähnliche Vorfälle spielten sich im Smolny-Bezirk und in anderen Distrikten ab.8

Daraufhin postierte man mehr Polizisten vor den Läden, ließ die Lieferfahrzeuge unterschiedliche Routen einschlagen und rüstete sie mit Wächtern aus.9

Eine der sehr wenigen Tagebuchschreiberinnen, die gestehen, von Lebensmitteldiebstählen profitiert zu haben, ist Jelena Kotschina. Ihr durch Ödeme aufgedunsener Mann Dima benutzte seit Mitte Dezember einen angespitzten Spazierstock, um damit Brote in einem unbeleuchteten Laden aufzuspießen. Einmal beobachtete ihn eine der ebenfalls Wartenden, folgte ihm auf die Straße und drohte, ihn anzuzeigen:

»Gib mir die Hälfte, oder ich mache Meldung«, flüsterte sie und packte ihn am Ärmel … Sie traten in einen Hauseingang, und Dima stieß der Frau das Brot mit den Worten ins Gesicht: »Hier, erstick daran!« Die Frau griff nach dem Brot, setzte sich auf die Stufe und stopfte es sich gierig in den Mund. Eine kurze Zeit lang sah Dima ihr schweigend zu. Dann setzte er sich neben sie und aß seine eigene Hälfte. So hockten sie da und kauten, einander hin und wieder beschimpfend, bis sie alles aufgegessen hatten.

Ein Sack Buchweizen, den sie Mitte Januar im Lebensmittelgeschäft einer Fabrik entwendeten, ermöglichte den Kotschins, wieder zuzunehmen. Sie verbargen es vor den Nachbarn, indem sie sich absichtlich nicht wuschen. Die Angestellten von Brotläden, schrieb Jelena zu ihrer Rechtfertigung, seien genauso unehrlich und »rund wie Kugeln«: »Für Brot bekommen sie alles, was sie haben wollen. Fast alle tragen, ohne die geringste Scham, Gold und teure Pelze. Manche arbeiten sogar in üppigen Zobel- und Robbenmänteln hinter dem Ladentisch.«10

Morde zur Beschaffung von Nahrung oder Lebensmittelkarten häuften sich: In der ersten Jahreshälfte 1942 wurden 1216 Menschen aus diesem Grund verhaftet.11 Viele Leningrader hatten Angst, in einsamen Straßen von Fremden angegriffen zu werden, doch in den vom NKWD genannten Fällen war eher die Rede von Personen, die Familienmitglieder, Kollegen und Nachbarn töteten. Oftmals waren sowohl Täter als auch Opfer unterprivilegierte Jugendliche. Ein typisches Beispiel ist das eines Achtzehnjährigen, der seine beiden jüngeren Brüder mit einer Axt umbrachte. Er wurde verhaftet, bevor er auch seine Mutter ermordete. Nachdem er bei einem Gelegenheitsdiebstahl erwischt worden sei, erklärte er im Verhör, habe er seine Stelle und damit auch seine Arbeiterrationskarte verloren; daraufhin habe er beabsichtigt, die Coupons seiner Brüder zu benutzen. Zwei weitere Jugendliche, achtzehn und fünfzehn Jahre alt, verletzten ihre Nachbarinnen, eine Mutter und deren sechsjährige Tochter, schwer und wurden verhaftet, als sie die Karten der Opfer gegen Brot eintauschen wollten. Ein sechzehnjähriger Maschinenarbeiter wurde in seinem Wohnheim von einem Kollegen ermordet, nachdem er damit geprahlt hatte, Lebensmittelabschnitte für mehrere Tage eingelöst zu haben.12

Weitere Verbrechen konnten wahrscheinlich nicht dokumentiert werden, weil im tiefsten Winter nur noch ein Teil der Miliz ihre Funktionen ausübte. Am 10. Februar bat der Leningrader NKWD-Chef P.N. Kubatkin seine Vorgesetzten in Moskau, ihm tausend weitere Männer zur Bewachung der städtischen Fabriken zuzuteilen. Von den 2800 Mitgliedern seiner Brigade seien 152 an »Erschöpfung« gestorben, 1080 lägen im Krankenhaus und mindestens 100 würden sich jeden Tag krankmelden.13 Die Pawlowsker Museumsdirektorin Anna Selenowa, zu deren Aufgaben es gehörte, in Privatbesitz befindliche Antiquitäten offiziell zu verwahren, verließ einmal die Wohnung eines (angeblich dankbaren) Sammlers und fand den Polizisten, der sie begleitet hatte, tot auf einem Stuhl im Treppenhaus vor.14 Auch gibt es Anhaltspunkte für verbreitete Korruption und Schnelljustiz. »Wenn man entdeckte, dass Brot gestohlen worden war«, erinnerte sich ein nach dem Krieg Ausgewanderter, »trieb man fünf Leute zusammen und erschoss sie, gleichgültig ob sie etwas mit dem Diebstahl zu tun hatten oder nicht.«15

Im Großen und Ganzen vermitteln die Überlebenden des ersten Belagerungswinters jedoch den Eindruck, dass sich die Bürger weniger vor Straßenräubern und Mördern als vor Stille, Leere und Isolation fürchteten. Die elfjährige Angelina Kupaigorodskaja verbrachte den Winter allein in der Wohnung ihrer Familie an der Fontanka, da sich ihre Eltern, beide Chemieingenieure, an ihrem Arbeitsplatz einquartieren mussten. Sieben Jahrzehnte später führt sie ihr Überleben auf eine Liste von Regeln zurück, die ihr Vater für sie niedergeschrieben hatte: Sie solle sich täglich waschen und ihren Toiletteneimer leeren, nie mehr als eine einzige Tagesration abholen und regelmäßig das Postamt für den Fall aufsuchen, dass Verwandte Geld überwiesen hatten. Das Haus zu verlassen sei beängstigend gewesen, doch nicht weil sie sich vor Verbrechen fürchtete (im Gegenteil, sie habe erst lange nach dem Krieg gelesen, dass es so etwas gegeben hatte). Damals fühlte sie sich »allein in der Stadt, ganz allein. Ich ging jeden Tag zum Laden und zurück, betrat unseren Hof, stieg die Treppe hinauf und öffnete meine Tür. Jeder hätte mich mit dem kleinen Finger umstoßen können. Aber ich begegnete nie einer Seele.«16 Jelena Kotschina trat gewöhnlich in den Treppenflur, um auf die Ankunft ihres Mannes zu warten, wenn er von einem seiner Brotdiebstähle zurückkehrte: »Von unten stieg die Stille auf wie Dampf und verdichtete sich auf der Treppe. Ich spuckte den Treppenschacht hinunter und hörte zu, wie der Speichel unten dröhnend aufschlug. So stand ich, spuckend und lauschend, lange in der Dunkelheit.«17

Das berüchtigste Verbrechen der Belagerungszeit – und das bezeichnendste für die Verzweiflung der Leningrader – war Kannibalismus. Die Dichterin Olga Berggolz erfuhr davon zum ersten Mal von einem befreundeten Psychiater:

Vor nicht langer Zeit teilte Prendel uns mit, dass die Leichenfresserei zunimmt. Im Mai [1942] hatte sein Krankenhaus mit fünfzehn Fällen zu tun, verglichen mit elf im April. Er musste – und muss immer noch – als Sachverständiger darüber aussagen, ob Kannibalen für ihre Handlung verantwortlich sind. Kannibalismus – eine Tatsache. Er erzählte uns von einem kannibalischen Paar, das zuerst die kleine Leiche ihres Kindes verzehrte, dann drei weitere Kinder in eine Falle lockte, sie ermordete und ebenfalls aufaß. Aus irgendeinem Grund fand ich seine Worte lustig – wirklich lustig, besonders wenn er versuchte, die Kannibalen zu entlasten. Ich entgegnete: »Aber du hast doch deine Großmutter nicht gegessen!« Danach konnte ich seine Kannibalengeschichten einfach nicht mehr ernst nehmen. All das ist so abscheulich – Kannibalen, Dächer mit Löchern darin, herausgesprengte Fensterscheiben, sinnlos zerstörte Städte. O ja, das Heldentum und die Romantik des Krieges!18

Bis zur Veröffentlichung von Milizunterlagen im Jahr 2004 waren die Hinweise darauf, dass während der Belagerung Menschenfleisch gegessen wurde, eher anekdotischer Art. Damals glaubte man den Gerüchten, dass Kinder auf der Straße entführt worden seien, und in Tagebüchern ist von Leichen die Rede, die nicht nur ihrer Kleidung, sondern auch ihrer Schenkel und Gesäße beraubt wurden. Die schauerliche Beschreibung eines jungen Paares, das in eine zum Schlachthaus gewordene Wohnung gelockt wurde (von Harrison Salisbury in seinem Buch 900 Tage als Tatsache wiedergegeben), erweist sich bei näherer Betrachtung als Szene aus einem Roman, den man, vermutlich im Rahmen der nationalsozialistischen Propaganda, in der besetzten Ukraine veröffentlicht hatte.19

Die meisten Menschen wussten vom Kannibalismus weniger aus persönlicher Erfahrung, sondern eher durch Horrorgeschichten aus zweiter Hand. »Auf dem Pokrowskaja-Platz«, schrieb der Geografielehrer Alexej Winokurow, »stieß ich auf eine Menschenmenge, die stumm die Leiche einer ungeschickt geschlachteten drallen jungen Frau betrachtete. Wer hat das getan und warum? Werden die hartnäckigen Gerüchte über Kannibalismus dadurch untermauert?«20 Als eine recht gesunde Bekannte von Dmitri Lichatschow nicht heimkehrte, nachdem sie sich zum Zweck eines Tauschhandels zu einer zwielichtigen Adresse begeben hatte, überlegte er, ob sie von den finsteren Gestalten ermordet worden sei, die auf dem Heumarkt Hackkoteletts anboten.21 Olga Gretschina, die den Lohn in ihrer Fabrik abholte, fiel auf, dass sich Metallspäne um die Werkbänke angesammelt hatten. Daraufhin erkundigte sie sich, was aus der alten Putzfrau, die den Kosenamen Tante Nastja trug, geworden sei. Die Antwort, dass man Nastja hingerichtet habe, kam ihr zunächst wie ein Witz vor: »Aber nein, es stimmt! Sie hat ihre Tochter gegessen – unter dem Bett versteckt und Stücke von ihr abgeschnitten. Die Miliz hat sie erschossen. Heutzutage wird man gar nicht erst vor Gericht gestellt.«22

Die Stadtverwaltung wurde vom NKWD, das die ersten neun Fälle des »Gebrauchs von Menschenfleisch als Speise« in einem Situationsbericht vom 13. Dezember 1941 anführte, detailliert auf dem Laufenden gehalten. Eine Mutter hatte ihre achtzehn Monate alte Tochter erstickt, um sich selbst und drei ältere Kinder zu ernähren; ein sechsundzwanzigjähriger Mann hatte, nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes in einer Reifenfabrik, seinen achtzehnjährigen Zimmergefährten ermordet und gegessen; ein Metallarbeiter (ein Parteimitglied) und sein Sohn hatten zwei weibliche Flüchtlinge mit einem Hammer erschlagen und ihre Körperteile in einem Schuppen versteckt; ein arbeitsloser Klempner hatte seine Frau umgebracht, um ihre jugendlichen Söhne und Nichten zu ernähren, ihre Überreste verbarg er in den Toiletten des Lenenergo-Wohnheims.23 Zehn Tage später wurden dreizehn weitere Fälle gemeldet: Ein erwerbsloser Achtzehnjähriger hatte seine Großmutter mit einer Axt ermordet, ihre Leber und Lunge gekocht und aufgegessen; ein Siebzehnjähriger hatte eine unbeerdigte Leiche von einem Friedhof gestohlen und sie durch einen Tisch-Fleischwolf gedreht; eine Reinmachefrau hatte ihre einjährige Tochter getötet und sie an ihren zweijährigen Sohn verfüttert.24 Zu den Ersten, die Menschenfleisch aßen, gehörten die kriminell vernachlässigten Schüler der remeslennyje utschilischtscha. In der Gewerbeschule Nr. 39 in der Mochowaja-Straße

waren die Schüler sich selbst überlassen. Sie wurden nicht beaufsichtigt und erhielten für Dezember keine Lebensmittelkarten. Den ganzen Monat hindurch aßen sie das Fleisch von Katzen und Hunden. Am 24. Dezember starb der Schüler Ch. an Unterernährung, und seine Leiche wurde von den anderen Zöglingen teilweise verzehrt. Am 27. Dezember verhungerte ein zweiter Schüler namens W., dessen Leiche ebenfalls gegessen wurde. Elf Personen sind wegen Kannibalismus verhaftet worden; alle haben ihre Schuld zugegeben. Schuldirektor Leimer und Kommandantin Plaxina, die dafür verantwortlich sind, dass diese Gruppe von Schülern ohne Nahrung oder Aufsicht zurückblieb, werden strafrechtlicher Verfolgung unterzogen.25

Insgesamt verhaftete die Miliz im Dezember nur 26 Personen wegen Kannibalismus, doch die Zahl stieg im Januar auf 356 und im Februar auf 612. Sie halbierte sich im März und April auf 300, erhöhte sich im Mai wieder ein wenig und sank im Juni und Juli stark ab.26 Bis Dezember 1942, als das Phänomen allmählich verschwand, waren 2015 »Kannibalen« verhaftet worden.27

In der russischen Sprache trifft man eine moralisch wesentliche Unterscheidung zwischen trupojedstwo (»Leichenfresserei«) und ljudojedstwo (»Menschenfresserei«), also Mord aus Gründen des Kannibalismus. Trotz der grausigen Fälle innerfamiliärer Tötungen, die von der Miliz hervorgehoben wurden, war Ersteres weit häufiger (zum Beispiel erwiesen sich von den 300 »Benutzern von Menschenfleisch als Speise«, die im April 1942 verhaftet wurden, nur 44 als Mörder).28 Organisiertes Gangstertum war extrem selten: In den NKWD-Berichten ist nur von einem einzigen derartigen Fall die Rede – dem von sechs jungen Männern, darunter drei Eisenbahnarbeiter, die dreizehn Personen, zumeist vor Brotläden, mit dem Angebot eines Tauschhandels überredet hatten, ihnen in eine Wohnung zu folgen. Dort hatten sie die Opfer mit einem Schlag auf den Hinterkopf getötet.29 Auch kam Kannibalismus im Zentrum erheblich seltener vor als in den Vororten, die ärmer waren, weniger sorgfältig von der Miliz überwacht wurden und wo die überfüllten Friedhöfe lagen. (Die meisten Verhaftungen wurden in den entlegenen Primorski- und Krasnogwardeiski-Bezirken und an der industriellen Wyborger Seite vorgenommen; die wenigsten im Smolny-Bezirk, in dem sich die Parteizentrale befand.30) Am 22. Dezember hielten Polizisten, die am Serafimowskoje-Friedhof in Nowaja Derewnja patrouillierten, zwei Frauen an, die Säcke mit den Leichen von drei Kleinkindern mit sich trugen. Im Verhör stellte sich heraus, dass die eine mit einem Frontsoldaten, die andere mit einem Hausmeister verheiratet war und dass sie geplant hatten, ihre Töchter (im Alter von achtzehn und sechzehn Monaten) mit dem Fleisch zu füttern. Zwei weitere Leichenräuber – ein Fabrikarbeiter und ein Tischler – wurden am folgenden Tag ebenfalls auf dem Serafimowskoje-Friedhof verhaftet; sie hatten beabsichtigt, ihre eigenen Kinder mit dem Inhalt ihrer Säcke am Leben zu erhalten.31 Ein dreiundvierzigjähriger arbeitsloser Mann, seine Frau und ihr dreizehnjähriger Sohn wurden beim »systematischen Diebstahl« von Toten aus der Leichenhalle eines Krankenhauses ertappt, und eine vierundzwanzigjährige Krankenschwester fiel der Polizei auf, weil sie amputierte Gliedmaßen aus einem Operationssaal an sich gebracht hatte.32

Leicht zugänglich waren auch die Leichen von verhungerten Kollegen oder Verwandten. Typisch für das kollektive Handeln, das diese Art von trupojedstwo häufig hervorbrachte, dürften mehrere Fälle im Januar und Februar gewesen sein. In der Erste-Mai-Fabrik teilte sich eine Gruppe von neun Männern, die alle im selben Wohnheim einquartiert waren, die Leiche eines Kollegen.33 In der Lenin-Fabrik verzehrte eine Arbeiterin ihren elfjährigen toten Sohn mit zwei Freundinnen. Eine Putzfrau teilte sich die Leiche ihres Mannes mit ihrem arbeitslosen Nachbarn; der Elektriker und der stellvertretende Leiter eines öffentlichen Badehauses aßen den verhungerten Heizer der Einrichtung.34 Drei Angehörige eines Zivilschutzteams, darunter ein Parteimitglied, teilten sich eine Leiche, die sie bei der Absicherung eines zerbombten Gebäudes entdeckt hatten.35

Der Optiktechniker Dmitri Lasarew hinterließ einen Augenzeugenbericht über ein Angebot, sich einer derartigen Aktion anzuschließen:

Valentina Antonowna (eine Freundin von Nina [Lasarews Frau]) kam vorbei. Zitternd vor Emotionen, erzählte sie, wie eine Frau gestern hartnäckig versucht habe, sie in eine grässliche Angelegenheit hineinzuziehen. Früher am Tag waren mehrere Zivilschutzarbeiterinnen durch herabstürzende Balken zermalmt worden, während sie ein Gebäude auf der Krestowski-Insel abrissen. Ihre Leichen hatte man in einen leeren Schuppen neben der Wohnung gebracht, in der diese Frau allein einquartiert ist. Sie schlug Valentina Antonowna vor, die Leiche eines der Mädchen in ihre Wohnung zu schleppen, das Fleisch zuzubereiten, einen Teil davon zu essen und den Rest für die Zukunft einzusalzen. Sie sagte, sie habe Feuerholz, könne jedoch nicht alles ohne Hilfe schaffen. Als Ansporn nannte sie das Beispiel ihrer Schwester, die seit drei Wochen Menschenfleisch esse, wieder zu Kräften gekommen sei und sich viel gesünder fühle. Gebieterisch erklärte sie, sie wolle nichts von Zaudern hören, denn es sei eine Frage von Leben und Tod, und am folgenden Morgen werde sie erscheinen, damit die beiden sich gemeinsam an die Arbeit machen könnten.

Valentina Antonowna tat die ganze Nacht kein Auge zu. Einerseits weigerte sie sich empört, den Vorschlag auch nur zu erwägen, andererseits war sie beim Anblick ihres schlafenden erwachsenen Sohnes überzeugt, dass sie sich seinetwegen darauf einlassen solle. Aber dann stellte sie sich in allen konkreten Einzelheiten vor, was die Sache nach sich ziehen würde, und sprang auf: »Nein! Nur das nicht! Ich würde den Verstand verlieren!« Vor dem Morgen hatte sie sich erneut eingeredet, dass es kein Mord sei, dass die Mädchen ohnehin tot seien und dass, wenn sie den Vorschlag ablehne, ihr hoch gewachsener, breitschultriger Sohn verhungern werde. Damit schlief sie wieder ein, erwachte heute Morgen und wartete auf ihre Besucherin. Aber als die Frau auftauchte, weigerte Valentina Antonowna sich heftig, was sie selbst überraschte. Die Frau verschwand unter wütenden Flüchen.36

Vierundsechzig Prozent der wegen »Benutzung von Menschenfleisch als Speise« Verhafteten waren Frauen, 44 Prozent arbeitslos oder »ohne feste Beschäftigung« und über 90 Prozent Analphabeten oder Grundschulabsolventen. Nicht mehr als 15 Prozent gehörten zu den »eingesessenen Einwohnern« von Leningrad, und nur 2 Prozent hatten Vorstrafen.37 Mithin war der typische Leningrader »Kannibale« weder jemand wie Sweeney Todd, die britische Romanfigur des neunzehnten Jahrhunderts, die mit Menschenfleisch Geschäfte machte, noch der verrohte Barbar der sowjetischen Geschichtsschreibung. Es war vielmehr die ehrliche, einfache Arbeiterhausfrau aus der Provinz, die ihre Familie retten wollte.

Bemerkenswerterweise unternahmen die Leningrader medizinischen Behörden mindestens einen Versuch, diejenigen, die zum Verzehr von Menschenfleisch getrieben wurden, als geisteskrank einstufen zu lassen. Am 20. Februar 1942 berief der Chef des medizinischen Dienstes der Leningrader Front eine Sondersitzung von sieben erfahrenen Psychiatern ein – darunter Hochschullehrer, der Leiter einer psychiatrischen Anstalt, der Chefpsychiater der Gerichte und ein Vertreter des militärmedizinischen Dienstes –, um zu entscheiden, ob Leichenfresser für ihre Taten strafrechtlich belangt werden könnten. Das Urteil der Ärzte war auch vom juristischen Standpunkt aus widersprüchlich: Leichenfresser seien zurechnungsfähig, aber nicht unheilbar kriminell. Eine hiervon abweichende Stimme argumentierte, definitionsgemäß könne keine geistig gesunde Person Kannibalismus begehen, aber sie sei trotzdem vor Gericht zu stellen: »Dies sind zurückgebliebene und sozial gefährliche Menschen! Wir müssen streng mit ihnen umgehen!« Am Ende entschied man, Kannibalen seien zumeist geistig gesund, doch »primitiv, von einem niedrigeren moralischen und intellektuellen Niveau«. Zwar seien alle gefährlich, doch »Zeiträume der Isolierung« müssten individuell festgelegt werden, wobei die Umstände des Verbrechens (»aktive oder passive Leichenfresserei«) und die Persönlichkeit des Missetäters zu berücksichtigen seien.38

In der Praxis jedoch wurden sämtliche Kannibalen – ob zurechnungsfähig, wahnsinnig, Mörder oder harmlose »Leichenfresser« – als Kriminelle behandelt. Da das Strafgesetzbuch Kannibalismus nicht vorsah, wurde er dem Pauschalbegriff »Banditentum« (Artikel 59,3 des Strafgesetzbuchs) zugeordnet. Zur Zeit der Zusammenkunft der Psychiater waren bereits 554 »Banditen der speziellen Kategorie« vor Militärgerichte gestellt worden; davon hatte man 329 erschossen und 53 zu zehnjähriger Haft verurteilt. Mindestens 45 weitere waren im Gewahrsam gestorben (mutmaßlich an Hunger).39 Doch obwohl keine offizielle Unterscheidung zwischen Mördern und »Leichenfressern« getroffen wurde, deuten die abweichenden Urteilssprüche darauf hin, dass Letztere relativ gut davonkamen. Von den 1913 Kannibalen, deren Fälle man bis Anfang Juni abgeschlossen hatte, wurden 586 zur Hinrichtung und 668 zu Haftstrafen von fünf bis zehn Jahren verurteilt.40 Was den übrigen 659 zustieß, ist ungewiss. Vielleicht warteten sie noch auf ihr Urteil, vielleicht trafen sie aber auch auf Milde. Es mag nicht nur Wunschdenken sein, wenn man hinter der häufig wiederkehrenden Feststellung, der typische »Benutzer von Menschenfleisch als Speise« sei eine mittellose Frau mit abhängigen Kindern und ohne Vorstrafen, verschlüsselte Aufrufe zur Nachsicht vermutet. Es wäre eine Erleichterung zu wissen, dass diese Aufrufe gehört wurden.