10

Die Eisstraße

Der zweiunddreißigjährige Oberleutnant Fritz Hockenjos war Befehlshaber eines Radfahrzugs innerhalb der 215. Infanteriedivision von General Buschs 16. Armee.2 Im Zivilleben Förster, stammte er wie die meisten seiner Männer aus Lahr, einer malerischen mittelalterlichen Stadt, die mitten in den geschwungenen Weinbergen am Westrand des Schwarzwaldes liegt. Er hatte eine Frau namens Elsa und zwei kleine Söhne; seine Hobbys waren Jagd, Vogelbeobachtung, Fotografie und Gesang im örtlichen Kirchenchor.

Am 24. November fuhr er mit einem Militärzug in die Sowjetunion ein. Als Erstes sah er, vom Flachwagen mit den Flakgeschützen aus, die großzügigen Ackerflächen Litauens. »Hier war ein Land nach meinem Herzen! Endlich einmal kein Stacheldraht und keine Leitungsmasten, aber Freiheit und Weite!« Als die Soldaten an einem ländlichen Bahnhof hielten, um ihre Pferde zu füttern, wurden sie rasch von einer freundlichen Schar unbeholfener Teenager und von Frauen in Filzstiefeln und mit bunten Kopftüchern umringt. »Sie sprachen fast alle ein wenig Deutsch, lachten gern mit uns … Wieder setzte lebhafter Tauschhandel ein, und als die Kapelle einen Walzer spielte, fehlte nicht viel und die Landser hätten mit den strammen Litauerinnen getanzt, die auch gar nicht abgeneigt schienen.« Am folgenden Tag stoppten sie in Riga, wo sie ihre ersten Russen erblickten: Kriegsgefangene, die, bewacht von einem lettischen Heimwehrmann, zwischen den Gleisen arbeiteten:

… zerlumpte, ausgemergelte Gestalten mit stumpfen Gesichtern. Sie machten einen so ausgehungerten Eindruck, daß man jeden Augenblick ihr Umfallen befürchtete. Sie kamen zu unserm Zug und bettelten – ich erschrak vor dem Vergleich, aber es gab keinen andern: wie Tiere. Unsere gutmütigen Landser fütterten sie mit Brot, doch der Lette trieb die armen Teufel mit dem Gewehrkolben weiter. Im Davontrotten lasen sie zwischen den Gleisen Wursthäute, Brotkrumen, Zigarettenstummel auf und stopften alles gierig in den Mund. Der Lette erzählte, daß von den Gefangenen seines Lagers täglich etwa fünfzig an Hunger oder Krankheit starben oder bei Fluchtversuchen erschossen wurden. Er erzählte aber auch, daß die Bolschewiken bei ihrem Rückzug 50% der Rigaer Kinder und 60% der Einwohner von Dünaburg verschleppt hätten. Uns schauderte; hier im Osten wehte eine verdammt harte Luft. Europa schien hier aufzuhören.

Am Abend des 26. November erreichten sie die Drahtverhaue und hölzernen Wachtürme der bis 1939 geltenden Grenze mit Russland. »Ich hockte am Fenster und hauchte mir immer wieder ein Guckloch in die vereisten Scheiben. Im bleichen Mondlicht sah ich Heide, Moor, abgeholzten Wald, verwilderte Äcker, Gestrüpp.« Von nun an musste der Zug nachts verdunkelt und die Lokomotive nach jedem Halt mit Lötlampen aufgetaut werden. Sie rollten durch »die ewig gleiche, trostlose Landschaft«:

… dünnes Gestrüpp von Weiden und Birken bedeckte die weiße Einöde, eine Herde dunkler Blockhütten kauerte verloren darin, schwarze Wälder begrenzten den Horizont, es schneite ein wenig. Viele Stunden lang lagen wir auf offener Strecke fest. Zuweilen arbeiteten dick vermummte Gestalten an den Gleisen, Weiber und alte Männer; sie sahen uns Vorbeifahrende an, als sähen sie uns nicht. Nur die Kinder winkten uns nach oder bettelten um Brot. »Pan, gib Brot!« riefen sie, und das war das erste Wort, das wir von russischen Menschen hörten und immer wieder hörten.

Am 28. November stiegen Hockenjos und seine Männer aus dem Zug und setzten ihren Weg auf der Straße fort, die von Soldaten, Pferden und langen Gefangenenkolonnen wimmelte. Ihre hoch bepackten Fahrräder im eiskalten Wind schiebend, überquerten sie den Fluss Wolchow auf einer Pionierbrücke, ließen den Schutthaufen der Stadt und des Schlosses Grusino hinter sich und suchten in einem Dorf nach dem anderen ihren Regimentsgefechtsstand. Sie fanden ihn schließlich in dem Dorf Rachmyscha, »zusammengepfercht in einer kleinen, stinkenden Hütte – die Offiziere des Stabes, die Schreiber, Zeichner, Melder, Fernsprecher und Funker alle in einem Raum«. Ihr eigenes Nachtquartier war eine Hütte in dem Dorf Ljuban, die einer Bäuerin und deren drei Kindern gehörte. Die Mutter beeilte sich, Hockenjos zu versichern, dass sie keine Russen, sondern Letten seien, Nachfahren von Baptisten, die der Zar »vom Kriegsdienst befreit und in der Wildnis am Wolchow angesiedelt« habe. »Die Sowjets aber hatten«, wie Hockenjos erfuhr, »die Männer im Jahre 1938 geholt und in ein Zwangsarbeitslager bei Archangelsk verschickt. Wir versprachen, ihr den Mann, wenn wir erst nach Archangelsk kämen, heimzuschicken. Adolf Hitler – den sie auf einer Briefmarke sofort erkannte – würde auch das in Ordnung bringen!«

Nach dem Abendessen spielte die Gastgeberin Choräle auf einem Harmonium, woraufhin die jungen Deutschen ihre Familienfotos hervorholten und die Kinder unterhielten, indem sie ihnen ihre Füllfederhalter, Taschenwecker und Dynamolampen vorführten. »Ich fragte sie nach Kolchos, Komsomol und Kommissar; nein, im Dorf habe es weder Parteimitglieder noch einen Kommissar, wohl aber einen Kolchosbetrieb gegeben. ›Oh, Kolchos kaputt! Gutt, gutt! – Bolschewik, oh, nix gutt!‹«

Am folgenden Tag kehrte der Radfahrzug zu seinem Bestimmungsort Rachmyscha, acht Kilometer hinter der Front, zurück. Am Abend schrieb Hockenjos:

Ich komme mit meinem Zugtrupp in ein Haus zu liegen, dessen typisch russischer, säuerlicher Gestank uns beinahe rücklings wieder hinauswirft. Die Wände sind mit alten Zeitungen beklebt, wegen der Wanzen, wie wir bald erfahren. Tisch, Bank, Bettschragen hinterm Ofen und zwei Heiligenbilder sind die ganze Einrichtung. Die einzigen Metallgegenstände scheinen das Ofenrohr und der Samowar zu sein … Fjodr, der Hauswirt, ist das Urbild des russischen Muschik. Sein Weib, unsäglich schmutzig, scheint die Quelle aller üblen Gerüche dieses Hauses zu sein. Das Alter dieser Menschen ist schwer zu schätzen, und so vermag man auch nicht zu sagen, ob das strohblonde, rotbäckige Mädchen, das mich mit seinen wohlgerundeten Formen und dreckigen Füßen immer an ein junges Milchschwein erinnert, nun die Tochter oder die Enkelin ist. Ein kleiner Rotznasenjunge namens Kolja vervollständigt die Familie …

Gesprochen wird da nicht viel bei uns, wir hocken um den Tisch oder liegen im Stroh, rauchend und teeschlürfend. Hin und wieder kommt Fjodr hinterm Ofen hervor und liest die Zigarrenstummel aus der Heringsbüchse. Enthält sie einmal nichts Brauchbares, so macht er sich ein Stückchen Zeitungspapier zurecht, kommt an den Tisch, schlägt die Hacken zusammen und hält uns grinsend das leere Papierchen hin. Dann muß ich wohl oder übel in den Tabaksbeutel greifen und ihm ein paar Krümel schenken, worauf er sich unter tiefen Bücklingen hinter den Ofen verzieht …

Die Armut dieses Volkes übersteigt alle Vorstellungen, die wir uns vom »Paradies der Arbeiter und Bauern« je machten. Zucker und Tee hat Fjodr seit Jahren nicht mehr gesehen, Tabak und Erdöl sind Kostbarkeiten. In der Ofenglut steht ein Topf mit Kartoffeln oder einer unbestimmbaren Brühe, davon lebt die Familie Tag für Tag. Dazu trinken sie heißes Wasser aus dem Samowar, schlürfen es aus alten Konservendosen. Als ich dem kleinen Kolja eine Rolle Drops schenkte, nahm die Alte sie sogleich an sich; nun bekommt jedes feierlich ein Gutsel in die Konservendose gelegt, ehe das heiße Wasser hineinsprudelt.

Das Leben war ab jetzt nicht nur unbequem, sondern auch beängstigend. Am Abend seiner Ankunft in Rachmyscha musste Hockenjos mit dem ersten einer langen Reihe von sowjetischen Partisanenangriffen fertig werden:

Um vier Uhr wird es Nacht, und die Stunden unter der trübseligen Erdölfunzel sind lang. Deshalb geht um acht Uhr alles zu Bett; die Russen klettern auf den Ofen, und wir legen uns auf das Stroh … Um zehn Uhr klopft es: »Alarm!« Auf der Straße nach Gladj stehe ein Lkw in Flammen, Schüsse seien gefallen. Radfahrerzug, sofort nachsehen!

Am Überfallplatz muss sich die Einheit um die Verwundeten kümmern. »Sonst kann ich nichts tun. Spuren im Wald sind nicht festzustellen. Russischer Fernspähtrupp? Partisanen? Um zwei Uhr morgens liegen wir wieder auf unserm Stroh.« Am 4. Dezember – »dabei grimmiger Frost: –30 °C« – waren drei weitere Lastwagen durch Minen gesprengt worden.

Wenn der Radfahrzug keine Verwundeten betreute, hatte er den Auftrag, Spähtruppunternehmen zwischen den von deutschen Soldaten besetzten Dörfern an der zerstreuten Front durchzuführen. Am Abend des 7. Dezember erhielten Hockenjos und seine Männer den Befehl, eine Nachbardivision aufzusuchen, um neue Anordnungen entgegenzunehmen und Waffen und Vorräte zurückzubringen. In der Stockfinsternis und bei 41 Grad Kälte entdeckten sie am folgenden Morgen um sechs Uhr, dass ihr Lastwagen, obwohl sie seinen Motor die ganze Nacht hatten durchlaufen lassen, eingefroren war. Also machten sie sich zu Fuß auf. »Der Frost beißt uns in die Gesichter. Die Augen schmerzen und füllen sich mit Wasser, das noch zwischen den Wimpern erstarrt. Die Sonne hebt sich, seltsam von rotem Rauch umwallt, aus den Wäldern, und es scheint selbst die klare Luft gefroren, so glitzert sie von feinsten Eiskristallen.« Um zehn Uhr erreichten sie den Bataillonsgefechtsstand, nachdem bereits zwei Mann durch Erfrierungen ausgefallen sind. »In fünf Stunden wird die Dämmerung hereinbrechen«, schrieb Hockenjos.

Wir stehlen uns zwischen unsern letzten Posten hindurch und tauchen im Niemandsland unter, eine lange Reihe, eine beängstigend lange Reihe dunkler Gestalten im lichten Aspenwald, ein schwerfälliger Haufen im knietiefen Schnee und ein gutes Ziel in der weißen Fläche. Wir haben ja weder Schneehemden noch Schneeschuhe.

Eine gute Stunde birschen wir schon durch den stillen, tief verschneiten, dick bereiften Hochwald. Inseln von Fichten und Kiefern sind eingesprengt … Eine große Lichtung öffnet sich, in der ein verfallenes Blockhaus steht. Wir meinen Bewegungen zu erkennen, ich bringe am Waldrand ein MG in Stellung und schicke eine Gruppe hinüber, – sie jagt zwei verwilderte Pferde in dickem Winterpelz auf, die sich am eingesunkenen Strohdach weideten. Mit wehenden Schweifen und Mähnen galoppieren sie durch den stäubenden Schnee davon.

Jenseits der Lichtung wird der Wald spärlicher, und der Schnee häuft sich hüfthoch. Die Männer überqueren die Spuren, wie ihnen scheint, eines Wolfs und eines Elchs. Von Süden ist der Lärm schwerer Gefechte zu hören, und sie pressen sich gegen die Bäume, als russische Kampfflugzeuge über sie hinwegrasen. Um 19 Uhr, vier Stunden nach Sonnenuntergang, gelangen sie auf eine Straße, wo sie eine Hütte und »eine Reihe froststarrer Toter« vor sich sehen: das Dorf Gorneschno.

Es gibt heißen Tee und östliches Kommißbrot! … Zwanzig von meinen Fünfzig haben Erfrierungen, meist schweren Grades. Einigen sind die Füße schon schwarz geworden, sie kriechen auf den Knien in ihren Quartieren umher.

Am Morgen erfahren sie, dass in der Nacht eine Feldküche über eine Mine gefahren sei; es gebe nur einen einzigen Überlebenden. »Wir warten auf unsern Lkw, doch er kommt nicht. Es kommt aber eine Suchkolonne aus dem Wald zurück und bringt die sieben Leichen des Spähtrupps, der uns gestern abend begegnete, bringt sie mit eingeschlagenen Schädeln und abgeschnittenen Nasen und Ohren.« Außerdem erfährt Hockenjos, mit zwei Tagen Verspätung, von dem japanischen Angriff auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbor. »Wenn das nun kein Weltkrieg ist!«, notiert er mit untypischer Schroffheit in seinem Tagebuch. »Mir scheint, ich habe Aussicht, es noch zum Hauptmann zu bringen.«

Hockenjos befand sich im Hinterland der zweiten Schlacht um Tichwin, eine Stadt hundertfünfundsiebzig Kilometer südöstlich von Leningrad und am östlichsten Punkt des deutschen Brückenkopfs über den Wolchow. Tichwin hatte strategische Bedeutung wegen seiner Lage an der Eisenbahnstrecke, auf der Vorräte für den Transport über den Ladogasee nach Leningrad befördert wurden. Das Besatzungsgebiet der Wehrmacht am südlichen Ufer des Sees, das sie am 8. September durch die Einnahme von Schlüsselburg gewonnen hatte, war zwar gefestigt, aber nur dreißig Kilometer breit. Züge, die durch Tichwin fuhren, konnten am Wolchow, zwanzig Kilometer südlich des Uferstädtchens Nowaja Ladoga, entladen werden. Trotz deutscher Luftangriffe gelangten Kähne über den See zu dem Datschendorf Ossinowez am westlichen, in sowjetischer Hand befindlichen Ufer. Eine kleine vorstädtische Eisenbahnlinie bewältigte dann die letzten fünfundvierzig Kilometer nach Leningrad. Auf diese Weise waren im Herbst Rationen für zwanzig Tage durch die Blockade gelangt.

Am 8. November, auf dem Höhepunkt der Schlacht um Moskau, fiel Tichwin mit 20000 Soldaten, 96 Panzern, 179 Geschützen und einem Panzerzug an die Deutschen.3 Dadurch wurde die Leningrader Rettungslinie zerschnitten. Versorgungszüge konnten nun nicht mehr an Nowaja Ladoga herankommen, sondern mussten Saborje, hundertsiebzig Kilometer östlich, ansteuern. Daraufhin befahl der Leningrader Militärrat den Bau einer neuen, zweihundert Kilometer langen Straße, die durch eine urwaldähnliche Landschaft führte und innerhalb von zwei Wochen unter Einsatz zwangsverpflichteter Bauern fertiggestellt sein sollte. Daneben ordnete der Rat zum ersten Mal die Kürzung der Brotration für Frontsoldaten an: von 800 auf 600 Gramm pro Tag. Die Zuteilung für rückwärtige Einheiten fiel von 600 auf 400 Gramm. Drei weitere Kürzungen – eine für das Militär, zwei für Zivilisten – schlossen sich rasch an. Zugleich wurde die Schifffahrt über den Ladogasee durch Vereisung beendet: Der letzte Kahn erreichte Ossinowez am 15. November. Bis die neue Straße gebaut und das Eis auf dem See dick genug war, um Lastwagen zu tragen, konnten Vorräte nur noch auf dem Luftweg nach Leningrad gebracht werden. Obwohl auf Schdanows wütende Forderung hin schließlich 64 Maschinen für die Route abgeordnet wurden, war nie mehr als ein Drittel von ihnen einsatzbereit, und sie lieferten täglich nur vierzig bis fünfzig Tonnen, hauptsächlich Blöcke aus Press- und Gefrierfleisch.4

Leningrad-4.pdf

Karte 4: Eisstraße und Schiffsroute über den Ladogasee

Von verzweifelten Hydrologen beobachtet, verdickte sich das Eis qualvoll langsam. (Um die wahrscheinliche Verdickung zu berechnen, konsultierte ein Experte die mittelalterlichen Aufzeichnungen der Mönche der Insel Walaam, die jeden Winter das Datum verzeichneten, an dem Pilger das Kloster zu Fuß über den Ladogasee erreichen konnten.) Zehn Zentimeter Eis wurden, wie man schätzte, für ein Pferd mit Reiter benötigt, achtzehn Zentimeter für ein Pferd, das einen Schlitten zog, zwanzig Zentimeter für einen beladenen Zwei-Tonnen-Laster. Um den Bau einer Straße von Ossinowez zu dem Dorf Kobona, am nächstgelegenen Teil des von den Sowjets besetzten östlichen Seeufers, zuzulassen, würde das Eis auf der gesamten dreißig Kilometer langen Strecke zwanzig Zentimeter dick sein müssen.

Am 17. November, als das Eis erst zehn Zentimeter dick war, wagten sich die ersten Kundschafter hinaus auf den See; vorsichtshalber hatten sie Rettungsringe und lange Stäbe bei sich. Am folgenden Tag blies der Wind von Norden her, die Temperatur fiel, und man begann, den Schnee zu räumen, die Route zu markieren und Brücken über Spalten im Eis zu bauen. Am 20. November war das Eis achtzehn Zentimeter dick, und die ersten Fahrzeuge – dreihundert Pferdeschlitten – brachen auf, zwei Tage später gefolgt von den ersten, in großen Abständen startenden Lastwagen. Auf der Rückfahrt brachen mehrere im Eis ein, obwohl sie jeweils nur ein paar Säcke Getreide beförderten. Um das Gewicht zu verteilen, schleppte der nächste Konvoi Schlitten hinter sich her. Vergeblich: Bis zum 1. Dezember konnten nur rund 800 Tonnen Mehl – weniger als der Bedarf von zwei Tagen – geliefert werden, und vierzig Lkws waren steckengeblieben oder von Pannen gestoppt worden. Die holprige, schmale neue Straße nach Saborje war noch schlechter: Der erste Konvoi, der sie am 6. Dezember benutzte, brauchte vierzehn Tage für die Hin- und Rückfahrt, und über 350 Laster mussten abgeschleppt oder aufgegeben werden. Wassili Tschurkin, der Artillerist, der im August in die chaotische Flucht aus Wolossowo verwickelt worden war, erhielt am 7. Dezember den Befehl, in der windigen, pechschwarzen Nacht über das Eis zu marschieren. Gebremst durch Erfrierungen an den Füßen, blieb er hinter seiner Einheit zurück und hätte sich völlig verirrt, wäre nicht ein gelegentlicher roter Lichtschein von einem Leuchtturm am Ufer durchgedrungen. Er gelangte am folgenden Tag um 13 Uhr nach Kobona, nachdem er an zehn mit Mehl beladenen Lkws, deren Hinterachsen durchs Eis gesunken waren, und einem jungen, an Unterkühlung sterbenden Soldaten vorbeigekommen war.5

Weitere Konvois begaben sich nicht mehr auf diese Route. Am 9. Dezember, nach einer Reihe einzelner Angriffe auf die südliche Flanke des zu stark entblößten deutschen Brückenkopfs, eroberte die 4. Armee, deren Befehl General Merezkow einen Monat zuvor übernommen hatte, Tichwin schließlich nach schweren Kämpfen zurück. Ihnen waren bis zu 9000 Deutsche zum Opfer gefallen.6 Versorgungszüge konnten nun in Tichwin entladen werden, und man kürzte die Lastwagenstrecke auf hundertsechzig Kilometer – hundertdreißig Kilometer auf dem Landweg über Nowaja Ladoga und Kobona sowie dreißig Kilometer über den See hinweg. Die Befreiung von zwei weiteren Eisenbahnorten, Woibokalo und Schicharjewo, brachte ebenfalls Fortschritte: Ab 1. Januar konnten Nachschubzüge nur dreizehn Kilometer vom Seeufer entfernt entladen werden, und die Länge der Lkw-Route verringerte sich auf weniger als fünfundvierzig Kilometer. Danach verbesserten sich die Lieferungen über die Eisstraße – in Wirklichkeit waren es sechs parallele Routen – allmählich. Obwohl geplagt von Schneestürmen, schlechter Führung (der erste Chef der Eisstraße, ein gewisser Oberst Schmakin, wurde wegen Inkompetenz entlassen), deutschen Bomben und Engpässen an der kurzen, unzulänglich ausgerüsteten Ossinowez-Leningrad-Eisenbahnstrecke, brachte man bis zum Tauwetter Ende April insgesamt 270900 Tonnen Nahrung und 90000 Tonnen Brennstoff sowie andere Vorräte in die Stadt.7

Weniger erfolgreich verliefen im November und Dezember jegliche Versuche, die Belagerung selbst zu durchbrechen. Bei seiner Abreise nach Moskau hatte Schukow der Leningrader Front einen winzigen, unter hohen Blutverlusten errungenen Brückenkopf nach Süden über die Newa, westlich von Schlüsselburg, hinterlassen: den sogenannten Newski pjatatschok (»Fünfkopekenstück an der Newa«). Nur zwei Kilometer lang und weniger als einen Kilometer breit, sah er auf Karten eindrucksvoll aus, war in Wirklichkeit jedoch viel zu klein und exponiert (die Deutschen hielten ein festungsähnliches Kraftwerk etwas weiter am Fluss entlang), um die Basis für einen erfolgreichen Durchbruch zu bilden. Ein Versuch nach dem anderen – am 2., 9., 11. und 13. November – scheiterte, alle unter enormen Verlusten.

Ein gleichzeitiger Durchbruchsversuch über das Eis des Sees im Norden von Schlüsselburg war ein Fiasko. Am 13. November wurde die 80. Schützendivision aus dem Kessel von Oranienbaum nach Leningrad geflogen, im Gewaltmarsch nach Ladoga getrieben und angewiesen, gut verschanzte deutsche Positionen zu stürmen. Eine große Zahl der Männer fiel durch das zu dünne Eis, andere, ausgemergelt und erschöpft, sackten noch vor Beginn des Angriffs zusammen. Stalin war wütend, weil er keine Informationen über die Katastrophe erhalten hatte: »Es ist sehr seltsam, dass Genosse Schdanow kein Bedürfnis zu verspüren scheint, ans Telefon zu gehen … Man muss annehmen, dass Leningrad nach Vorstellung des Genossen Schdanow nicht in der UdSSR, sondern auf irgendeiner Pazifikinsel liegt.«8 Für Schdanow waren die unglückseligen Befehlshaber, Oberst Iwan Frolow und Kommissar Konstantin Iwanow, die Sündenböcke. Zwei Stunden vor der Attacke, hieß es im Urteilsspruch über Frolow, habe er »zwei Frontvertretern erklärt, er glaube nicht an den Erfolg der Aktion«. Diese Worte waren in der Kopie, die Schdanow erhielt, unterstrichen. Am 3. Dezember erschoss man beide Männer wegen »Feigheit und Defätismus«.9 Von ungefähr 300000 Rotarmisten, die an der Schlacht um Tichwin und an den damit verbundenen Offensiven teilgenommen hatten, wurden 110000 als krank oder verwundet sowie 80000 als gefallen, gefangen oder vermisst gemeldet. Auf deutscher Seite gab es 44000 Verluste.

Trotzdem bedeutete das Ende des Jahres 1941 für die Ostfront einen Wendepunkt. Die Deutschen hatten Leningrad eingekreist, es jedoch nicht erobern können, und auch vor Moskau waren sie zum Stehen gebracht worden. Anfang November, verlangsamt durch den Schlamm und den Schnee sowie Schukows glänzend organisierten Widerstand, hatte sich die Operation Taifun allmählich totgelaufen. Die psychologische Wende war der 7. November, der Jahrestag der Revolution von 1917. Am Vorabend hielt Stalin eine trotzige Rede in der reich geschmückten Metrostation Majakowskaja, gefolgt von dem Wagnis einer gewaltigen Militärparade auf dem Roten Platz.

Angesichts der zunehmenden Kälte und der wachsenden Verluste baten Hitlers Generale um Erlaubnis, ihre Winterlager aufzuschlagen. »Operative Kunststücke sind nicht mehr zu machen«, schrieb Halder am 11. November in seinem Tagebuch. »Truppe nicht verschiebbar. Nur zweckmäßiges, taktisches Handeln möglich.« Hitler war anderer Meinung und bestand darauf, dass Moskau bis Jahresende besetzt werden müsse. Widerwillig nahmen seine Generale die Offensive wieder auf. »Fm. v. Bock führt die Schlacht von Moskau selbst von einer vorgeschobenen Befehlsstelle. Seine unerhörte Energie treibt mit allen Mitteln vorwärts«, notierte Halder am 22. November. Obwohl die deutschen Divisionen des Südflügels »am Ende« seien – ein Regiment seiner alten 7. Division werde, wie Halder bemerkte, nun von einem Oberleutnant geführt –, habe man am Nordflügel »die Möglichkeit des Erfolges … Von Bock vergleicht mit der Marneschlacht, wo das letzte Btl., das noch herangeworfen werden kann, entscheidet.« Eine Woche später rief Bock bei Halder an und ließ ihn wissen, dass die Schlacht negativ verlaufe. Nun sprach er nicht mehr von der Marne, sondern befürchtete vielmehr, dass aus dem Angriff auf Moskau »ein neues Verdun wird, d.h. ein seelenloses frontales Abringen«. Bei aller Sorge um die menschlichen Opfer müsse man eine letzte Anstrengung machen, den Feind in die Knie zu zwingen.10

Am 16. Dezember – seine vorderen Reihen waren in verlockender Sichtweite der Moskauer Flakgeschütze – gebot Hitler endlich Einhalt. Operation Taifun war vorbei, doch die östlichen Heere sollten ihre Positionen überall an der Front behaupten. Laut Halder schlossen sich »große Aufregung« und »dramatische Szenen« bei Hitler an, während die Generale für einen Rückzug zu stabileren Verteidigungslinien plädierten.11 Drei Tage später – zwölf Tage nach Pearl Harbor und acht Tage nach der selbstmörderischen Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten – entließ der Führer Bock als Chef der Heeresgruppe Mitte und Brauchitsch als Oberbefehlshaber des Heeres, um selbst dessen Posten zu übernehmen. Nach einem weiteren wütenden Treffen in der Wolfsschanze am 13. Januar bat Leeb ebenfalls um Entlassung und wurde von dem gefügigeren Küchler ersetzt. Im Süden rückte Reichenau an Rundstedts Stelle und starb prompt an einem Herzinfarkt. Insgesamt traten ungefähr vierzig hohe Offiziere zurück oder wurden ihres Kommandos enthoben. Fortan konnte Hitler seinem Hang zu detaillierten Einmischungen in militärische Aktionen freien Lauf lassen – mit letztlich katastrophalen Folgen.12

Die meisten Militärhistoriker sind sich darin einig, dass dies der Zeitpunkt war, an dem der Krieg sich umkehrte, nicht weil Deutschland den Rückzug begann, sondern weil es keine Siegeschancen mehr hatte. Da ihm nun drei Großmächte gegenüberstanden, hatte es sich schlicht zu viel zugemutet. In London hegte Churchill keinen Zweifel. Er war davon überzeugt, wie er seinem Kriegskabinett erklärte, dass sich kein Land in der Kriegführung mit den USA vergleichen könne, und die russische Front werde Deutschland das Herz brechen. Von Leningrad bis zur Krim sei die Wehrmacht in »einem kläglichen Zustand: Motorfahrzeuge eingefroren, Gefangene zerlumpt in die Gefangenschaft gehend, Heere, die sich zu stabilisieren versuchen, russische Luftüberlegenheit. Deutschland ist unfähig, Russland auszuschalten. Das Blatt hat sich gewendet, und die nun beginnende Phase wird mehr und mehr Ergebnisse zeitigen … Man sollte sich keine Sorgen über den Ausgang des Krieges machen. Der Finger Gottes ist mit uns.«13

Nachdem Tichwin verloren war, musste sich Fritz Hockenjos’ Radfahrzug hinter den Wolchow zurückziehen. Am 21. Dezember verließen die Männer ihr ärmliches Quartier in Rachmyscha, doch nicht bevor sie Schafe und Hühner für die Reise geschlachtet hatten. Mit Vorräten gefüllte Scheunen gingen in Flammen auf. »Das Jammern der Frauen«, schrieb Hockenjos, »begleitete uns aus dem Dorf.« Wieder schoben sie ihre schwer bepackten Räder durch den Schnee, vorbei an liegen gebliebenen Fahrzeugkolonnen und zahllosen Bauernschlitten; in Decken gewickelte Kinder lagen auf dem Gepäck, Frauen folgten mit Kuh oder Ziege im Schlepp. Am nächsten Nachmittag stießen sie auf Infanteriefeuer – vor ihnen »Hurrageschrei«, ein brennender Lastwagen, verwundete Pferde, mit hängendem Kopf in der Mitte der Straße stehend. Nach Einbruch der Dunkelheit krochen sie im Schutz der Straßengräben voran. »Nun auch viele tote Russen. Dann waren wir hindurch und liefen, was wir konnten. In Gladj saß in einem Haus der ahnungslose Stab des 2. Btls. Mir war ums Heulen.« Um drei Uhr morgens brachen sie wieder auf und feuerten blindlings in die Wälder an beiden Straßenseiten, um die Schüsse unsichtbarer Russen zu erwidern. Im Morgengrauen, als sie eine Nachschubkolonne überholten, wurde das Feuer erneut auf sie eröffnet:

Überall knallte und pfiff es. Verwundete wurden gebracht, Röcke geöffnet, Stiefel aufgeschnitten, Blut quoll dunkel aus klaffenden Wunden. Und daneben standen Leute, rauchten Zigaretten oder knabberten Knäckebrot, und nur wenn es allzu sehr pfiff, gingen sie für einen Augenblick hinter Pferden und Fahrzeugen in Deckung. Ich wußte nicht, war dies bewundernswerter Gleichmut oder verfluchte Gleichgültigkeit.

Hockenjos’ Männer waren die letzten Soldaten, die den Wolchow in der Dunkelheit bei Grusino überquerten. Hinter ihnen brannten Dörfer und ließen den Himmel rot glühen. Am Weihnachtsabend erreichten sie Tschudowo an der Haupteisenbahnlinie zwischen Leningrad und Moskau, wo sie sich für die Nacht in einer Glasfabrik mit leeren Fensteröffnungen niederließen. »In dicken Klumpen hocken wir um die offenen Öfen«, schrieb Hockenjos. »In einer Ecke wird der Christbaum gerichtet, in einer andern zimmern die Pioniere Tische und Bänke zusammen. Eine Mundharmonika übt verschämt die frommen Weisen. Ich habe den Schreibblock auf den Knien und schreibe im Schein der Flammen einen Weihnachtsbrief an Els.« In der Ferne vernahm er das Dröhnen von Geschossen, denn die Russen ließen »schwere Koffer« auf den Bahnhof niedergehen. Er war erstaunt darüber, wie rasch sie ihre Artillerie herbeigeholt hatten. Als seine Männer und er ihre Gläser um Mitternacht auf Christi Geburt erhoben, taten sie es mit erbeutetem Armagnac, den sie von der Loire mitgebracht hatten.